Die unglaubliche Entdeckung, dass die eigene Mutter eine Spionin war Nach dem Tod der Mutter erhält András Forgách Akten vom Geheimdienst, die sein Leben auf den Kopf stellen. Er hing zärtlich an seiner Mutter und hatte ihre Lebensgeschichte rekonstruiert: eine ungarische Jüdin, die aus Tel Aviv nach Budapest zurückkehrte, weil sie Lenin über alles liebte und dem Werben eines Journalisten erlag. Sie lebten in London, Paris, in Budapest. Stets war sie der Mittelpunkt des turbulenten Freundeskreises, der Anker der Familie. Und doch hatte sie alle, sogar die Söhne, bespitzelt und verraten. So steht es in den Akten. Wohin jetzt mit der Liebe, wo nichts im Leben mehr stimmt? Verrat ist die Signatur des letzten Jahrhunderts, und selten wurde von ihr mit so viel Empathie und psychologischer Klugheit, mit Witz und Charme erzählt - die Geschichte einer unmöglichen Liebe und eines verlorenen Lebens.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensentin Julia Schröder wünscht dem Buch von Andras Forgach viele Leser. Das Leben- und Zeitpanorama, das der Autor anhand seiner Familiengeschichte zeichnet, findet sie beeindruckend, schon, weil es dem Autor gelingt, die Geschichte seiner Eltern, die aus Palästina nach Ungarn kamen, für den ungarischen Geheimdienst spitzelten und den eigenen Künstler-Sohn als IM empfahlen, mit "radikaler Zuwendung" und großer Komik zu erzählen. Die eingeflochtenen trockenen Zitate aus den Geheimdienstakten liest Schröder als konterkarierenden Kommentar zu Forgachs "grimmig-komischer" Erzählung über Verrat und Heimat. In der insgesamt respektablen Übersetzung von Terezia Mora entdeckt die Rezensentin einige "grobe" Flüchtigkeitsfehler.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.10.2019Verbesserte Ausgabe
Der ungarische Schriftsteller András Forgách erfuhr spät, dass ihn seine Mutter für den Geheimdienst ausspioniert hatte
Das Wort „Verrat“ hat etwas Altmodisches, als gehöre es ziemlich genau zwischen Shakespeare und Downtown Abbey. Politisch wird es noch immer gern benutzt. Boris Johnson, der bei Shakespeare ein ordentlich besetzter Narr wäre, meint heute: Ein Verbleib in der EU wäre ein Verrat am Volkswillen. Verrat, das schöne Wort, wirkt oft im Ton etwas zu hochgegriffen.
Es sei denn, Privates und Politik kollidieren radikal, wie in totalitären Staaten, die im Dienste des Machterhalts Beziehungen zwischen Menschen zerrütten. Berühmte Schriftsteller haben das erlebt: Herta Müller wurde von ihrer damals besten Freundin bei der rumänischen Securitate denunziert, Thomas Brasch von seinem eigenen Vater bei der Polizei der DDR. Auch Péter Esterházys Vater spionierte. Seinem über neunhundert Seiten starken Vater-Denkmal „Harmonia Caelestis“ schickte Esterházy deshalb die „Verbesserte Ausgabe“ mit über dreihundert Seiten Revision hinterher.
András Forgách berichtet in seinem im Original 2015 erschienenen, in siebzehn Sprachen übersetzten Buch „Akte geschlossen“, wie beide verstorbene Elternteile für den ungarischen Staat gespitzelt haben. Der Vater, ein Journalist, hat das Glück, dass seine dreibändige Akte verschwunden ist, er nur über Querverweise zu fassen ist. Darum heißt das Buch im Untertitel wohl auch „Meine Mutter, die Spionin“. Von Forgách einst als Schönheit verehrt, hat sie sein Vertrauen missbraucht, um seine Freunde zu verraten. So ließ sie Spitzel in seine Wohnung, als gerade György Petri, ein bedeutender Lyriker und wichtiger Underground-Oppositioneller dort lebte. Der Mutter wurde gesagt, es gehe um das Fenster der gegenüberliegenden Wohnung. Und doch ließ sie die Leute ohne Wissen ihres Sohnes herein.
Dass mit Esterházy und Forgách zwei Ungarn derselben Generation ein verwandtes Schicksal trifft, ist erstaunlich. Galt doch Ungarn als „weniger schlimm“ als etwa die Sowjetunion. Der Geheimdienst AVH war 1957 aufgelöst worden. Vielleicht dauerte es auch deshalb Jahrzehnte, bis Esterházy wie Forgách nach der Wende auf die Akten stießen. Sie konnten sich, was passiert war, schlicht nicht vorstellen. In Forgáchs Fall arbeiteten die Eltern der „Nachrichtenbeschaffungsgruppe der Hauptabteilung für politische Ermittlung im Innenministerium“ zu.
Pikanterweise hat auch Forgách, in Ungarn als Theater- und Filmautor, sowie als Übersetzer bekannt, mit „Zehuze“ (2007) vor der Entdeckung der verräterischen Dokumente einen die Familiengeschichte feiernden, noch unübersetzten (Brief-)Roman geschrieben. Wie reagieren? Seine „Verbesserte Ausgabe“ musste wegen der Unterschiede in der Geschichte anders aussehen. Forgách schreibt über seine Mutter: „Mit ihr wurde nicht so umgegangen wie mit anderen, die man einschüchterte, zusammenschlug oder erpresste und erst später, an öffentlichen Orten, in Cafés, oder wenn man sie in K- oder T-Wohnungen führte, schrittweise abrichtete und aufrieb, step by step, wie der Autor der Verbesserten Ausgabe das so wunderbar und unerträglich beschrieb.“
Forgách erzählt den Fall seiner Eltern in drei deutlich verschiedenen Teilen. Der erste, in dem Forgách auf Aktenbasis weiterführende Geschichten erfindet und die Akten in Anmerkungen ergänzend zitiert, spielt brillant mit den Realien. Den Auftakt macht ein Treffen der Mutter mit drei Herren. Zu ihrem 60. Geburtstag im Jahr 1983 werden Bruria Forgách im Budapester Café Angelika ein Blumenstrauß und eine Häkeldecke überreicht. Bei dieser Gelegenheit macht ihr alter Führungsoffizier sie mit dem neuen bekannt. Alles in der Akte dokumentiert. Ein Kaffeekränzchen entwickelt sich. Wobei Frau Forgách Earl Grey bestellt, in Ungarn damals luxuriös.
Der zweite Teil des Buchs ist der kürzeste, eine Art Duett balladesker Gedichte, die abwechselnd von Mutter- und Vater-Situationen erzählen, die Forgách verfolgen, weil seine Entdeckungen vertraute Erinnerungen unterwandern und neu beleuchten. Etwa die Szene, in der die Mutter in Griechenland hinter der Grenze Dollars aus der Einheits-Strumpfhose holt. Jetzt weiß Forgách, woher das Geld kam. Klug, dass er auch in diesem Teil auf Pathos verzichtet, eher „Straßengedichte“ schreibt.
Doch warum verstand sich die Mutter mit den Spitzeln, warum wurde sie selbst einer, Hauptgebiet Internationaler Zionismus? Sie war keine Antisemitin. Sie war Jüdin, 1923 in Palästina geboren, als Tochter von Mordechai Avi-Shaul, einem charismatischen links-pazifistischen Schriftsteller und Übersetzer. Er übertrug unter anderen Thomas Mann, Bert Brecht und Joseph Conrad.
Schon Avi-Shaul, der 1921 aus Ungarn nach Palästina emigriert war, konnte mit dem Zionismus wenig anfangen. Er hielt den Zionismus für eine Spielart des Nationalismus. Wie der Vater wandte sich Tochter Bruria früh mit dem Schicksal der aus ihren Dörfern vertriebenen palästinensischen Araber in Israel zu. Darüber wurde sie zur entschiedenen Kommunistin und kehrte nach Ungarn zurück. Noch nach der Niederschlagung der Revolution in Ungarn 1956 blieb sie Stalin ergeben. Was umso überraschender ist, als sie mit ihrer Familie und den vier Kindern in den Sechzigerjahren einen menschenfreundlichen, bohèmehaften Lebensstil pflegte, im Chaos ihrer Wohnung gern Fremde aufnahm, für alle immer da war. Die gute Mutter des kulturellen Undergrounds stellt sich am Ende als seine Verräterin heraus.
Brurias Ehemann gibt eine noch unverständlicher agierende, beinahe tragische Figur ab. Während die Familie Avi-Shaul dank glücklicher Umstände den Holocaust geschlossen überlebte, war Marcell Forgách, vor der Namensänderung Friedmann, als Einziger in seiner Familie schwer traumatisiert.
Marcell Forgách liebte seine Frau und akzeptierte, dass sie ihm keine Liebe entgegenbrachte, weil sie einen verheirateten englischen Besatzungsoffizier anhimmelte, der ihr über Jahrzehnte Briefe schrieb. Auch in der Familie Avi-Shaul wurde Marcell nie für voll genommen. Zeitlebens muss ihn eine existenzielle Einsamkeit umgeben haben, der er in der Affirmation des Stalinismus zu entkommen suchte. Er stellte sich 1956 gegen die „Konterrevolution“, wurde 1960 mit dem Londoner Außenposten seiner Zeitung belohnt, unterschrieb die Einwilligung, nachrichtendienstlich tätig zu werden.
Von Kollegen, die „eigentlich“ nach London hätten gehen sollen, per übler Nachrede verfolgt (gegen die er sich mit denunziatorischen Beschwerden wehrte), entwickelte der einst verfolgte Jude einen Verfolgungswahn, der ihn in die Schizophrenie und eine Nervenheilanstalt führte. Die Mutter blieb für die Geschwister der anscheinend unkompliziert-natürliche Gegenpart.
Im dritten Teil des Buchs, der am deutlichsten journalistisch und autobiografisch die Erschütterung über die Entdeckungen nacherleben lässt, beschreibt Forgách unter anderem, wie er den Vater nach dem Tod der Mutter in der Anstalt besucht und wäscht, weil die Pfleger keine Zeit dafür haben. In verschiedensten Tonlagen geschrieben, mal wütend, mal traurig anklagend, mal sarkastisch scherzend, dann nüchtern rapportierend, ist Forgáchs „Akte geschlossen“, von Terézia Mora stilsicher übertragen, ein einzigartiges Buch, das Schnittstellen zwischen Privatem und Politischem offenlegt und dem formale Geschlossenheit einerlei ist.
Dem Guardian hat Forgách erzählt, seine jüngere Schwester, eine Künstlerin, sehe das Buch als Verrat an der Mutter. Für ihn hingegen sei es wichtig, an die Zeit der Verfolgung zu erinnern, sie zu diskutieren. Gerade in einer Zeit, in der Regierungschef Orbán die Meinungsfreiheit täglich weiter einschränkt.
HANS-PETER KUNISCH
András Forgách: Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 350 Seiten, 24 Euro.
Das Buch über die Mutter
war schon geschrieben,
dann kam die Enthüllung
András Forgách, Dramatiker und Filmemacher. Seine Mutter war Jüdin, 1923 in Palästina geboren, Tochter eines linken Schriftstellers.
Foto: Andras Eberling / S. Fischer
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Der ungarische Schriftsteller András Forgách erfuhr spät, dass ihn seine Mutter für den Geheimdienst ausspioniert hatte
Das Wort „Verrat“ hat etwas Altmodisches, als gehöre es ziemlich genau zwischen Shakespeare und Downtown Abbey. Politisch wird es noch immer gern benutzt. Boris Johnson, der bei Shakespeare ein ordentlich besetzter Narr wäre, meint heute: Ein Verbleib in der EU wäre ein Verrat am Volkswillen. Verrat, das schöne Wort, wirkt oft im Ton etwas zu hochgegriffen.
Es sei denn, Privates und Politik kollidieren radikal, wie in totalitären Staaten, die im Dienste des Machterhalts Beziehungen zwischen Menschen zerrütten. Berühmte Schriftsteller haben das erlebt: Herta Müller wurde von ihrer damals besten Freundin bei der rumänischen Securitate denunziert, Thomas Brasch von seinem eigenen Vater bei der Polizei der DDR. Auch Péter Esterházys Vater spionierte. Seinem über neunhundert Seiten starken Vater-Denkmal „Harmonia Caelestis“ schickte Esterházy deshalb die „Verbesserte Ausgabe“ mit über dreihundert Seiten Revision hinterher.
András Forgách berichtet in seinem im Original 2015 erschienenen, in siebzehn Sprachen übersetzten Buch „Akte geschlossen“, wie beide verstorbene Elternteile für den ungarischen Staat gespitzelt haben. Der Vater, ein Journalist, hat das Glück, dass seine dreibändige Akte verschwunden ist, er nur über Querverweise zu fassen ist. Darum heißt das Buch im Untertitel wohl auch „Meine Mutter, die Spionin“. Von Forgách einst als Schönheit verehrt, hat sie sein Vertrauen missbraucht, um seine Freunde zu verraten. So ließ sie Spitzel in seine Wohnung, als gerade György Petri, ein bedeutender Lyriker und wichtiger Underground-Oppositioneller dort lebte. Der Mutter wurde gesagt, es gehe um das Fenster der gegenüberliegenden Wohnung. Und doch ließ sie die Leute ohne Wissen ihres Sohnes herein.
Dass mit Esterházy und Forgách zwei Ungarn derselben Generation ein verwandtes Schicksal trifft, ist erstaunlich. Galt doch Ungarn als „weniger schlimm“ als etwa die Sowjetunion. Der Geheimdienst AVH war 1957 aufgelöst worden. Vielleicht dauerte es auch deshalb Jahrzehnte, bis Esterházy wie Forgách nach der Wende auf die Akten stießen. Sie konnten sich, was passiert war, schlicht nicht vorstellen. In Forgáchs Fall arbeiteten die Eltern der „Nachrichtenbeschaffungsgruppe der Hauptabteilung für politische Ermittlung im Innenministerium“ zu.
Pikanterweise hat auch Forgách, in Ungarn als Theater- und Filmautor, sowie als Übersetzer bekannt, mit „Zehuze“ (2007) vor der Entdeckung der verräterischen Dokumente einen die Familiengeschichte feiernden, noch unübersetzten (Brief-)Roman geschrieben. Wie reagieren? Seine „Verbesserte Ausgabe“ musste wegen der Unterschiede in der Geschichte anders aussehen. Forgách schreibt über seine Mutter: „Mit ihr wurde nicht so umgegangen wie mit anderen, die man einschüchterte, zusammenschlug oder erpresste und erst später, an öffentlichen Orten, in Cafés, oder wenn man sie in K- oder T-Wohnungen führte, schrittweise abrichtete und aufrieb, step by step, wie der Autor der Verbesserten Ausgabe das so wunderbar und unerträglich beschrieb.“
Forgách erzählt den Fall seiner Eltern in drei deutlich verschiedenen Teilen. Der erste, in dem Forgách auf Aktenbasis weiterführende Geschichten erfindet und die Akten in Anmerkungen ergänzend zitiert, spielt brillant mit den Realien. Den Auftakt macht ein Treffen der Mutter mit drei Herren. Zu ihrem 60. Geburtstag im Jahr 1983 werden Bruria Forgách im Budapester Café Angelika ein Blumenstrauß und eine Häkeldecke überreicht. Bei dieser Gelegenheit macht ihr alter Führungsoffizier sie mit dem neuen bekannt. Alles in der Akte dokumentiert. Ein Kaffeekränzchen entwickelt sich. Wobei Frau Forgách Earl Grey bestellt, in Ungarn damals luxuriös.
Der zweite Teil des Buchs ist der kürzeste, eine Art Duett balladesker Gedichte, die abwechselnd von Mutter- und Vater-Situationen erzählen, die Forgách verfolgen, weil seine Entdeckungen vertraute Erinnerungen unterwandern und neu beleuchten. Etwa die Szene, in der die Mutter in Griechenland hinter der Grenze Dollars aus der Einheits-Strumpfhose holt. Jetzt weiß Forgách, woher das Geld kam. Klug, dass er auch in diesem Teil auf Pathos verzichtet, eher „Straßengedichte“ schreibt.
Doch warum verstand sich die Mutter mit den Spitzeln, warum wurde sie selbst einer, Hauptgebiet Internationaler Zionismus? Sie war keine Antisemitin. Sie war Jüdin, 1923 in Palästina geboren, als Tochter von Mordechai Avi-Shaul, einem charismatischen links-pazifistischen Schriftsteller und Übersetzer. Er übertrug unter anderen Thomas Mann, Bert Brecht und Joseph Conrad.
Schon Avi-Shaul, der 1921 aus Ungarn nach Palästina emigriert war, konnte mit dem Zionismus wenig anfangen. Er hielt den Zionismus für eine Spielart des Nationalismus. Wie der Vater wandte sich Tochter Bruria früh mit dem Schicksal der aus ihren Dörfern vertriebenen palästinensischen Araber in Israel zu. Darüber wurde sie zur entschiedenen Kommunistin und kehrte nach Ungarn zurück. Noch nach der Niederschlagung der Revolution in Ungarn 1956 blieb sie Stalin ergeben. Was umso überraschender ist, als sie mit ihrer Familie und den vier Kindern in den Sechzigerjahren einen menschenfreundlichen, bohèmehaften Lebensstil pflegte, im Chaos ihrer Wohnung gern Fremde aufnahm, für alle immer da war. Die gute Mutter des kulturellen Undergrounds stellt sich am Ende als seine Verräterin heraus.
Brurias Ehemann gibt eine noch unverständlicher agierende, beinahe tragische Figur ab. Während die Familie Avi-Shaul dank glücklicher Umstände den Holocaust geschlossen überlebte, war Marcell Forgách, vor der Namensänderung Friedmann, als Einziger in seiner Familie schwer traumatisiert.
Marcell Forgách liebte seine Frau und akzeptierte, dass sie ihm keine Liebe entgegenbrachte, weil sie einen verheirateten englischen Besatzungsoffizier anhimmelte, der ihr über Jahrzehnte Briefe schrieb. Auch in der Familie Avi-Shaul wurde Marcell nie für voll genommen. Zeitlebens muss ihn eine existenzielle Einsamkeit umgeben haben, der er in der Affirmation des Stalinismus zu entkommen suchte. Er stellte sich 1956 gegen die „Konterrevolution“, wurde 1960 mit dem Londoner Außenposten seiner Zeitung belohnt, unterschrieb die Einwilligung, nachrichtendienstlich tätig zu werden.
Von Kollegen, die „eigentlich“ nach London hätten gehen sollen, per übler Nachrede verfolgt (gegen die er sich mit denunziatorischen Beschwerden wehrte), entwickelte der einst verfolgte Jude einen Verfolgungswahn, der ihn in die Schizophrenie und eine Nervenheilanstalt führte. Die Mutter blieb für die Geschwister der anscheinend unkompliziert-natürliche Gegenpart.
Im dritten Teil des Buchs, der am deutlichsten journalistisch und autobiografisch die Erschütterung über die Entdeckungen nacherleben lässt, beschreibt Forgách unter anderem, wie er den Vater nach dem Tod der Mutter in der Anstalt besucht und wäscht, weil die Pfleger keine Zeit dafür haben. In verschiedensten Tonlagen geschrieben, mal wütend, mal traurig anklagend, mal sarkastisch scherzend, dann nüchtern rapportierend, ist Forgáchs „Akte geschlossen“, von Terézia Mora stilsicher übertragen, ein einzigartiges Buch, das Schnittstellen zwischen Privatem und Politischem offenlegt und dem formale Geschlossenheit einerlei ist.
Dem Guardian hat Forgách erzählt, seine jüngere Schwester, eine Künstlerin, sehe das Buch als Verrat an der Mutter. Für ihn hingegen sei es wichtig, an die Zeit der Verfolgung zu erinnern, sie zu diskutieren. Gerade in einer Zeit, in der Regierungschef Orbán die Meinungsfreiheit täglich weiter einschränkt.
HANS-PETER KUNISCH
András Forgách: Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 350 Seiten, 24 Euro.
Das Buch über die Mutter
war schon geschrieben,
dann kam die Enthüllung
András Forgách, Dramatiker und Filmemacher. Seine Mutter war Jüdin, 1923 in Palästina geboren, Tochter eines linken Schriftstellers.
Foto: Andras Eberling / S. Fischer
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In verschiedensten Tonlagen geschrieben, mal wütend, mal traurig anklagend, mal sarkastisch scherzend, dann nüchtern rapportierend, ist Forgáchs 'Akte geschlossen' [...] ein einzigartiges Buch Hans-Peter Kunisch Süddeutsche Zeitung 20191027