Älter werden wir alle, von Anfang an Silvia Bovenschen spitzt Ereignisse und Erlebnisse aus Kindheit, Jugend und späteren Zeiten zu, die ihr das Altern ins Bewusstsein brachten. Sie ruft die prägenden und auch komischen Begegnungen mit Vergänglichkeit, Tod und Teufel, mit Zuversicht, Glück und Sehnsucht auf und misstraut doch zugleich der Erinnerung, die mit goldenem Pinsel malt. Über 100.000 verkaufte HC! Über 30 Wochen auf der Spiegel-Bestseller-Liste
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2006So satt und dennoch sterblich
Wie Silvia Bovenschen glücklicherweise ihr Thema verfehlt / Von Joachim Kaiser
Es hat im deutschen Geistesleben immer wieder Schriftstellerinnen oder Journalistinnen von beeindruckend hohem Rang gegeben, die so persönlich, gelassen, gescheit, souverän und wohlinformiert zu schreiben verstanden, dass auch die klügsten, brillantesten männlichen Stimmen sie keineswegs zu übertönen vermochten. Zu diesen außerordentlichen Damen gehörten gewiss Margret Boveri, Sabine Lietzmann, vielleicht auch die pittoreske Kritikerin Karena Niehoff, ganz sicher die wunderbare Hilde Spiel. Auch die Literaturwissenschaftlerin und Essayistin Silvia Bovenschen scheint sich mit großstädtischer, diskreter Vernünftigkeit in diese leise Elite hineinzuformulieren.
Nun hat sie, gerade erst 60 Jahre alt geworden, ein Büchlein übers „Älter werden” vorgelegt. Diese knapp 160 Seiten wurden in der Berliner Zeitung derart enthusiastisch gerühmt von Arno Widmann („Ein großes Buch”, macht „Lust aufs Denken und Leben”, „die Idee eines Alterswerkes”), dass es nahe lag, sich der trefflichen Autorin und ihrem einschränkungslos gepriesenem Werk voller Neugier zuzuwenden. Doch beim Lesen der ersten 20, 30 Seiten empfindet man eine Enttäuschung, die an Erbitterung grenzt. Es ist und bleibt eben doch nahezu unmöglich, über die elementaren Menschheits-Themen – also über das Sterben, die Ehe, das Schicksal des Alterns – Aufregendes oder gar Neues vorzubringen. Man kann halt literarisch dem Tod nicht ins Auge sehen – ohne zu blinzeln, ohne banal zu werden. Es müsste schon jemand begabt sein wie eine Mixtur aus, sagen wir, Goethe, Valery, Oscar Wilde und Adorno – um gegenüber dem Alter wahrhaft produktiv überraschend fündig zu werden.
Stattdessen gibt Silvia Bovenschen zu bedenken, dass es bei allen Verbesserungen „immer nur um die Verminderung des Leids gehen kann”, dass man als Älterer von den „Stars” der Jungen keinen blassen Schimmer mehr hat, und – was schlimmer sei – ihn auch nicht haben möchte. Dass junge Leute nie wirklich elegant sein können, weil zur Eleganz „eine gewisse (Nach)-Lässigkeit, die zur Müdigkeit tendiert” gehöre. Das klingt profund – scheint aber doch schal. Denn bei der Feststellung „Eleganz arbeitet (in bewusster Vergeblichkeit) gegen den Tod, ohne sich auf Jugend zu abonnieren” – fallen einem eben sogleich Autoren wie Hofmannsthal und Sieburg, Wilde und Baumgart ein, denen derartige Sterbe-Mystik gewiss nicht sehr nahe lag . . .
Und liest man über alte berühmte Männer, die alles erreicht hätten, denen Schicksal, Gesellschaft und Geschichte nichts schuldig blieben: „Sie haben den Rahm abgeschöpft, satt sind sie, ruhmsatt und geldsatt, und nun sollen sie doch sterben? Unerhört! Ich verstehe diese Verbitterung, aber sie gefällt mir nicht”, – dann zuckt man eine Sekunde lang zustimmend zusammen. Findet aber gleich darauf, wie sehr das Gegenteil auch zutrifft. Nämlich jene erfolgreichen Greise, die nach wie vor geizig-geldgeil sind, eitel-ehrgeizig . . .
So scheint der Autorin nicht gelungen, was sie sich tollkühn programmatisch vornahm. Sie wollte in ihren Notizen dem Älterwerden mit der Besonderheit ihrer individuellen Wahrnehmung schriftstellerisch beikommen. Aber es gibt halt leider Grenzen der Individualität. Doch gleichsam hinter dem Rücken ihrer immer wieder fast zwanghaft angestellten Alters-Überlegungen ist Silvia Bovenschen ein schmerzlich schöner Text gelungen über das Leben und Leiden einer Schwerbehinderten. Einer seit Jahrzehnten mit Multipler Sklerose Geschlagenen. Was eine solche wahrlich tapfer-unsentimentale Denkerin übers Altwerden mitzuteilen hat, kann zwar kaum repräsentativ sein für die Erfahrungen, wie sie eine Frau oder ein Mann hinzunehmen haben, welche die ersten 50 Jahre ihres Lebens gesund sein durften und dann den Kränkungen des Alt-Werdens ausgesetzt werden.
Wie jedoch Silvia Bovenschen in ihren Beobachtungen, Reflexionen, ruhig erwogenen Aphorismen über menschliche Existenz in der Gewalt heftiger körperlicher Behinderung reflektiert, das hat manchmal einen erschütternden Sog. Sie bringt scheinbar Simples lakonisch auf den Punkt. Wie ungeschickt diejenigen (in der neidvollen Perspektive einer Behinderten) gehen – die nicht gelähmt sind. Warum sie das Fernsehen als kaum wahrgenommene Hintergrundskulisse braucht. Weshalb sie den alten Figuren sexuelles Begehren theoretisch zugesteht – aber praktisch eben doch keineswegs dabei sein möchte . . .
Gerade weil sie entspannt, persönlich und berlinisch-souverän formuliert, fallen Stilblüten umso deutlicher und ärgerlicher auf. Ein Heft, „dessen bunte Bildwelt mich aber sofort hochgradig faszinierte”. (Wirklich „hochgradig”?) Beim Erwägen des Nachrufs: „Die Unerhörtheit einer endgültigen Abwesenheit” („Unerhörtheit”?)
Ganz zwingend kann man die nun folgende Kritik nicht begründen. „Das Leben selbst, das Altwerden ist die Kränkung, und daran ist vorläufig, trotz Gentechnologie, nichts zu rütteln.” Assoziiert man nicht beim „Rütteln” etwas Handfestes – was in derart spekulatives Umfeld kaum passt? Darüber wäre vielleicht zu streiten. Dass die liebenswerte Silvia Bovenschen jedoch offenbar nicht von den richtigen Freunden umgeben ist, scheint unstrittig, wenn sie beklagt: „Kaum noch einer weiß, wer Adele Sandrock war.”
Silvia Bovenschen
Älter werden
Notizen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 144 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Wie Silvia Bovenschen glücklicherweise ihr Thema verfehlt / Von Joachim Kaiser
Es hat im deutschen Geistesleben immer wieder Schriftstellerinnen oder Journalistinnen von beeindruckend hohem Rang gegeben, die so persönlich, gelassen, gescheit, souverän und wohlinformiert zu schreiben verstanden, dass auch die klügsten, brillantesten männlichen Stimmen sie keineswegs zu übertönen vermochten. Zu diesen außerordentlichen Damen gehörten gewiss Margret Boveri, Sabine Lietzmann, vielleicht auch die pittoreske Kritikerin Karena Niehoff, ganz sicher die wunderbare Hilde Spiel. Auch die Literaturwissenschaftlerin und Essayistin Silvia Bovenschen scheint sich mit großstädtischer, diskreter Vernünftigkeit in diese leise Elite hineinzuformulieren.
Nun hat sie, gerade erst 60 Jahre alt geworden, ein Büchlein übers „Älter werden” vorgelegt. Diese knapp 160 Seiten wurden in der Berliner Zeitung derart enthusiastisch gerühmt von Arno Widmann („Ein großes Buch”, macht „Lust aufs Denken und Leben”, „die Idee eines Alterswerkes”), dass es nahe lag, sich der trefflichen Autorin und ihrem einschränkungslos gepriesenem Werk voller Neugier zuzuwenden. Doch beim Lesen der ersten 20, 30 Seiten empfindet man eine Enttäuschung, die an Erbitterung grenzt. Es ist und bleibt eben doch nahezu unmöglich, über die elementaren Menschheits-Themen – also über das Sterben, die Ehe, das Schicksal des Alterns – Aufregendes oder gar Neues vorzubringen. Man kann halt literarisch dem Tod nicht ins Auge sehen – ohne zu blinzeln, ohne banal zu werden. Es müsste schon jemand begabt sein wie eine Mixtur aus, sagen wir, Goethe, Valery, Oscar Wilde und Adorno – um gegenüber dem Alter wahrhaft produktiv überraschend fündig zu werden.
Stattdessen gibt Silvia Bovenschen zu bedenken, dass es bei allen Verbesserungen „immer nur um die Verminderung des Leids gehen kann”, dass man als Älterer von den „Stars” der Jungen keinen blassen Schimmer mehr hat, und – was schlimmer sei – ihn auch nicht haben möchte. Dass junge Leute nie wirklich elegant sein können, weil zur Eleganz „eine gewisse (Nach)-Lässigkeit, die zur Müdigkeit tendiert” gehöre. Das klingt profund – scheint aber doch schal. Denn bei der Feststellung „Eleganz arbeitet (in bewusster Vergeblichkeit) gegen den Tod, ohne sich auf Jugend zu abonnieren” – fallen einem eben sogleich Autoren wie Hofmannsthal und Sieburg, Wilde und Baumgart ein, denen derartige Sterbe-Mystik gewiss nicht sehr nahe lag . . .
Und liest man über alte berühmte Männer, die alles erreicht hätten, denen Schicksal, Gesellschaft und Geschichte nichts schuldig blieben: „Sie haben den Rahm abgeschöpft, satt sind sie, ruhmsatt und geldsatt, und nun sollen sie doch sterben? Unerhört! Ich verstehe diese Verbitterung, aber sie gefällt mir nicht”, – dann zuckt man eine Sekunde lang zustimmend zusammen. Findet aber gleich darauf, wie sehr das Gegenteil auch zutrifft. Nämlich jene erfolgreichen Greise, die nach wie vor geizig-geldgeil sind, eitel-ehrgeizig . . .
So scheint der Autorin nicht gelungen, was sie sich tollkühn programmatisch vornahm. Sie wollte in ihren Notizen dem Älterwerden mit der Besonderheit ihrer individuellen Wahrnehmung schriftstellerisch beikommen. Aber es gibt halt leider Grenzen der Individualität. Doch gleichsam hinter dem Rücken ihrer immer wieder fast zwanghaft angestellten Alters-Überlegungen ist Silvia Bovenschen ein schmerzlich schöner Text gelungen über das Leben und Leiden einer Schwerbehinderten. Einer seit Jahrzehnten mit Multipler Sklerose Geschlagenen. Was eine solche wahrlich tapfer-unsentimentale Denkerin übers Altwerden mitzuteilen hat, kann zwar kaum repräsentativ sein für die Erfahrungen, wie sie eine Frau oder ein Mann hinzunehmen haben, welche die ersten 50 Jahre ihres Lebens gesund sein durften und dann den Kränkungen des Alt-Werdens ausgesetzt werden.
Wie jedoch Silvia Bovenschen in ihren Beobachtungen, Reflexionen, ruhig erwogenen Aphorismen über menschliche Existenz in der Gewalt heftiger körperlicher Behinderung reflektiert, das hat manchmal einen erschütternden Sog. Sie bringt scheinbar Simples lakonisch auf den Punkt. Wie ungeschickt diejenigen (in der neidvollen Perspektive einer Behinderten) gehen – die nicht gelähmt sind. Warum sie das Fernsehen als kaum wahrgenommene Hintergrundskulisse braucht. Weshalb sie den alten Figuren sexuelles Begehren theoretisch zugesteht – aber praktisch eben doch keineswegs dabei sein möchte . . .
Gerade weil sie entspannt, persönlich und berlinisch-souverän formuliert, fallen Stilblüten umso deutlicher und ärgerlicher auf. Ein Heft, „dessen bunte Bildwelt mich aber sofort hochgradig faszinierte”. (Wirklich „hochgradig”?) Beim Erwägen des Nachrufs: „Die Unerhörtheit einer endgültigen Abwesenheit” („Unerhörtheit”?)
Ganz zwingend kann man die nun folgende Kritik nicht begründen. „Das Leben selbst, das Altwerden ist die Kränkung, und daran ist vorläufig, trotz Gentechnologie, nichts zu rütteln.” Assoziiert man nicht beim „Rütteln” etwas Handfestes – was in derart spekulatives Umfeld kaum passt? Darüber wäre vielleicht zu streiten. Dass die liebenswerte Silvia Bovenschen jedoch offenbar nicht von den richtigen Freunden umgeben ist, scheint unstrittig, wenn sie beklagt: „Kaum noch einer weiß, wer Adele Sandrock war.”
Silvia Bovenschen
Älter werden
Notizen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 144 Seiten, 17,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.01.2007Vom Altern
Silvia Bovenschen und Ingo Schulze im Gespräch
In ihrem Buch "Älter werden" erinnert sich Silvia Bovenschen an einen überaus friedfertigen Onkel, der nur selten lachte: "Vielleicht war das zahnfreilegende Lachen für ihn schon zu nahe an Angriff und Aggression." Dass es auch anderes Lachen gibt, freundliches, unaggressives, wurde am Dienstagabend in der Berliner Akademie der Künste deutlich. Zum ersten Mal las die Autorin, der soeben der Curtius-Preis für Essayistik zugesprochen wurde, vor größerem Publikum aus ihrem Bestseller. Immer wieder brandeten im Saal zustimmender Zwischenapplaus und ein Gelächter auf, das nicht die Zähne zeigt. Verärgert waren allein jene, die draußenbleiben mussten: "Restlos ausverkauft!"
Liegt "Älter werden" im aktuellen Trend der Bücher über das Alter? Älter, so bemerkte Ingo Schulze, der den Abend moderierte, werde man schließlich vom ersten Tag des Lebens an. Mindestens ebenso viel wie von den zunehmenden Einschränkungen des Alters ist bei Silvia Bovenschen von Kindheits- und Jugenderinnerungen die Rede. Anders als etwa "Haus der Schildkröten", Annette Pehnts jüngst erschienener Altersheimroman, der schonungslos vom Gedächtnis- und Lebensschwund im Greisenalltag zu berichten weiß, ist "Älter werden" ein beinahe heiteres, anekdotenfreudiges Werk über die Zeitspuren im Leben einer Sechzigjährigen, ein locker gefügtes Memoirenbuch. Weniger um die Auseinandersetzung mit der letzten Phase des Lebens geht es als um die Änderung von Wahrnehmung und Erfahrung im Lauf der Jahrzehnte. "Älter werden" ist deshalb ein Buch gerade für die mittlere Generation, die mit dem Blick auf veränderte Präferenzen und erste Furchen, Falten und Malaisen ihr unwiderrufliches In-der-Zeit-Sein feststellt.
Ingo Schulze rekapitulierte den Weg Silvia Bovenschens, der mit einer Pionierarbeit der feministischen Literaturwissenschaft begonnen hatte. "Die imaginierte Weiblichkeit", erschienen 1979, sicherte ihr eine Anstellung als Dozentin; später neigte sie mehr zum Essayistischen, besonders eindrucksvoll im Band "Über-Empfindlichkeit", wo sie diversen "Spielformen der Idiosynkrasie" nachspürte. Souveräne Vertrautheit mit den Diskursen verbindet sich hier mit der subtilen Beschreibung von Alltagserfahrung. Und ein wenig Dialektik der Aufklärung rumort immer im Hintergrund.
Auch "Älter werden" war zunächst als runder Essay geplant. Nach einigen scheiternden Anläufen gab Bovenschen jedoch den "Anspruch allgemeiner Gültigkeit" auf und überließ sich ohne Begriffsnetze und akademische Kategorien der Beschreibung eigener Erfahrung. Vielleicht darf ihr Werk gerade deshalb besonderen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Anfangs allerdings hatte ihr das subjektive Schreiben geradezu Angst gemacht: "Das kann ja peinlich werden."
Entstanden ist indes ein besonders unangestrengt wirkendes Buch. Dass der seit jungen Jahren an multipler Sklerose erkrankten Autorin Leiden vertraut sind, wird allerdings nicht nur in manchen Passagen deutlich, in denen etwa von den allmonatlichen Krankenhausaufenthalten die Rede ist - auch an diesem Abend stand wie ein Menetekel der Rollstuhl in der Nähe der Bühne. Es ist ein schweres Leben, über das Bovenschen in "Älter werden" den Anschein der Leichtigkeit breitet. Glücksmöglichkeiten unter den Bedingungen der Einschränkung werden vermessen; Freundschaft ist ein Leitmotiv.
Wie das Buch, so verband auch der Auftritt Haltung, Eleganz und Lässigkeit. Die geistreiche Plauderei mit Ingo Schulze machte deutlich, wie sehr sich die Autorin in der offenen, beiläufigen Form des neuen Buches gefunden hat. Am Ende befragte Schulze sie über Berlin, wo die langjährige Frankfurterin seit einem Jahrzehnt lebt. Ihre Stadt-Erfahrung sei begrenzt, meinte sie, da sie nur mit fremder Hilfe das Haus verlassen und sich die Topographie kaum selbst erschließen könne. Immerhin erscheine ihr Berlin als Stadt der Grenzen, denn immer, wenn sie einen Taxifahrer unterwegs frage, wo man sich denn gerade befinde, antworte der zuverlässig mit dem Hinweis auf irgendeine Bezirksgrenze. Man lebe hier eben nicht in der Stadt, sondern in einem Stadtteil. In ihrem Buch hat Silvia Bovenschen mehr als eine geistige Bezirksgrenze souverän aufgehoben.
WOLFGANG SCHNEIDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Silvia Bovenschen und Ingo Schulze im Gespräch
In ihrem Buch "Älter werden" erinnert sich Silvia Bovenschen an einen überaus friedfertigen Onkel, der nur selten lachte: "Vielleicht war das zahnfreilegende Lachen für ihn schon zu nahe an Angriff und Aggression." Dass es auch anderes Lachen gibt, freundliches, unaggressives, wurde am Dienstagabend in der Berliner Akademie der Künste deutlich. Zum ersten Mal las die Autorin, der soeben der Curtius-Preis für Essayistik zugesprochen wurde, vor größerem Publikum aus ihrem Bestseller. Immer wieder brandeten im Saal zustimmender Zwischenapplaus und ein Gelächter auf, das nicht die Zähne zeigt. Verärgert waren allein jene, die draußenbleiben mussten: "Restlos ausverkauft!"
Liegt "Älter werden" im aktuellen Trend der Bücher über das Alter? Älter, so bemerkte Ingo Schulze, der den Abend moderierte, werde man schließlich vom ersten Tag des Lebens an. Mindestens ebenso viel wie von den zunehmenden Einschränkungen des Alters ist bei Silvia Bovenschen von Kindheits- und Jugenderinnerungen die Rede. Anders als etwa "Haus der Schildkröten", Annette Pehnts jüngst erschienener Altersheimroman, der schonungslos vom Gedächtnis- und Lebensschwund im Greisenalltag zu berichten weiß, ist "Älter werden" ein beinahe heiteres, anekdotenfreudiges Werk über die Zeitspuren im Leben einer Sechzigjährigen, ein locker gefügtes Memoirenbuch. Weniger um die Auseinandersetzung mit der letzten Phase des Lebens geht es als um die Änderung von Wahrnehmung und Erfahrung im Lauf der Jahrzehnte. "Älter werden" ist deshalb ein Buch gerade für die mittlere Generation, die mit dem Blick auf veränderte Präferenzen und erste Furchen, Falten und Malaisen ihr unwiderrufliches In-der-Zeit-Sein feststellt.
Ingo Schulze rekapitulierte den Weg Silvia Bovenschens, der mit einer Pionierarbeit der feministischen Literaturwissenschaft begonnen hatte. "Die imaginierte Weiblichkeit", erschienen 1979, sicherte ihr eine Anstellung als Dozentin; später neigte sie mehr zum Essayistischen, besonders eindrucksvoll im Band "Über-Empfindlichkeit", wo sie diversen "Spielformen der Idiosynkrasie" nachspürte. Souveräne Vertrautheit mit den Diskursen verbindet sich hier mit der subtilen Beschreibung von Alltagserfahrung. Und ein wenig Dialektik der Aufklärung rumort immer im Hintergrund.
Auch "Älter werden" war zunächst als runder Essay geplant. Nach einigen scheiternden Anläufen gab Bovenschen jedoch den "Anspruch allgemeiner Gültigkeit" auf und überließ sich ohne Begriffsnetze und akademische Kategorien der Beschreibung eigener Erfahrung. Vielleicht darf ihr Werk gerade deshalb besonderen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Anfangs allerdings hatte ihr das subjektive Schreiben geradezu Angst gemacht: "Das kann ja peinlich werden."
Entstanden ist indes ein besonders unangestrengt wirkendes Buch. Dass der seit jungen Jahren an multipler Sklerose erkrankten Autorin Leiden vertraut sind, wird allerdings nicht nur in manchen Passagen deutlich, in denen etwa von den allmonatlichen Krankenhausaufenthalten die Rede ist - auch an diesem Abend stand wie ein Menetekel der Rollstuhl in der Nähe der Bühne. Es ist ein schweres Leben, über das Bovenschen in "Älter werden" den Anschein der Leichtigkeit breitet. Glücksmöglichkeiten unter den Bedingungen der Einschränkung werden vermessen; Freundschaft ist ein Leitmotiv.
Wie das Buch, so verband auch der Auftritt Haltung, Eleganz und Lässigkeit. Die geistreiche Plauderei mit Ingo Schulze machte deutlich, wie sehr sich die Autorin in der offenen, beiläufigen Form des neuen Buches gefunden hat. Am Ende befragte Schulze sie über Berlin, wo die langjährige Frankfurterin seit einem Jahrzehnt lebt. Ihre Stadt-Erfahrung sei begrenzt, meinte sie, da sie nur mit fremder Hilfe das Haus verlassen und sich die Topographie kaum selbst erschließen könne. Immerhin erscheine ihr Berlin als Stadt der Grenzen, denn immer, wenn sie einen Taxifahrer unterwegs frage, wo man sich denn gerade befinde, antworte der zuverlässig mit dem Hinweis auf irgendeine Bezirksgrenze. Man lebe hier eben nicht in der Stadt, sondern in einem Stadtteil. In ihrem Buch hat Silvia Bovenschen mehr als eine geistige Bezirksgrenze souverän aufgehoben.
WOLFGANG SCHNEIDER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr eingenommen zeigt sich die Rezensentin Felicitas von Lovenberg von Silvia Bovenschens Überlegungen zum Älterwerden. Voller gedanklicher und sprachlicher Eleganz - und vor allem ohne jegliche Alterslarmoyanz - horcht sie prüfend die Begriffe des Älterwerdens ab und spricht furcht- und schnörkellos heikle Themen an: etwa Sexualität im Alter ("Runzelsex") oder (wenn auch sparsam) ihre Erkrankung an Multipler Sklerose. Sehr gefallen hat der Rezensentin, dass die Autorin Leben und Zeit nicht aus einer quasi jenseitigen, weil von Trauer und dem Gedanken an Versäumnisse behafteten Perspektive betrachtet, sondern dass gerade das Bewusstsein der Vergänglichkeit sie mitten ins Leben und der Freude daran führt. Dieses Buch muss man gerade deswegen "weise" nennen, weil es das nicht sein will, so das lobende Fazit der Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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