Eine kleine Villa in der französischen Provinz, ein Vater und zwei erwachsene Töchter, die ältere kränklich, die jüngere achtzehn und lebenshungrig. Was äußerlich wohl geordnet scheint, wird für Adrienne Mesurat zu einer Hölle auf Erden. Vom Vater gegängelt und von der Schwester schikaniert, verliebt sie sich in den Arzt Maurecourt. Eine obsessive und fanatische Liebe, die jedoch unerwidert bleibt. Als die Schwester Germaine aus dem Haus des Vaters flieht, steht Adrienne dessen Willkür allein gegenüber. »Eines der allerbesten Bücher des Jahrhunderts« (Walter Benjamin) in der glanzvollen Neuübersetzung von Elisabeth Edl.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2000Frommer Schubser
Julien Green in neuer Übersetzung / Von Eberhard Rathgeb
Gerne wird wiederholt, was Julien Green über das Geheimnis seines Schreibens berichtet hat: daß nicht er selbst es sei, der die Feder führe, sondern ein "anderer". Vor allem der Roman "Adrienne Mesurat" und der zwei Jahre darauf veröffentlichte "Leviathan" haben sich - so Julien Green - diesem Unbekannten zu verdanken. Green hörte gerne, was André Breton über ihn sagte: Er sei ein hervorragendes Beispiel für die von den Surrealisten hochgeschätzte "écriture automatique": Schreiben ohne Selbstzensur. Auch die Psychoanalyse - käme sie zu Wort, das ihr Green verbietet - würde Kräfte aufstöbern, die zum Fabulieren drängen. Offen zutage liegt erst einmal ein Muster.
Die Geschichte der Adrienne Mesurat wird kunstvoll und spannend erzählt. An der Not des achtzehnjährigen Mädchens in der Provinz nimmt man, auch wenn man in der Großstadt wohnt, regen Anteil. Man wird auch noch in eine kriminalistische Geschichte verwickelt: Adrienne tötet ihren Vater. Solche Untaten gegen die engsten Bindungen der Natur findet man häufiger im Drama als in der Prosa. Das Verbrechen aus Leidenschaft quillt aus einer fürchterlich gebeutelten Seele. Die Wolkendecke reißt auf, und die Hand einer höheren Macht greift sich einen Menschen, der nicht weiß, wie ihm geschieht.
Der wahre und besonnene Held des Romans aber ist eine logische Kategorie: der Gegensatz. Julien Green war 1916 zum Katholizismus übergetreten. Wer den Menschen unter theatralischen Strom stellen möchte, der meide die protestantischen Vermittlungen. Böse ist der Menschenwurm seit der heiklen Erbsünde. In seiner Hand liegt es nicht, "gut" zu werden. Die Liebe des Katholiken zu Gott kennt die Ohnmacht vor der Macht, der man nicht in die Arme fallen, der man nur in die Arme sinken kann. Julien Green fand im Katholizismus die Absolutheit einer dichotomischen Weltstruktur - das Kompositionsprinzip des Romans "Adrienne Mesurat". Wenn irgendwo, dann liegt der Katholizismus dieses Buches in dieser simplen Struktur. Man muß der Geschichte mit den Begriffen der Sünde und Gnade gar nicht zu Leibe rücken. Ein nicht vermittelter Gegensatz ist eine Kippfigur: Etwas schlägt einfach um. So auch hier. Genau in der Mitte des Romans stürzt die Tochter ihren Vater in den Tod und fällt selbst aus der Welt der Balance.
Julien Green ist siebenundzwanzig Jahre alt, als sein Roman "Adrienne Mesurat" 1927 in Frankreich erscheint. Durch den Roman wird er sofort berühmt. Eine deutsche Übersetzung folgt 1928. Adriennes Mutter ist tot. Sie lebt mit ihrem greisen und vom Schuldienst pensionierten Vater sowie einer siebzehn Jahre älteren kranken Schwester in irgendeinem Kaff und zählt die Tage. Alles wird anders, als ihr auf der Landstraße eine Kutsche entgegenrattert, aus der ein Mann ihr einen Blick zuwirft. Sie glaubt, daß die Aufregung, die sie erfaßt, Liebe sei. Sie verharrt Stunden am Fenster, späht, schleicht sich abends raus, hoffend, den Mann wiederzusehen. Er ist Arzt und wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft. Den Ausgängen seiner unruhigen Jüngsten schiebt der Vater, angestiftet durch die Schwester, die das Glück haßt, einen Riegel vor. Die Abende verdämmern im Kartenspiel zu dritt. Adriennes Schicksal scheint besiegelt, als ihre Schwester sie bittet, ihr bei der Flucht aus dem Elternhaus zu helfen. Die Schwester entkommt nach Paris. Der Zorn des Vaters trifft Adrienne. Das Mädchen verzweifelt und schubst den Vater die Treppe hinunter.
Einhundertfünfzig Seiten rennt Julien Green atemlos geradeaus - dann springt er: Das ist der Mord. Der Leser wird - presto, presto - ins Unglück Adriennes hineingetrieben: Menschen unter sich. Uns soll quälen, was sie durchstehen muß. Wir legen die Hände an die kalten Kerkerwände, die sie einschließen. Wir möchten dem groben Vater Einhalt gebieten. Wir wünschen ihr Glück und daß sie ihr Verlangen und ihre Begierde austoben kann, die in der von Familienritualen zerfurchten Ödnis verkümmern. Wir bibbern mit ihr am Fenster und hasten durch die Straßen. Wir halten den Daumen, daß die Flucht der Schwester gelinge. Als der Vater die Stufen runtersegelt, wissen wir: Das ist nicht das Ende, das ist der Anfang einer schwarzen Einsamkeit, von der sie nur die zähe Langeweile gekostet hat. Der Mord wird - es sei die Schuld ohne weltliche Sühne - als Unfall obduziert. Eine ahnungsvolle Nachbarin bringt Adrienne um ihre Ersparnisse. Die Küchengehilfin ergeht sich in erpresserischen Andeutungen. Der Arzt bewegt Adrienne zu einem Geständnis, verrät sie nicht an die Polizei und weist ihre Liebe zurück. Adrienne, von allen verlassen, irrt durch die nächtlichen Straßen. Sie weiß nicht, wo sie wohnt und wie sie heißt.
Keine zwei Monate sind seit der ersten Seite vergangen. Aus Tag wurde Nacht. Aus Drinnen wurde Draußen. Die Fenster, die Haustür und das Tor öffen sich nur einen Spalt und werden wieder fest verschlossen. In der Villa wohnt der Schatten, von der Straße grüßt der ferne Himmel. Im Garten des gestutzten Lebens wachsen nur noch Schnittblumen. Auf den Teppich fällt klingenschmal ein einsamer Maiensonnenstrahl. Die nackte Freiheit kriecht allein ins Bett. Die Polster des Schicksals schlucken die Schluchzer. Die Ahnen an der Wand schauen stumm wie Grenzposten drein.
Die dichotomische Struktur des Romans macht aus der Geschichte eine Bühnenhandlung. Der schreibende Unbekannte, den Julien Green anführt, bewegt sich in einem übersichtlichen Parcourt. Wann eine Figur einen symbolischen Raum verläßt und in einen anderen marschiert, wie lange sie sich dort aufhält - das sind die Aufgaben der Regie. Man schaue sich nur einmal den ersten Satz an, der einer bedeutungssteinreichen Szenenanweisung gleicht: "Aufrecht, die Hände hinter dem Rücken, stand Adrienne da und betrachtete den Friedhof. So hieß bei den Mesurats eine Gruppe von zwölf Porträts, die im Eßzimmer über einer Anrichte hingen, so dicht beieinander, das sie die ganze Wand bedeckten." Gefangen vor dem Schwurgericht des genealogischen Schicksals!
In diesem Roman findet man nur wenige Sätze, die man sich merken müßte, weil sie eine Einsicht in vollendeter Form aufbewahren. Die dichte Atmosphäre des Leidens braucht keine intellektuellen Bonmots. Sie entsteht aus einem Beschreibungsfuror, der auf die Wirkung zielt. Die vorliegende neue Übersetzung verstärkt die Funktion der Sätze, dem Ambiente der dichotomischen Welt zu dienen. Sie ist oft weicher, gleitender und findet durchgehend die Formulierung, die sich von selbst versteht und ergibt.
Als er starb, schrieb man über Julien Green, daß erst mit ihm, den man neben Marcel Proust stellte, das neunzehnte Jahrhundert zu Ende gegangen sei. Der Roman "Adrienne Mesurat" ist ein strikt und kunstvoll komponiertes Kunstwerk, in seiner psychologischen Musikalität eine Art italienische Oper gar, dem Menschenthema und seiner arienhaften Duchführung mit allen Geigen und Bläser ergeben. Man findet hier nicht die Räsonnements des modernen Romans des zwanzigsten Jahrhunderts, keine erkundenden Selbstzweifel, keine mietshausgroßen existentiellen Erschütterungen und keine außerfahrplanmäßigen Ungewißheiten. Einem Schriftsteller, der aus dem katholischen Prinzip der unversöhnlichen Gegensätze der Welt schrieb, war die Freiheit der Vermittlungsversuche, die feine protestantische Ironie, fremd. Eine barocke Himmel-Hölle-Theatralik führt das seelenbeschwingte Wort.
Julien Green reiste gerne durch die zivilisierte Welt. In seinem Roman blieb er dagegen gerne daheim hocken, in den ihm gut bekannten übersichtlichen Provinzen des neunzehnten Jahrhunderts, in denen das Bild "des" Menschen gedeiht, "im Grauen in einer tiefen Nacht".
Julien Green: "Adrienne Mesurat". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Mit einem Nachwort von Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München 2000. 310 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julien Green in neuer Übersetzung / Von Eberhard Rathgeb
Gerne wird wiederholt, was Julien Green über das Geheimnis seines Schreibens berichtet hat: daß nicht er selbst es sei, der die Feder führe, sondern ein "anderer". Vor allem der Roman "Adrienne Mesurat" und der zwei Jahre darauf veröffentlichte "Leviathan" haben sich - so Julien Green - diesem Unbekannten zu verdanken. Green hörte gerne, was André Breton über ihn sagte: Er sei ein hervorragendes Beispiel für die von den Surrealisten hochgeschätzte "écriture automatique": Schreiben ohne Selbstzensur. Auch die Psychoanalyse - käme sie zu Wort, das ihr Green verbietet - würde Kräfte aufstöbern, die zum Fabulieren drängen. Offen zutage liegt erst einmal ein Muster.
Die Geschichte der Adrienne Mesurat wird kunstvoll und spannend erzählt. An der Not des achtzehnjährigen Mädchens in der Provinz nimmt man, auch wenn man in der Großstadt wohnt, regen Anteil. Man wird auch noch in eine kriminalistische Geschichte verwickelt: Adrienne tötet ihren Vater. Solche Untaten gegen die engsten Bindungen der Natur findet man häufiger im Drama als in der Prosa. Das Verbrechen aus Leidenschaft quillt aus einer fürchterlich gebeutelten Seele. Die Wolkendecke reißt auf, und die Hand einer höheren Macht greift sich einen Menschen, der nicht weiß, wie ihm geschieht.
Der wahre und besonnene Held des Romans aber ist eine logische Kategorie: der Gegensatz. Julien Green war 1916 zum Katholizismus übergetreten. Wer den Menschen unter theatralischen Strom stellen möchte, der meide die protestantischen Vermittlungen. Böse ist der Menschenwurm seit der heiklen Erbsünde. In seiner Hand liegt es nicht, "gut" zu werden. Die Liebe des Katholiken zu Gott kennt die Ohnmacht vor der Macht, der man nicht in die Arme fallen, der man nur in die Arme sinken kann. Julien Green fand im Katholizismus die Absolutheit einer dichotomischen Weltstruktur - das Kompositionsprinzip des Romans "Adrienne Mesurat". Wenn irgendwo, dann liegt der Katholizismus dieses Buches in dieser simplen Struktur. Man muß der Geschichte mit den Begriffen der Sünde und Gnade gar nicht zu Leibe rücken. Ein nicht vermittelter Gegensatz ist eine Kippfigur: Etwas schlägt einfach um. So auch hier. Genau in der Mitte des Romans stürzt die Tochter ihren Vater in den Tod und fällt selbst aus der Welt der Balance.
Julien Green ist siebenundzwanzig Jahre alt, als sein Roman "Adrienne Mesurat" 1927 in Frankreich erscheint. Durch den Roman wird er sofort berühmt. Eine deutsche Übersetzung folgt 1928. Adriennes Mutter ist tot. Sie lebt mit ihrem greisen und vom Schuldienst pensionierten Vater sowie einer siebzehn Jahre älteren kranken Schwester in irgendeinem Kaff und zählt die Tage. Alles wird anders, als ihr auf der Landstraße eine Kutsche entgegenrattert, aus der ein Mann ihr einen Blick zuwirft. Sie glaubt, daß die Aufregung, die sie erfaßt, Liebe sei. Sie verharrt Stunden am Fenster, späht, schleicht sich abends raus, hoffend, den Mann wiederzusehen. Er ist Arzt und wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft. Den Ausgängen seiner unruhigen Jüngsten schiebt der Vater, angestiftet durch die Schwester, die das Glück haßt, einen Riegel vor. Die Abende verdämmern im Kartenspiel zu dritt. Adriennes Schicksal scheint besiegelt, als ihre Schwester sie bittet, ihr bei der Flucht aus dem Elternhaus zu helfen. Die Schwester entkommt nach Paris. Der Zorn des Vaters trifft Adrienne. Das Mädchen verzweifelt und schubst den Vater die Treppe hinunter.
Einhundertfünfzig Seiten rennt Julien Green atemlos geradeaus - dann springt er: Das ist der Mord. Der Leser wird - presto, presto - ins Unglück Adriennes hineingetrieben: Menschen unter sich. Uns soll quälen, was sie durchstehen muß. Wir legen die Hände an die kalten Kerkerwände, die sie einschließen. Wir möchten dem groben Vater Einhalt gebieten. Wir wünschen ihr Glück und daß sie ihr Verlangen und ihre Begierde austoben kann, die in der von Familienritualen zerfurchten Ödnis verkümmern. Wir bibbern mit ihr am Fenster und hasten durch die Straßen. Wir halten den Daumen, daß die Flucht der Schwester gelinge. Als der Vater die Stufen runtersegelt, wissen wir: Das ist nicht das Ende, das ist der Anfang einer schwarzen Einsamkeit, von der sie nur die zähe Langeweile gekostet hat. Der Mord wird - es sei die Schuld ohne weltliche Sühne - als Unfall obduziert. Eine ahnungsvolle Nachbarin bringt Adrienne um ihre Ersparnisse. Die Küchengehilfin ergeht sich in erpresserischen Andeutungen. Der Arzt bewegt Adrienne zu einem Geständnis, verrät sie nicht an die Polizei und weist ihre Liebe zurück. Adrienne, von allen verlassen, irrt durch die nächtlichen Straßen. Sie weiß nicht, wo sie wohnt und wie sie heißt.
Keine zwei Monate sind seit der ersten Seite vergangen. Aus Tag wurde Nacht. Aus Drinnen wurde Draußen. Die Fenster, die Haustür und das Tor öffen sich nur einen Spalt und werden wieder fest verschlossen. In der Villa wohnt der Schatten, von der Straße grüßt der ferne Himmel. Im Garten des gestutzten Lebens wachsen nur noch Schnittblumen. Auf den Teppich fällt klingenschmal ein einsamer Maiensonnenstrahl. Die nackte Freiheit kriecht allein ins Bett. Die Polster des Schicksals schlucken die Schluchzer. Die Ahnen an der Wand schauen stumm wie Grenzposten drein.
Die dichotomische Struktur des Romans macht aus der Geschichte eine Bühnenhandlung. Der schreibende Unbekannte, den Julien Green anführt, bewegt sich in einem übersichtlichen Parcourt. Wann eine Figur einen symbolischen Raum verläßt und in einen anderen marschiert, wie lange sie sich dort aufhält - das sind die Aufgaben der Regie. Man schaue sich nur einmal den ersten Satz an, der einer bedeutungssteinreichen Szenenanweisung gleicht: "Aufrecht, die Hände hinter dem Rücken, stand Adrienne da und betrachtete den Friedhof. So hieß bei den Mesurats eine Gruppe von zwölf Porträts, die im Eßzimmer über einer Anrichte hingen, so dicht beieinander, das sie die ganze Wand bedeckten." Gefangen vor dem Schwurgericht des genealogischen Schicksals!
In diesem Roman findet man nur wenige Sätze, die man sich merken müßte, weil sie eine Einsicht in vollendeter Form aufbewahren. Die dichte Atmosphäre des Leidens braucht keine intellektuellen Bonmots. Sie entsteht aus einem Beschreibungsfuror, der auf die Wirkung zielt. Die vorliegende neue Übersetzung verstärkt die Funktion der Sätze, dem Ambiente der dichotomischen Welt zu dienen. Sie ist oft weicher, gleitender und findet durchgehend die Formulierung, die sich von selbst versteht und ergibt.
Als er starb, schrieb man über Julien Green, daß erst mit ihm, den man neben Marcel Proust stellte, das neunzehnte Jahrhundert zu Ende gegangen sei. Der Roman "Adrienne Mesurat" ist ein strikt und kunstvoll komponiertes Kunstwerk, in seiner psychologischen Musikalität eine Art italienische Oper gar, dem Menschenthema und seiner arienhaften Duchführung mit allen Geigen und Bläser ergeben. Man findet hier nicht die Räsonnements des modernen Romans des zwanzigsten Jahrhunderts, keine erkundenden Selbstzweifel, keine mietshausgroßen existentiellen Erschütterungen und keine außerfahrplanmäßigen Ungewißheiten. Einem Schriftsteller, der aus dem katholischen Prinzip der unversöhnlichen Gegensätze der Welt schrieb, war die Freiheit der Vermittlungsversuche, die feine protestantische Ironie, fremd. Eine barocke Himmel-Hölle-Theatralik führt das seelenbeschwingte Wort.
Julien Green reiste gerne durch die zivilisierte Welt. In seinem Roman blieb er dagegen gerne daheim hocken, in den ihm gut bekannten übersichtlichen Provinzen des neunzehnten Jahrhunderts, in denen das Bild "des" Menschen gedeiht, "im Grauen in einer tiefen Nacht".
Julien Green: "Adrienne Mesurat". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. Mit einem Nachwort von Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München 2000. 310 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In einer Sammelrezension bespricht Ute Stempel folgende Publikationen des kürzlich verstorbenen Schriftstellers Julien Green:
1) "Adrienne Mesurat. Roman"
Das "höllische Geisterdunkel", in dem der zeitlebens in Frankreich lebende Amerikaner seine Romane getaucht hat, meint Ute Strempel, prägt auch diesen Roman. So lässt sich die in der Provinz lebenden Adrienne Mesurat einerseits von ihrem Vater tyrannisieren, andererseits von einer "erotischen Obsession", die sie für Liebe hält. Einen Ausweg daraus gibt es nicht, selbst der Mord am Vater ist keine "Erlösung", da sie letztlich in die "geistige Umnachtung" führt. Die "Seelendramen" Julien Greens erinnern die Rezensentin an Dostojewski und Kafka. Auch hier werden die "bedrohlich muffigen Szenerien" bedroht von einer verzehrenden "Glut des Bösen".
2) "Wenn ich du wäre. Roman"
Ein Büroangestellter schlüpft in die Körper anderer, von ihm beneideter Menschen, z.B. seines Chefs oder auch eines Mörders und eines Frauenhelden. Da er dadurch jedoch auch "mit der Seele des anderen gestraft" wird, zeigt sich der Ich-Verlust als zu hoher Preis. Mit einem "platten Schluss", findet Ute Strempel, nimmt Green hier die Unheimlichkeit und Radikalität seines Romans wieder zurück: alles war nur ein Fiebertraum. Interessant findet sie, dass die Psychoanalytikerin Melanie Klein schon 1947 diesen Roman als "Beleg für eine Studie über die Identitätsproblematik" nahm, was dem Autor durchaus nicht recht war.
3) und 4): "Tagebücher 1990 - 1996" und "Tagebücher "1996 - 1998"
Erstaunlich ist der Gegensatz, meint Strempel, den die "human gefilterten" Tagebücher des sehr zurückgezogen lebenden Green bilden zu den finsteren Leidenschaften, die seine Romane beherrschen. Hier gruselt sich Green, bei aller Gottesgewissheit, die ihn als zum Katholizismus Konvertierten auszeichnete, vor der Welt der Politik, vor Atomkraftwerken und Kinderarbeit, Schändung jüdischer Friedhöfe und kalten Kameraaufnahmen von sterbenden Kindern in Afrika. Diese Tagebücher, merkt Strempel an, gehören zu "den ausführlichsten und an Jahren umfassendsten der Literaturgeschichte". Erstaunlich findet sie, dass der Autor mit den Jahren nicht milder sondern eher immer schonungsloser mit der Welt ins Gericht gegangen ist. Jedoch "öffnen Greens Tagebücher keine Fenster in seine geheimsten Lebensträume", schreibt Strempel und zitiert seine Selbstaussage hierzu: `Mein wirkliches Tagebuch steckt in meinen Romanen.`
©
1) "Adrienne Mesurat. Roman"
Das "höllische Geisterdunkel", in dem der zeitlebens in Frankreich lebende Amerikaner seine Romane getaucht hat, meint Ute Strempel, prägt auch diesen Roman. So lässt sich die in der Provinz lebenden Adrienne Mesurat einerseits von ihrem Vater tyrannisieren, andererseits von einer "erotischen Obsession", die sie für Liebe hält. Einen Ausweg daraus gibt es nicht, selbst der Mord am Vater ist keine "Erlösung", da sie letztlich in die "geistige Umnachtung" führt. Die "Seelendramen" Julien Greens erinnern die Rezensentin an Dostojewski und Kafka. Auch hier werden die "bedrohlich muffigen Szenerien" bedroht von einer verzehrenden "Glut des Bösen".
2) "Wenn ich du wäre. Roman"
Ein Büroangestellter schlüpft in die Körper anderer, von ihm beneideter Menschen, z.B. seines Chefs oder auch eines Mörders und eines Frauenhelden. Da er dadurch jedoch auch "mit der Seele des anderen gestraft" wird, zeigt sich der Ich-Verlust als zu hoher Preis. Mit einem "platten Schluss", findet Ute Strempel, nimmt Green hier die Unheimlichkeit und Radikalität seines Romans wieder zurück: alles war nur ein Fiebertraum. Interessant findet sie, dass die Psychoanalytikerin Melanie Klein schon 1947 diesen Roman als "Beleg für eine Studie über die Identitätsproblematik" nahm, was dem Autor durchaus nicht recht war.
3) und 4): "Tagebücher 1990 - 1996" und "Tagebücher "1996 - 1998"
Erstaunlich ist der Gegensatz, meint Strempel, den die "human gefilterten" Tagebücher des sehr zurückgezogen lebenden Green bilden zu den finsteren Leidenschaften, die seine Romane beherrschen. Hier gruselt sich Green, bei aller Gottesgewissheit, die ihn als zum Katholizismus Konvertierten auszeichnete, vor der Welt der Politik, vor Atomkraftwerken und Kinderarbeit, Schändung jüdischer Friedhöfe und kalten Kameraaufnahmen von sterbenden Kindern in Afrika. Diese Tagebücher, merkt Strempel an, gehören zu "den ausführlichsten und an Jahren umfassendsten der Literaturgeschichte". Erstaunlich findet sie, dass der Autor mit den Jahren nicht milder sondern eher immer schonungsloser mit der Welt ins Gericht gegangen ist. Jedoch "öffnen Greens Tagebücher keine Fenster in seine geheimsten Lebensträume", schreibt Strempel und zitiert seine Selbstaussage hierzu: `Mein wirkliches Tagebuch steckt in meinen Romanen.`
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"Green zeigt, warum die Sprache der Dichtung so viel mehr aussagt als alle anderen Sprachen, denn sie beschreibt ihren Gegenstand nicht nur, sondern stellt ihn dar. Das macht das Frühwerk 'Adrienne Mesurat' zu einer schaurigen Version der Normalität, zu einem Beweis für die Mächtigkeit der Poesie und damit zu einem Meisterwerk der Weltliteratur." Steffen Martus, Berliner Zeitung, 28.11.00
"Elisabeth Edls neue Übersetzung im Hanser-Verlag (ergänzt um das Nachwort von Wolfgang Matz) bringt uns dieses Interieur so vor Augen, wie es sein soll: anziehend und abweisend zugleich, mit den Beschleunigungen einer bedrängenden Sprache." Martin Meyer, Neue Zürcher Zeitung, 06.09.00
"Ohne Zweifel gehört der 1927 in Paris publizierte Roman, der nun in Elisabeth Edls trefflicher neuer Übertragung vorliegt, nicht nur zu den Meisterwerken dieses Prosaisten, sondern auch der französischen Literatur insgesamt: ein Klassiker, der seit der Erstveröffentlichung nichts von seiner Wirkungsmacht eingebüßt hat." Ulrich Weinzierl, Die Welt, 02.12.00
"Die Geschichte der Adrienne Mesurat wird kunstvoll und spannend erzählt. ... Ein strikt und kunstvoll komponiertes Kunstwerk." Eberhard Rathgeb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.00
"Elisabeth Edls neue Übersetzung im Hanser-Verlag (ergänzt um das Nachwort von Wolfgang Matz) bringt uns dieses Interieur so vor Augen, wie es sein soll: anziehend und abweisend zugleich, mit den Beschleunigungen einer bedrängenden Sprache." Martin Meyer, Neue Zürcher Zeitung, 06.09.00
"Ohne Zweifel gehört der 1927 in Paris publizierte Roman, der nun in Elisabeth Edls trefflicher neuer Übertragung vorliegt, nicht nur zu den Meisterwerken dieses Prosaisten, sondern auch der französischen Literatur insgesamt: ein Klassiker, der seit der Erstveröffentlichung nichts von seiner Wirkungsmacht eingebüßt hat." Ulrich Weinzierl, Die Welt, 02.12.00
"Die Geschichte der Adrienne Mesurat wird kunstvoll und spannend erzählt. ... Ein strikt und kunstvoll komponiertes Kunstwerk." Eberhard Rathgeb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.00