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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Im Museum gewesen, geweint: Roger Fayet denkt darüber nach, warum uns bestimmte Kunstwerke rühren
Durch Kunst gerührt zu sein ist nicht schwer, aber es ist schwer, darüber zu schreiben. Allzu leicht gerät man in die Gefilde des Kitsches oder notiert, statt die Eigenart der Werke zu beschreiben, nur Impressionen aus der eigenen Gefühlswelt. Wenig hilfreich ist aber auch der entgegengesetzte Impuls - der Versuch, dem Phänomen der Rührung durch äußerste Distanz und begrifflich-analytische Strenge beizukommen. Vielleicht waren es diese Herausforderungen, die zur vergleichsweise geringen Beachtung dieses Gefühls im klassischen ästhetischen Diskurs geführt haben. Während die Empfindung des Erhabenen zu den festen Größen ästhetischer Reflexion gehören, muss man die prägnanten Beiträge zur Frage der Rührung mühsam zusammensuchen.
Dieser lohnenswerten Aufgabe hat sich nun der Schweizer Kunsthistoriker Roger Fayet gewidmet. "Erkundungen auf dem Gebiet eines wenig angesehenen Gefühls" notiert er im Untertitel seiner Studie und spielt dabei auf den zwiespältigen Ruf seines Gegenstands an. Gerade wenn sie im Kontext von Kunst auftrete, so Fayet, werde Rührung als "Anzeichen für fehlende Tiefe gesehen - sei es des Kunstwerks oder derer, die es betrachten". Vor diesem Hintergrund ist Fayets Studie als Verteidigung der Rührung gegen ein ironisch-abgeklärtes Weltverständnis zu verstehen, das Emotionalität nur in reflexiv-gefilterter Form zulassen will.
Fayet holt historisch weit aus, und wie er einleitend selbst bemerkt, ist seiner Studie die Herkunft aus einer Überblicksvorlesung an der Universität Zürich noch deutlich anzumerken. Vieles wird referiert, Vergessenes in Erinnerung gerufen. Dabei bestätigt sich im Feld der Kunst, was Ute Frevert bereits in ihren geschichtswissenschaftlichen Studien gezeigt hat: Gefühle erleben historische Konjunkturen und werden zu verschiedenen Zeiten auch unterschiedlich thematisiert. Fayets Buch distanziert sich insofern wohlwollend von Versuchen, Gefühle einzig aus den vermeintlich überzeitlichen Gesetzen der Biologie ableiten zu wollen.
Der Autor verfolgt seinen Gegenstand von Aristoteles und der mittelalterlichen Lehre der Passionen über die Ästhetik der Aufklärung bis zur Kritik des Kitsches bei Norbert Elias, Clement Greenberg und Theodor W. Adorno. Und er macht sich auch dort auf die Suche nach Anzeichen der Rührung, wo die Autoren selbst den Begriff nicht verwendet haben, etwa in der hellenistischen Philosophie. Dabei verliert er seinen Gegenstand mitunter aus den Augen. Es ist jedoch die große Stärke des Buches, dass Fayet sich nicht auf begriffsgeschichtliche Exkurse beschränkt, sondern seine Überlegungen aus konkreten Fallstudien heraus entwickelt.
Eine davon erzählt vom Auftritt der Sängerin Patti Smith während der Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 2016. Der Preisträger Bob Dylan war selbst nicht erschienen, hatte sich aber durch Patti Smith vertreten lassen, die Dylans "A Hard Rain's a-Gonna fall" vortrug. Nach einigen Zeilen geriet die Sängerin ins Stocken, fand dann kurz zum Text zurück, schließlich musste sie aber abbrechen. An das Orchester gewandt, richtete Smith folgende Sätze: "Sorry, ich entschuldige mich. Ich bin so nervös. Können wir diesen Teil noch einmal von vorne beginnen?" Es folgte ein großer Applaus, zahlreiche Zuhörer hatten Tränen in den Augen: Man war gerührt.
Indem er die filmische Aufzeichnung dieser Aufführung Szene für Szene analysiert, gelingt es Fayet auf eindrückliche Weise, einige Grundmuster der Rührung freizulegen. Es waren die Offenheit der Sängerin, die Ehrlichkeit und Einfachheit ihrer Sätze, die das Gefühl der Rührung erzeugten, nicht zuletzt aber auch das unerwartete Aufscheinen einer menschlichen Regung - ein "Sichbehaupten von Menschlichkeit" in einem Rahmen, der ganz auf die Einhaltung institutionell festgeschriebener Regeln ausgerichtet war.
Zahlreiche seiner Beispiele findet Fayet in der bildenden Kunst, einem Gemälde des Schweizers Albert Anker beispielsweise, das den zweijährigen Sohn des Künstlers auf dem Totenbett zeigt. Nicht nur der Anblick des früh verstorbenen Kindes erweckt die Anteilnahme des Betrachters, sondern auch die Trauer des Vaters, der in die dunkle, noch feuchte Farbe die Worte ritzte: "der liebe, liebe Ruedi". Ein eigenes Kapitel widmet Fayet Marina Abramovics Performance "The Artist Is Present" im Museum of Modern Art 2010, bei der die Künstlerin die Museumsbesucher aufforderte, auf einem Stuhl Platz zu nehmen und ihr minutenlang in die Augen zu schauen. Nicht wenige der Teilnehmer wurden während des ungewohnt intimen Blickaustauschs von ihren Gefühlen überwältigt und begannen zu weinen. Offenbar war es Abramovic gelungen, ihr Gesicht zur Projektionsfläche für die Innenwelt ihrer Gegenüber zu machen.
Ist solches Gerührt-Sein zu etwas gut? Fayet erinnert auch an jene Stimmen, die das Gefühl der Rührung nicht als Selbstzweck gelten lassen wollten. So unterscheidet beispielsweise Schiller zwischen ethisch fundierten und folgenlosen Arten der Rührung. Wenn der Geschmack durch Kunst "nur angenehm gekitzelt, nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt" werde, so Schiller, sei ihre Wirkung bloße Gefühlsduselei. Vorbildlich hingegen ist die Rührung durch Kunst, die im Anblick des Leidens anderer zur Tätigkeit auffordert.
Dass der Kunsthistoriker Fayet das weite Feld der Musik nur in einigen wenigen Beispielen berührt, ist gut nachzuvollziehen. Schade aber ist, dass er nicht auch den Film in seine Überlegungen einbezogen hat. "Im Kino gewesen. Geweint", notiert Franz Kafka im November 1913 in sein Tagebuch. Das Weinen im Kino wäre einer eigenen Betrachtung wert gewesen, ebenso die Frage, inwieweit Rührung auch durch künstlerische Form bestimmt wird. Rühren Gemälde und Filme auf andere Weise als literarische Texte? Hier lässt sich weiterdenken. Der Anfang einer "Ästhetik der Rührung" ist mit dieser beeindruckenden Studie gemacht. PETER GEIMER
Roger Fayet: "Ästhetik der Rührung". Erkundungen auf dem Gebiet eines wenig angesehenen Gefühls.
Schwabe Verlag, Basel 2023. 400 S., Abb., geb., 48,- Euro.
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