Vor 50 Jahren, im August 1969, starb Adorno – und Jochen Schimmang übt sich in Abwesenheitspflege. In melancholischen bis heiteren, zum Teil autobiografisch gefärbten Geschichten erzählt er von Formen und Figuren des Verschwindens. Von Menschen, Gebäuden, ganzen Vierteln; von Techniken, Gesten, Sprechweisen. Ein Jubilar versteckt sich mit seiner Frau auf dem Dachboden vor seinen Freunden, die zum 70. Geburtstag aus allen Himmelsrichtungen auf ihn einstürmen, obwohl er viel lieber nur mit zweien von ihnen essen gegangen wäre. Rothermund macht sich auf die Suche nach dem verschwundenen Maler Guthermuth. Ein Spaziergang durch Frankfurt zeigt, wer, außer Adorno, noch alles nicht mehr dort wohnt. Aber Spaziergänge sind ohnehin sterbende Institutionen, ein Sich-Verirren in der Welt kann zum Verwirren der Welt werden. Milieus, die sich nicht mehr erreichen, Nomaden in Monaden. Nur Gott ist nicht verschwunden, er taucht pünktlich um halb sieben in der Kirche auf – im Fischgrätmantel. Jochen Schimmangs feinsinnige Erzählungen gehen auf Spurensuche nach Lücken und Verlusten und zeigen zugleich, dass "Identität" eine höchst fragile Konstruktion ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2020So erinnern und verschwinden wir
"Adorno wohnt hier nicht mehr": Die melancholischen Geschichten von Jochen Schimmang sind zärtlich und gewitzt erzählt.
Wer auf ein längeres Leben zurückblickt, wird zunehmend darüber staunen müssen, was er alles nicht mehr ist. Obwohl das, was er einmal war, fraglos zu seiner Identität gehört. Aber inwieweit stimmt das? Wir können nicht mehr als Kinder sterben. Intime Zugänge zum Vergangenen sind definitiv versperrt. Dabei wird die Frage, wer wir denn waren, als Kind, als junger Mensch, uns trotzdem beschäftigen. Und diese Gedanken sind vielleicht stärker als die Suche nach der kommenden Zeit. Und doch lässt sich die monotone Autorität des Raben "Nevermore" unterlaufen.
Rückblicke sind Geschwister der Melancholie. In "Adorno wohnt hier nicht mehr" zeigt sich Jochen Schimmang als zarter Kenner dieser Suchbewegungen und Seelenlagen, und weil er darum weiß, kann er zudem auch witzig sein. So trägt das Buch der Erinnerungen und Imaginationen ein doppeltes Motto: "Mia san mia. - Bayrische Vereinsweisheit" und "Identität ist die Urform von Ideologie. - Adorno, Negative Dialektik".
In sieben autobiographisch geerdeten Erzählungen öffnet der erfahrene Autor Szenerien zwischen (vielleicht?) Mannheim - schachbrettartig angelegt, in gewisser Weise "die vollkommenste Stadt", weil "nicht klein und nicht riesengroß. Man verband mit ihr nicht irgendeine Bedeutung, das war das Freundliche an ihr" - und dem ebenfalls durch ein Schachbrett-Straßenmuster strukturierten Dorf Winchelsea im Südosten Englands, dazwischen Köln, Frankfurt, Berlin und die Norddeutsche Tiefebene, wo überall Menschen verschwinden oder dem Verschwundenen nachspüren oder am liebsten beides.
"Das Schönste an der Welt wird für mich mehr und mehr, dass man noch immer in ihr verschwinden kann, auch wenn es von Jahr zu Jahr schwieriger wird. Das ist meine Art der Weltfrömmigkeit. Von allen Seinsweisen der Welt ist diejenige als Versteck für mich die Faszinierendste." So spricht der Philosophieprofessor der Eingangserzählung "Gutermuth und Rothermund"; er sammelt Geschichten von Verschollenen. In der "vollkommensten", weil unauffälligsten (also eigentlich abwesend anwesenden) Stadt wird er auf den Maler Rothermund treffen, der sich als Fälscher eines Künstlers entpuppt, den es nicht gegeben hat. Indem Rothermund Gemälde schafft, die dem Heimatkünstler Gutermuth zugeschrieben werden, erhält die blasse Stadt einen Helden, eine Berühmtheit, die ihr Image erhöht.
In der korrespondierenden Geschichte gegen Ende des Bandes wird Valerie Voss, von Beruf "Abwesenheitspflegerin" - sie kümmert sich um die Hinterlassenschaften von Verschollenen -, nach dem mittlerweile verschwundenen Fälscher Rothermund suchen. Sie entdeckt ihn in Rye (der Stadt bei ihrem Urlaubsdorf Winchelsea). Er sitzt malend am Kai. Und sie erfährt, dass er hier unter der Identität des Malers lebt, den er erfand. In der englischen Provinz war ihm ein Neuanfang als der deutsche Maler Robert Gutermuth gelungen. Er konnte in seiner Fiktion untertauchen. Eine Galerie und ein gewisser Erfolg seiner Landschaftsbilder ermöglichen ihm eine kleine Existenz. Gutes Dasein ist, sich entziehen zu können. Und so verwundert nicht, dass am Ende der Geschichte auch die Abwesenheitspflegerin Valerie Voss zuletzt im "Robert-Gutermuth-Museum" in der vollkommenen Stadt gesehen wurde "und seitdem unauffindbar" ist.
Schimmangs Erzählungen sind wirklichkeitshaltig, oft zeitlich eingrenzbar. Im Hintergrund kann der Brexit gewittern oder das Attentat auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo vom 7. Januar 2015. Doch glimmt immer wieder der poetische Funke des elegant Surrealen auf. In "Gott um halb sieben" begleitet der Leser die Büroangestellte Simone an einem trüben Dezemberabend ("warme Watteluft") durch die Kölner Vorweihnachtshektik. Clemens, mit dem sie sechs unvergleichliche Liebeswochen verbracht hat, ist spurlos und ohne eine Erklärung verschwunden. Fast beiläufig kauft sie sich eine neue Jacke, "ganz weich fallende warme Wolle, anthrazit, schön abgesetzter schwarzer Kragen aus Baumwollsamt, große Seitentaschen, in denen die Hände bequem verschwinden können". Und behält sie gleich an (nicht nur die Hände können in dem weichen, warmen Stoff verschwinden); sie betritt eine Kirche, in die sie - nicht gläubig, nur augenblicklichen Schutz suchend - manchmal geht. Und wird gleich umfangen von der kerzenflackernden Ruhe des sakralen Raums.
Gott ist ihr verlorengegangen, das letzte Mal hat sie als Teenager gebeichtet. Doch nun erkennt sie ihn in einem alten Mann im Fischgrätmantel. Er stellt sich, wie sie, vor den heiligen Antonius, den Schutzpatron derer, die etwas verloren haben, und zündet eine Kerze an. Simone nimmt ihre Plastiktasche wieder auf und nickt ihm zu. "Gott nickt leicht erstaunt zurück, und lächelnd verlässt sie sein Haus und reibt den Kragen der neuen Jacke einen Augenblick an ihrer linken Wange." Ein Mantel ist kein Ersatz für den Geliebten, ein Mann in Fischgrätmuster kein Messias. Und doch. Es liegt eine tröstende Alltagsfrömmigkeit in diesen zärtlich erzählten Geschichten.
Die titelgebende und längste Erzählung "Adorno wohnt hier nicht mehr" führt in die Anfänge von Jochen Schimmangs Schriftstellerlaufbahn, im Zeichen der K-Gruppen, der Adorno-Verehrung, des Frankfurter Suhrkamp-Verlags, der Frankfurter Verlagsanstalt. An der Seite seines im Literaturmarkt verschwundenen Freunds Wolfgang Utschick (1997 erschien dessen Roman "Die Veränderung der Sehnsucht" bei Suhrkamp, danach arbeitete er als Wachmann und im Theater als Logenschließer) beginnt er eine Frankfurter Spurensuche; und beide erinnern sich an die Zukunft.
Das erfundene Interview "Herr Rutschky oder Der Optimismus" führt in die kurze Euphorie des Münchner "TransAtlantik"-Magazins und die intellektuelle Gastfreundschaft des Ehepaars Katharina und Michael Rutschky, etwa wenn sie in der Früh "nacheinander in identischen blauen Morgenmänteln mit Waffelmuster aus ihren jeweiligen Zimmern kamen". So viel Anfang war nie.
Vielleicht ist der Literaturbetrieb nur erträglich, wenn man sich die Lizenz nimmt, in ihm ein wenig verschwinden zu dürfen. Wie auch eine Geburtstagsfeier zum Siebzigsten sehr lustig sein kann im Dachbodenversteck, wenn die Freunde ("Hebel, Hegel und Hesel"), die "Damen und Herren vom Förderkreis", die "Delegation des Ministeriums", die "Gruppe der Hauptstadtkollegen" und Barry Hulshoff, der in Amsterdam Figuratives Zeichnen unterrichtet, und Louisade de Bruyne, "die dasselbe in Brüssel tut", aus allen Himmelsrichtungen, im flachen Land von weither sichtbar, unaufhaltsam anrücken.
Dieses Buch ist voller Anspielungen und Schlüsselszenen einer untergegangenen geistigen und politischen Kultur. Seine Empathie liegt nicht bei den Siegern. Aber war es so nicht überhaupt?
ANGELIKA OVERATH
Jochen Schimmang:
"Adorno wohnt hier nicht mehr". Erzählungen.
Edition Nautilus, Hamburg 2019. 206 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Adorno wohnt hier nicht mehr": Die melancholischen Geschichten von Jochen Schimmang sind zärtlich und gewitzt erzählt.
Wer auf ein längeres Leben zurückblickt, wird zunehmend darüber staunen müssen, was er alles nicht mehr ist. Obwohl das, was er einmal war, fraglos zu seiner Identität gehört. Aber inwieweit stimmt das? Wir können nicht mehr als Kinder sterben. Intime Zugänge zum Vergangenen sind definitiv versperrt. Dabei wird die Frage, wer wir denn waren, als Kind, als junger Mensch, uns trotzdem beschäftigen. Und diese Gedanken sind vielleicht stärker als die Suche nach der kommenden Zeit. Und doch lässt sich die monotone Autorität des Raben "Nevermore" unterlaufen.
Rückblicke sind Geschwister der Melancholie. In "Adorno wohnt hier nicht mehr" zeigt sich Jochen Schimmang als zarter Kenner dieser Suchbewegungen und Seelenlagen, und weil er darum weiß, kann er zudem auch witzig sein. So trägt das Buch der Erinnerungen und Imaginationen ein doppeltes Motto: "Mia san mia. - Bayrische Vereinsweisheit" und "Identität ist die Urform von Ideologie. - Adorno, Negative Dialektik".
In sieben autobiographisch geerdeten Erzählungen öffnet der erfahrene Autor Szenerien zwischen (vielleicht?) Mannheim - schachbrettartig angelegt, in gewisser Weise "die vollkommenste Stadt", weil "nicht klein und nicht riesengroß. Man verband mit ihr nicht irgendeine Bedeutung, das war das Freundliche an ihr" - und dem ebenfalls durch ein Schachbrett-Straßenmuster strukturierten Dorf Winchelsea im Südosten Englands, dazwischen Köln, Frankfurt, Berlin und die Norddeutsche Tiefebene, wo überall Menschen verschwinden oder dem Verschwundenen nachspüren oder am liebsten beides.
"Das Schönste an der Welt wird für mich mehr und mehr, dass man noch immer in ihr verschwinden kann, auch wenn es von Jahr zu Jahr schwieriger wird. Das ist meine Art der Weltfrömmigkeit. Von allen Seinsweisen der Welt ist diejenige als Versteck für mich die Faszinierendste." So spricht der Philosophieprofessor der Eingangserzählung "Gutermuth und Rothermund"; er sammelt Geschichten von Verschollenen. In der "vollkommensten", weil unauffälligsten (also eigentlich abwesend anwesenden) Stadt wird er auf den Maler Rothermund treffen, der sich als Fälscher eines Künstlers entpuppt, den es nicht gegeben hat. Indem Rothermund Gemälde schafft, die dem Heimatkünstler Gutermuth zugeschrieben werden, erhält die blasse Stadt einen Helden, eine Berühmtheit, die ihr Image erhöht.
In der korrespondierenden Geschichte gegen Ende des Bandes wird Valerie Voss, von Beruf "Abwesenheitspflegerin" - sie kümmert sich um die Hinterlassenschaften von Verschollenen -, nach dem mittlerweile verschwundenen Fälscher Rothermund suchen. Sie entdeckt ihn in Rye (der Stadt bei ihrem Urlaubsdorf Winchelsea). Er sitzt malend am Kai. Und sie erfährt, dass er hier unter der Identität des Malers lebt, den er erfand. In der englischen Provinz war ihm ein Neuanfang als der deutsche Maler Robert Gutermuth gelungen. Er konnte in seiner Fiktion untertauchen. Eine Galerie und ein gewisser Erfolg seiner Landschaftsbilder ermöglichen ihm eine kleine Existenz. Gutes Dasein ist, sich entziehen zu können. Und so verwundert nicht, dass am Ende der Geschichte auch die Abwesenheitspflegerin Valerie Voss zuletzt im "Robert-Gutermuth-Museum" in der vollkommenen Stadt gesehen wurde "und seitdem unauffindbar" ist.
Schimmangs Erzählungen sind wirklichkeitshaltig, oft zeitlich eingrenzbar. Im Hintergrund kann der Brexit gewittern oder das Attentat auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo vom 7. Januar 2015. Doch glimmt immer wieder der poetische Funke des elegant Surrealen auf. In "Gott um halb sieben" begleitet der Leser die Büroangestellte Simone an einem trüben Dezemberabend ("warme Watteluft") durch die Kölner Vorweihnachtshektik. Clemens, mit dem sie sechs unvergleichliche Liebeswochen verbracht hat, ist spurlos und ohne eine Erklärung verschwunden. Fast beiläufig kauft sie sich eine neue Jacke, "ganz weich fallende warme Wolle, anthrazit, schön abgesetzter schwarzer Kragen aus Baumwollsamt, große Seitentaschen, in denen die Hände bequem verschwinden können". Und behält sie gleich an (nicht nur die Hände können in dem weichen, warmen Stoff verschwinden); sie betritt eine Kirche, in die sie - nicht gläubig, nur augenblicklichen Schutz suchend - manchmal geht. Und wird gleich umfangen von der kerzenflackernden Ruhe des sakralen Raums.
Gott ist ihr verlorengegangen, das letzte Mal hat sie als Teenager gebeichtet. Doch nun erkennt sie ihn in einem alten Mann im Fischgrätmantel. Er stellt sich, wie sie, vor den heiligen Antonius, den Schutzpatron derer, die etwas verloren haben, und zündet eine Kerze an. Simone nimmt ihre Plastiktasche wieder auf und nickt ihm zu. "Gott nickt leicht erstaunt zurück, und lächelnd verlässt sie sein Haus und reibt den Kragen der neuen Jacke einen Augenblick an ihrer linken Wange." Ein Mantel ist kein Ersatz für den Geliebten, ein Mann in Fischgrätmuster kein Messias. Und doch. Es liegt eine tröstende Alltagsfrömmigkeit in diesen zärtlich erzählten Geschichten.
Die titelgebende und längste Erzählung "Adorno wohnt hier nicht mehr" führt in die Anfänge von Jochen Schimmangs Schriftstellerlaufbahn, im Zeichen der K-Gruppen, der Adorno-Verehrung, des Frankfurter Suhrkamp-Verlags, der Frankfurter Verlagsanstalt. An der Seite seines im Literaturmarkt verschwundenen Freunds Wolfgang Utschick (1997 erschien dessen Roman "Die Veränderung der Sehnsucht" bei Suhrkamp, danach arbeitete er als Wachmann und im Theater als Logenschließer) beginnt er eine Frankfurter Spurensuche; und beide erinnern sich an die Zukunft.
Das erfundene Interview "Herr Rutschky oder Der Optimismus" führt in die kurze Euphorie des Münchner "TransAtlantik"-Magazins und die intellektuelle Gastfreundschaft des Ehepaars Katharina und Michael Rutschky, etwa wenn sie in der Früh "nacheinander in identischen blauen Morgenmänteln mit Waffelmuster aus ihren jeweiligen Zimmern kamen". So viel Anfang war nie.
Vielleicht ist der Literaturbetrieb nur erträglich, wenn man sich die Lizenz nimmt, in ihm ein wenig verschwinden zu dürfen. Wie auch eine Geburtstagsfeier zum Siebzigsten sehr lustig sein kann im Dachbodenversteck, wenn die Freunde ("Hebel, Hegel und Hesel"), die "Damen und Herren vom Förderkreis", die "Delegation des Ministeriums", die "Gruppe der Hauptstadtkollegen" und Barry Hulshoff, der in Amsterdam Figuratives Zeichnen unterrichtet, und Louisade de Bruyne, "die dasselbe in Brüssel tut", aus allen Himmelsrichtungen, im flachen Land von weither sichtbar, unaufhaltsam anrücken.
Dieses Buch ist voller Anspielungen und Schlüsselszenen einer untergegangenen geistigen und politischen Kultur. Seine Empathie liegt nicht bei den Siegern. Aber war es so nicht überhaupt?
ANGELIKA OVERATH
Jochen Schimmang:
"Adorno wohnt hier nicht mehr". Erzählungen.
Edition Nautilus, Hamburg 2019. 206 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.01.2020Wären wir doch nicht nach Berlin gegangen
Von der Sehnsucht nach dem alten Pessimismus und einer Ampel für den Professor: Jochen Schimmangs Erzählband „Adorno wohnt hier nicht mehr“
Die Möglichkeit des Verschwindens ist vielleicht das Subversivste, was der Literatur zur Verfügung steht – weg aus dem Rampenlicht, weg von den Zuweisungen und Debatten und das Geheimnis einfach wie Igelstacheln nach außen kehren. Jochen Schimmang schließt mit seinem schmalen neuen Buch an Haltungen an, die bei Robert Walser oder Herman Melvilles „Bartleby“ entwickelt wurden und sich den Zumutungen der Öffentlichkeit entziehen.
Der verschwiegen auftretende Autor entwirft zunächst, wie um sich zu verstecken, ein Doppelgängerpaar aus dem Bereich der bildenden Kunst, das einen melancholisch-satirischen Blick darauf wirft, wie der Markt funktioniert und wie der Künstler dabei überleben kann. Zum Beispiel an einem Ort wie dem britischen Winchelsea, auf einem abgelegenen Hochplateau, abgewandt vom Meer und „von der Gegenwart vergessen“, wie es in einem Reiseführer heißt. Dort findet eine traumwandlerische Frau einen in Deutschland vermissten Maler und stößt dabei auf eine faszinierende Form des Lebens und des Sich-unkenntlich-Machens.
Natürlich hat auch und gerade die Titelerzählung „Adorno wohnt hier nicht mehr“ viel mit diesem Motiv zu tun. Adorno wird für Schimmang zu einer mythischen Figur, die für ein entgangenes und erträumtes Leben steht. Man erliegt sofort dem unaufdringlichen, eigentümlichen Ton dieses Textes, einem autobiografischen Spiel, in dem der Autor die Suggestivkraft der Fiktion einsetzt, ohne irgendetwas erfinden zu müssen. 1969 wollte er wegen Adorno in Frankfurt studieren, landete dann aber in Westberlin. Fast vierzig Jahre später unternimmt er mit einem Freund eine Erkundung des Frankfurter Terrains, und das wird unter der Hand zur Bilanz eines Schriftstellerlebens.
Adorno und der Suhrkamp-Verlag, bei dem beide Freunde damals anheuern wollten – wie eine Verheißung taucht das noch einmal vor Augen der heute fast Siebzigjährigen auf. Der Freund, der in der Erzählung den leicht verfremdeten Namen Wolf Učic trägt, hatte dann tatsächlich im Jahr 1979 seine Erstveröffentlichung als SuhrkampTaschenbuch Nr. 566, dem Erzähler selbst galt ein paar Monate früher die Nummer 527. Sie gehen noch einmal zu dem Ort, an dem der moderne, längst abgerissene Bau des Suhrkamp-Verlags stand. Auch der Lektor in der Oberlindau, mit dem die Jungautoren oft diskutierten und hoffnungsvoll in die Zukunft blickten, ist weggezogen. Aus jenem Kreis wurde allein Bodo Kirchhoff, der deshalb unter Klarnamen auftaucht, richtig bekannt. Učic hingegen ist als Autor fast verschwunden und hat sich jahrzehntelang als Logenschließer im Schauspiel Frankfurt betätigt.
In einer schönen Passage denkt der Erzähler darüber nach, wie es gewesen wäre, wenn er nicht in Berlin in einem maoistischen Zirkel verkehrt, sondern die Kritische Theorie der Frankfurter Schule studiert hätte: „Ich wäre aufrecht, hellsichtig und ungebrochen pessimistisch geblieben wie Adorno und dabei viel glücklicher gewesen als in Westberlin. So aber blieb Frankfurt für mich die große, nicht genutzte Möglichkeit meines Lebens, und dafür habe ich die Stadt immer geliebt.“
Geradezu fulminant wird die Szene, als der Erzähler auf einer Gaststättenterrasse im Nordend sitzt und ein Gespräch belauscht, in dem der Name „Rebić“ fällt, in der letzten Saison ein Spieler der Frankfurter Eintracht, und sein akademisches Idol automatisch gegen sich selbst in Schutz nimmt. Denn Adorno hätte die Freude der Debattierenden erst mal den Manipulationen der Kulturindustrie zugeschrieben und seine Kritik der falschen Unmittelbarkeit erneuert. Aber nachdem zungenschnalzend Namen wie Grabowski, Hölzenbein oder gar Trinklein und Rohrbach gefallen sind, sinniert der Autor doch, dass es „immer eine Frankfurter Schule des Fußballs gegeben“ habe, „die vor allem der Schönheit verpflichtet war und nicht primär dem Sieg, und die Teddies Begriff des Nicht-Identischen, der Betonung des Besonderen gegen das Allgemeine, sehr nahe kam“.
An dieser Stelle fallen Ideal und Wirklichkeit zusammen, das nicht gelebte und das gelebte Leben. Der Erzähler hat seinen ersten Verleger Siegfried Unseld nie gesprochen und hat ihn nur einmal aus etwa zwanzig Metern Entfernung gesehen. Aber dafür ziehen sich Anspielungen auf literarisch bewunderte Autoren wie Sehnsuchtsmotive durch den ganzen Band. So fühlt sich der Held beim Gang durch die Frankfurter Zeil wiederholt und unvermeidlich als eine typische „Genazino-Figur“ und hat Teil an einem unvergesslichen literarischen Odem.
Das leichtfüßige Verknüpfen von Leben und Sehnsucht gelingt dem Autor am besten, wenn er sich überhaupt nicht mehr tarnt, so auch in dem doppelbödigen Dialog „Herr Rutschky oder Der Optimismus“. Jochen Schimmang gehörte, obwohl er immer wieder Texte für den umtriebigen Michael Rutschky schrieb und mit ihm häufigeren privaten Umgang hatte, offenkundig nicht zum sogenannten „Rutschky-Kreis“, er registriert diese Bezeichnung auch mit einem erkennbar leichten Kopfschütteln. Im Kontext dieses Erzählungsbandes wird klar, dass Rutschky eine Art Gegenprinzip verkörperte, als einer, der sich auf Augenhöhe mit „Kollegen“ wie Benjamin, Kracauer oder Bourdieu sah. Sanft setzt Schimmang nach: „Aber R. wurde eben nicht Susan Sontag oder Joan Didion oder Richard Sennett oder gar Bourdieu (…). R. wurde dann Herr Rutschky, und das war eigentlich kein Name, sondern ein Titel. Ein Duktus.“ Ziemlich verdächtig ist dem Autor Rutschkys Verhältnis zu Adorno, seine „panische Angst“ vor jeder Form von Kulturkritik und sein „Optimismusprogramm“: „R. wollte immer auf der Höhe der Zeit sein, absolut modern, ich nicht unbedingt.“
Ein schönes Beispiel für dieses nicht Unbedingte ist die Art, wie Schimmang an der „Adorno-Ampel“ innehält, die mittlerweile tatsächlich an der Kreuzung Senckenberganlage/Mertonstraße steht, auf dem täglichen Weg des Professors von der Universität zum Institut für Sozialforschung. Damals gab es die Ampel aber noch nicht, und Adorno hatte ständig Angst, die stark befahrene Senckenberganlage zu überqueren. Er schrieb deshalb einen Leserbrief an die FAZ: „Sollte ein Student, oder ein Professor, in jenem Zustand sich befinden, der ihm eigentlich angemessen ist, nämlich in Gedanken sein, so steht darauf unmittelbar die Drohung des Todes.“
Achtzehn Jahre nach diesem Leserbrief und elf Jahre nach Adornos Tod wurde die Ampel endlich installiert. Und noch einmal fast vierzig Jahre später hat Jochen Schimmang sein Buch „Adorno wohnt hier nicht mehr“ genannt. Damit ist das Verschwindende erst einmal bewahrt.
HELMUT BÖTTIGER
Das Verknüpfen von Leben und
Sehnsucht gelingt dem Autor,
wenn er sich nicht mehr tarnt
Jochen Schimmang:
Adorno wohnt hier nicht mehr. Erzählungen.
Edition Nautilus, Hamburg 2019.
205 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Von der Sehnsucht nach dem alten Pessimismus und einer Ampel für den Professor: Jochen Schimmangs Erzählband „Adorno wohnt hier nicht mehr“
Die Möglichkeit des Verschwindens ist vielleicht das Subversivste, was der Literatur zur Verfügung steht – weg aus dem Rampenlicht, weg von den Zuweisungen und Debatten und das Geheimnis einfach wie Igelstacheln nach außen kehren. Jochen Schimmang schließt mit seinem schmalen neuen Buch an Haltungen an, die bei Robert Walser oder Herman Melvilles „Bartleby“ entwickelt wurden und sich den Zumutungen der Öffentlichkeit entziehen.
Der verschwiegen auftretende Autor entwirft zunächst, wie um sich zu verstecken, ein Doppelgängerpaar aus dem Bereich der bildenden Kunst, das einen melancholisch-satirischen Blick darauf wirft, wie der Markt funktioniert und wie der Künstler dabei überleben kann. Zum Beispiel an einem Ort wie dem britischen Winchelsea, auf einem abgelegenen Hochplateau, abgewandt vom Meer und „von der Gegenwart vergessen“, wie es in einem Reiseführer heißt. Dort findet eine traumwandlerische Frau einen in Deutschland vermissten Maler und stößt dabei auf eine faszinierende Form des Lebens und des Sich-unkenntlich-Machens.
Natürlich hat auch und gerade die Titelerzählung „Adorno wohnt hier nicht mehr“ viel mit diesem Motiv zu tun. Adorno wird für Schimmang zu einer mythischen Figur, die für ein entgangenes und erträumtes Leben steht. Man erliegt sofort dem unaufdringlichen, eigentümlichen Ton dieses Textes, einem autobiografischen Spiel, in dem der Autor die Suggestivkraft der Fiktion einsetzt, ohne irgendetwas erfinden zu müssen. 1969 wollte er wegen Adorno in Frankfurt studieren, landete dann aber in Westberlin. Fast vierzig Jahre später unternimmt er mit einem Freund eine Erkundung des Frankfurter Terrains, und das wird unter der Hand zur Bilanz eines Schriftstellerlebens.
Adorno und der Suhrkamp-Verlag, bei dem beide Freunde damals anheuern wollten – wie eine Verheißung taucht das noch einmal vor Augen der heute fast Siebzigjährigen auf. Der Freund, der in der Erzählung den leicht verfremdeten Namen Wolf Učic trägt, hatte dann tatsächlich im Jahr 1979 seine Erstveröffentlichung als SuhrkampTaschenbuch Nr. 566, dem Erzähler selbst galt ein paar Monate früher die Nummer 527. Sie gehen noch einmal zu dem Ort, an dem der moderne, längst abgerissene Bau des Suhrkamp-Verlags stand. Auch der Lektor in der Oberlindau, mit dem die Jungautoren oft diskutierten und hoffnungsvoll in die Zukunft blickten, ist weggezogen. Aus jenem Kreis wurde allein Bodo Kirchhoff, der deshalb unter Klarnamen auftaucht, richtig bekannt. Učic hingegen ist als Autor fast verschwunden und hat sich jahrzehntelang als Logenschließer im Schauspiel Frankfurt betätigt.
In einer schönen Passage denkt der Erzähler darüber nach, wie es gewesen wäre, wenn er nicht in Berlin in einem maoistischen Zirkel verkehrt, sondern die Kritische Theorie der Frankfurter Schule studiert hätte: „Ich wäre aufrecht, hellsichtig und ungebrochen pessimistisch geblieben wie Adorno und dabei viel glücklicher gewesen als in Westberlin. So aber blieb Frankfurt für mich die große, nicht genutzte Möglichkeit meines Lebens, und dafür habe ich die Stadt immer geliebt.“
Geradezu fulminant wird die Szene, als der Erzähler auf einer Gaststättenterrasse im Nordend sitzt und ein Gespräch belauscht, in dem der Name „Rebić“ fällt, in der letzten Saison ein Spieler der Frankfurter Eintracht, und sein akademisches Idol automatisch gegen sich selbst in Schutz nimmt. Denn Adorno hätte die Freude der Debattierenden erst mal den Manipulationen der Kulturindustrie zugeschrieben und seine Kritik der falschen Unmittelbarkeit erneuert. Aber nachdem zungenschnalzend Namen wie Grabowski, Hölzenbein oder gar Trinklein und Rohrbach gefallen sind, sinniert der Autor doch, dass es „immer eine Frankfurter Schule des Fußballs gegeben“ habe, „die vor allem der Schönheit verpflichtet war und nicht primär dem Sieg, und die Teddies Begriff des Nicht-Identischen, der Betonung des Besonderen gegen das Allgemeine, sehr nahe kam“.
An dieser Stelle fallen Ideal und Wirklichkeit zusammen, das nicht gelebte und das gelebte Leben. Der Erzähler hat seinen ersten Verleger Siegfried Unseld nie gesprochen und hat ihn nur einmal aus etwa zwanzig Metern Entfernung gesehen. Aber dafür ziehen sich Anspielungen auf literarisch bewunderte Autoren wie Sehnsuchtsmotive durch den ganzen Band. So fühlt sich der Held beim Gang durch die Frankfurter Zeil wiederholt und unvermeidlich als eine typische „Genazino-Figur“ und hat Teil an einem unvergesslichen literarischen Odem.
Das leichtfüßige Verknüpfen von Leben und Sehnsucht gelingt dem Autor am besten, wenn er sich überhaupt nicht mehr tarnt, so auch in dem doppelbödigen Dialog „Herr Rutschky oder Der Optimismus“. Jochen Schimmang gehörte, obwohl er immer wieder Texte für den umtriebigen Michael Rutschky schrieb und mit ihm häufigeren privaten Umgang hatte, offenkundig nicht zum sogenannten „Rutschky-Kreis“, er registriert diese Bezeichnung auch mit einem erkennbar leichten Kopfschütteln. Im Kontext dieses Erzählungsbandes wird klar, dass Rutschky eine Art Gegenprinzip verkörperte, als einer, der sich auf Augenhöhe mit „Kollegen“ wie Benjamin, Kracauer oder Bourdieu sah. Sanft setzt Schimmang nach: „Aber R. wurde eben nicht Susan Sontag oder Joan Didion oder Richard Sennett oder gar Bourdieu (…). R. wurde dann Herr Rutschky, und das war eigentlich kein Name, sondern ein Titel. Ein Duktus.“ Ziemlich verdächtig ist dem Autor Rutschkys Verhältnis zu Adorno, seine „panische Angst“ vor jeder Form von Kulturkritik und sein „Optimismusprogramm“: „R. wollte immer auf der Höhe der Zeit sein, absolut modern, ich nicht unbedingt.“
Ein schönes Beispiel für dieses nicht Unbedingte ist die Art, wie Schimmang an der „Adorno-Ampel“ innehält, die mittlerweile tatsächlich an der Kreuzung Senckenberganlage/Mertonstraße steht, auf dem täglichen Weg des Professors von der Universität zum Institut für Sozialforschung. Damals gab es die Ampel aber noch nicht, und Adorno hatte ständig Angst, die stark befahrene Senckenberganlage zu überqueren. Er schrieb deshalb einen Leserbrief an die FAZ: „Sollte ein Student, oder ein Professor, in jenem Zustand sich befinden, der ihm eigentlich angemessen ist, nämlich in Gedanken sein, so steht darauf unmittelbar die Drohung des Todes.“
Achtzehn Jahre nach diesem Leserbrief und elf Jahre nach Adornos Tod wurde die Ampel endlich installiert. Und noch einmal fast vierzig Jahre später hat Jochen Schimmang sein Buch „Adorno wohnt hier nicht mehr“ genannt. Damit ist das Verschwindende erst einmal bewahrt.
HELMUT BÖTTIGER
Das Verknüpfen von Leben und
Sehnsucht gelingt dem Autor,
wenn er sich nicht mehr tarnt
Jochen Schimmang:
Adorno wohnt hier nicht mehr. Erzählungen.
Edition Nautilus, Hamburg 2019.
205 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de