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Europas Weg in die Abhängigkeiten des Kalten Krieges und seine Emanzipation von den großen Mächten. Ian Kershaw präsentiert einen Überblick über den "alten" Kontinent in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Von Michael Gehler
Das 2016 erschienene Buch "Höllensturz" von Sir Ian Kershaw bot eine Geschichte Europas von 1914 bis 1949. Nun liegt mit der "Achterbahn" der zweite Teil bis zur Gegenwart vor. "Spannung und Spaltung" umreißen die fünfziger und sechziger Jahre, als der Kalte Krieg durch Stellvertreter heiß wurde und Nuklearwaffen aufkamen. Dem militärisch-konventionellen Plus der UdSSR stand ein Übermaß an amerikanischen Atombomben gegenüber, die zur Vernichtung Europas ausgereicht hätten: Besaßen die Vereinigten Staaten 1950 298 davon, so 1962 unglaubliche 27 000! Im nächsten Kapitel geht es um die "Herausbildung Westeuropas" mit konsolidierten Demokratien. "Der koloniale Rückzug" folgte mit der gescheiterten französischen Rekolonisierung in Indochina (1954), der Suez-Krise (1956) und Algerien (1962) sowie zuvor mit dem britischen Abzug aus Indien (1947) und Palästina (1948) mit katastrophalen Folgen für die Regionen und das Empire. Ein drittes Kapitel widmet sich im Zeichen der Entstalinisierung nach Stalins Tod der "gelockerten" und mit der Restalinisierung unter Breschnew der "festgezurrten Klammer" im Osten wie auch der "jugoslawischen Häresie" unter Tito angesichts der Moskauer Kommando- und Zwangsherrschaft. Die dagegen gerichteten Volksaufstände in Mitteleuropa (1953, 1956, 1968) gefährdeten zwar die Sowjetherrschaft. Diese stellte aber durch ihre Niederschlagung die alte Ordnung wieder her. Ein viertes Kapitel firmiert unter "Gute Zeiten", worunter Konsumgesellschaft, Sozialstaat und das "Wirtschaftswunder" zählen, was kein deutsches Spezifikum, sondern ein westeuropäisches Phänomen war. Der fünfte Teil widmet sich der "Kultur nach der Katastrophe", so unter anderem den "Schatten der Vergangenheit", wobei es um Nutzen und Missbrauch geht: Die Bundesrepublik war durch Ausmaß und Tiefe der Selbstbefragung die Ausnahme. Über Kollaboration mit Faschismus und Nationalsozialismus wurde sonst von offizieller Seite in Europa bis in die Achtziger der Schleier des Schweigens gelegt. Man kehrte den nationalen Widerstand hervor und überging den kommunistischen.
Der Bruch mit Werten der Vergangenheit setzte in den sechziger Jahren ein, verbunden mit dem langfristigen Niedergang der christlichen Konfessionen. Das war ein gesamteuropäisches Phänomen, gleichwohl forciert durch Verfolgung und Unterdrückung im Osten. Die aufbegehrenden Studenten in Frankreich trugen am stärksten zur Erinnerung der Ereignisse von "1968" bei, gleichwohl sie nicht in dem Maße in terroristische Gewalt wie mit der "RAF" in Deutschland und den "Roten Brigaden" in Italien mündeten, wovon das Kapitel "Herausforderungen" handelt. "1968" steht im Westen für kulturellen Wertewandel, das "andere 1968" für das Ende des Traums von einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" hinter dem Eisernen Vorhang. Die realsozialistische "Normalisierung" endete jedoch in der Einbahnstraße 1989.
Sozialdemokratie und Eurokommunismus gingen inzwischen in Westeuropa eigene Wege durch Entspannung mit und Emanzipation vom Osten. Nach Abschüttelung der Militärdiktaturen triumphierte die Demokratie in Südeuropa, wie das nächste Kapitel zeigt. Einen epochalen Wendepunkt sieht Kershaw 1973 im ersten Erdölpreisschock, der Wirtschaften im Umbruch nach sich zog, deren Systeme mit Konjunkturpolitik reagieren mussten. Besonders hart waren die sozialistischen Ökonomien von der Ölkrise betroffen. Die schärfste Wende nach rechts erlebte das Vereinigte Königreich mit dem einsetzenden "Thatcherismus", der aufgrund hoher sozialer Kosten und größerer Ungleichheit kritisch beurteilt wird. Unter dem missverständlichen Titel "Die Rückkehr des Kalten Krieges" (S. 433 ff.) wird die Phase nach der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975) als "zweiter Kalter Krieg" identifiziert. Diesen Begriff hat die Forschung bereits korrigiert, denn es gab nur einen Kalten Krieg, der durch Entspannung nicht abgelöst, sondern nur abgeschwächt war. Der "Ostwind der Veränderung" in Richtung 1989 wehte vor allem aus Polen, wo die Opposition zum Teil von der CIA finanziert worden war, wobei die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in der Ukraine drei Jahre zuvor die Defizite des Sowjetsystems offengelegt hatte. Während der Westen mehr mit sich selbst beschäftigt war, verließen im Osten die "Satelliten" ihre Umlaufbahnen. Ein weiteres Kapitel schließt mit dem bis 1991 währenden "langen Todeskampf" der UdSSR an. Die "Neuanfänge" erwiesen sich als zwiespältig aufgrund ethnischer Kriege und Genozid im ehemaligen Jugoslawien sowie falscher Erwartungen bezüglich Demokratie und Marktwirtschaft im Osten. Die Hoffnung auf die Einheit des Kontinents lebte jedoch, obwohl viele Regierungen in Westeuropa mutlos waren. Es mehrten sich mit Vereinigung des Kontinents globale Herausforderungen, unter anderen der "Krieg gegen den Terror" und der Faktor Putin. Mit der Bewältigung der "Krisenjahre" seit dem Lehman-Crash (2008) und dem von der Politik verhinderten ökonomischen Zusammenbruch, der Bewältigung der Migrationsfrage und der Sparpolitik sowie dem von Kershaw nicht goutierten "Brexit"-Votum seiner Landsleute endet das letzte Kapitel.
Fazit: Den Beginn seiner zweiten Erzählung mit 1950 anzusetzen, ist mit dem Ausbruch des Korea-Kriegs und seinen Rückwirkungen auf Europa, der Kohle- und Stahlunion als Friedensprojekt ("Schuman-Plan") und deutscher "Wiederbewaffnung" begründbar. 1949 hätte sich mit Gründung der Nato, Überwindung der Berlin-Blockade und der doppelten deutschen Staatsgründung auch angeboten. Damit war die Welt schon geteilt. Die Geschichte Europas war und blieb von steten Unwägbarkeiten gekennzeichnet. Die Darstellung dieses Auf und Ab ist Kershaw gelungen. Sie ist nicht chronologisch aufgebaut und besticht umso mehr durch einen gekonnten Mix von Querschnittbetrachtungen aus allen Teildisziplinen der Forschung. Der Autor kommt ohne Anmerkungsapparat aus. Er liefert dafür eine Auswahlbibliographie. Man muss nicht alle Deutungen teilen. Vereinzelt kann man einwenden: der 17. Juni 1953 in der DDR war nicht der erste Aufstand hinter dem Eisernen Vorhang. Zuvor kam es in Städten der Tschechoslowakei schon zu Massenprotesten, z.B. in Pilsen. Von "voller Souveränität" der Bundesrepublik kann 1955 echt noch keine Rede sein - sie war bestenfalls "halbsouverän", wenn es vollständige staatliche Handlungsfreiheit im integrierten Westeuropa und der sich stärker vernetzenden Welt überhaupt noch gab. Einer der Urväter der EU, Jean Monnet, trat nicht unbedingt für eine "demokratische supranationale Föderation" ein. Ein echtes Parlament für die Montanunion lehnte er ab. Es sollte nur eine "Gemeinsame Versammlung" sein, wie Kershaw selbst schreibt.
Er erkennt für den von ihm behandelten Gesamtzeitraum "kein herausragendes übergreifendes Thema", gleichwohl er "zwei Epochen der Unsicherheit" ausmacht, wobei sich ja doch hier bereits ein Kreis zu schließen beginnt. Europas Weg in die Abhängigkeiten des Kalten Krieges und seine Emanzipation von den großen Mächten kann einen zukünftigen thematischen Rahmen für weitere Darstellungen bieten. Große Historiker wie Hobsbawm, James und Mazower haben sich mit Europa im 20. Jahrhundert bereits einen Namen gemacht. Kershaw gehört mit seinen jetzt fertigen beiden Bänden auch dazu.
Ian Kershaw: Achterbahn. Europa 1950 bis heute.
DVA, München 2019.
832 S., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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