Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wimmelbild mit Aktualitätsanspruch: Philip Hoare wandelt auf den Spuren Albrecht Dürers und vermengt
kunsthistorische Betrachtungen mit autobiographischen Exkursen und einem beachtlichen Metapherngestöber.
Von Stefan Trinks
Von Stefan Trinks
Philip Hoares Buch "Albrecht Dürer und der Wal" ist ein Zwitter aus Sachbuch und autobiographischer Erzählung. Wer sich auf dieses Experiment einlässt, erfährt manches über Dürers sieben Monate andauernde Niederlande-Reise 1520 sowie damit verbundene Zeichnungen und Gemälde. Der Autor bewundert, wie bei Dürer genaueste Wahrnehmung, Kunstfertigkeit und Naturphilosophie zusammenfinden - "Neues im Alten", wie er es nennt. All dies gipfelt für ihn in der Suche nach einem Wal während der Reise durch die Niederlande.
Ausführlich wird der Leser zudem aufgeklärt über die Rezeption Dürers durch Spezialisten wie die Kunsthistoriker Erwin Panofsky und Wilhelm Waetzoldt, ja sogar noch über Panofskys Sohn Wolfgang, der mit Robert Oppenheimer beim Bau der Atombombe kooperierte. Weitere Figuren sind Thomas Mann und Familie, insbesondere Erika und Klaus, sowie deren amerikanische Freunde. Viele Figuren werden allerdings nur kurz eingeführt und irrlichtern dann durch den Rest der Erzählung.
Unüberlesbar ist Hoares Begeisterung für Wale, die der Aufhänger des Buches sind: Dürer will unbedingt zu einem angeschwemmten, angeblich 160 Meter messenden Exemplar an die holländische Nordseeküste kommen, es betrachten und zeichnen. Er ist zu spät und das Tier zurück ins Meer gespült. Dafür treten allerhand andere Meeresbewohner und Säuger im Buch auf, tot und lebendig. Dürer hat sie auf der Reise teilweise gegen seine begehrten Grafiken eingetauscht: zwei Papageien, dreizehn Pinsel aus Tümmlerborsten, einen Schädel aus Elfenbein.
Am Ende wird Nürnberg als dürerscher Wirkungsort und Schauplatz für Erlebnisse Hoares eingespielt. Die Monographie gleicht insofern einem Wimmelbild mit allerlei Abschweifungen und ist weder ein kunsthistorisches Sachbuch zu Dürers Werk noch ein naturkundliches zu den größten Säugetieren. Eher liest es sich wie ein historisch stets rückgebundener Bewusstseinsstrom in der Tradition von W. G. Sebalds "Die Ringe des Saturn", der über freie Assoziationsketten von einem Acker hinter Norwich in East Anglia auf die Seidenraupenzucht und Foltermethoden im Alten China gelangte.
Mit seinem Buch "Leviathan oder Der Wal" wurde Hoare bekannt, und der auf die alttestamentliche Gleichsetzung des gefährlichsten Tiers mit dem Wal zurückgehende Titel wird vom Autor genauso ernst genommen wie nun der Stellenwert Dürers. Bei einem Künstler, der vergleichsweise viel Text in Briefen, jedoch kaum Deutungen zu seinen Bildern hinterlassen hat, müssen die meisten Interpretationen Projektionen bleiben, bestenfalls gut abgeleitete Hypothesen. Hoare projiziert sich selbst in den Künstler hinein. Er trägt viele Mutmaßungen unserer Zeit an Dürer heran und nicht nur an ihn: Aus heiterem Himmel wird der in den Niederlanden erfolgreiche Hendrick Goltzius mit seiner verkrüppelten Hand und einer daraus resultierenden besonderen grafischen Technik aufgerufen, um die eigene Handverkrümmung zu spiegeln.
Dass es einen gehörigen autobiographischen Anteil in dem Buch gibt, zeigt bereits der immer wieder eingestreute Hinweis, der Autor gehe erst einmal schwimmen, und das selbst hinter dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg in schlammig braunem Gewässer. In derselben Stadt besucht Hoare auch Dürers Grab und schreibt mit gespielter Entrüstung: "Ich bin den ganzen Weg hierhergekommen, und er ist nicht da." Bekanntlich befinden sich die sterblichen Überreste des Malers nicht mehr unter der Grabplatte.
Etwas konstruiert wirkt, dass der in den ersten Nachkriegstagen von den "Monuments Men" Auden und Stern befragte deutsche Kunsthistoriker und Bewahrer der Dürerschätze Upper-Class-English sprechen und als Erstes die Frage an Stern gerichtet haben soll, ob er Kenneth Clark kenne, einen legendären Kunsthistoriker Englands, was dieser mit der Antwort bejaht, er sei mit ihm zur Schule gegangen und erinnere sich an dessen großen Kopf.
In keinem Kapitel finden sich mehr allegorische Vergleiche und Metaphern als hier. Die Dachgauben des Dürer-Hauses unterhalb der Nürnberger Kaiserburg sind ihm die lange zuvor im Buch beschriebenen "Augen der Meerhyäne", die Schiffe des heiligen Sebald erinnern ihn an die Lastkähne, mit denen die Trümmer des nahe seiner Geburtsstadt gelegenen und bombardierten Bristols nach New York transportiert wurden, um von "Mr. Moses" für den Bau des East River Drive in Manhattan verwendet zu werden, eine Assoziation, die bei dem aus der Hafenstadt Southampton stammenden Autor naheliegen mag, von deutschen Lesern aber nicht unbedingt verstanden werden muss, weil die hiesigen Schuttberge innerstädtisch meist mittels Loren aufgetürmt wurden.
Die beschriebenen Hausruinen Nürnbergs mit ihren weggesprengten Vorderseiten erscheinen dem Autor wie "offene Puppenhäuser", Auden und Stern werden zu "kettenrauchenden Engeln" stilisiert, das Sebald-Grab des Nürnberger Bronzegießers Peter Vischer wird als "gotische Taucherglocke" angesprochen, die über dem mit Gold und Silber überzogenen Sarg mit den Gebeinen des Heiligen schwebe. Weil dessen Schrein Räder hat, um bei der jährlichen Prozession durch Nürnberg geschoben werden zu können, wird er zum "Einkaufswagen auf Abwegen". Dass Sebald einem Blinden ein neues Auge eingesetzt haben soll, wird einigermaßen geschmacklos als Einschrauben einer Glühbirne verspottet, und das den Schrein und das Bronzegrab umhüllende Bauwerk von Sankt Sebald wird als eine einzige "Performance" charakterisiert.
Es werden mithin laufend zeitgenössische Bezüge hergestellt, ausgerechnet bei jenem Heiligen, der Dürer persönlich äußerst wichtig war. Was der Autor insgeheim auch eingesteht, wenn er ausführlich die pragmatische Haltung der Nürnberger Patrizier, der Patrone der Sebalduskirche und vielfachen Auftraggeber Dürers zur Reformation, schildert, die jeglichen Ikonoklasmus ihren kostspieligen Kunststiftungen gegenüber zu vermeiden suchten. Obwohl derartiges Metapherngestöber in seinem scheinbar unerschöpflichen Phantasievorrat einen gewissen Respekt abnötigt, kann es den Leser auch ermüden.
Der breite Bewusstseinsstrom findet im letzten Kapitel zu seiner Quelle zurück: dreitausend Kilometer entfernt von Dürer bei der verehrten amerikanischen Dichterin Marianne Moore und ihrer Sicht auf dessen Rhinozeros, auf Hirsche und Elche, das Walross, die Ochsen und den erstaunlichen Jagdhund mit Messinghalsband, der vom Künstler ebenso aufwendig porträtiert wurde wie die Menschen. Das Buch eignet sich nicht zu schneller Lektüre. Lässt man sich jedoch auf seinen assoziativen Reichtum ein, bietet es eine gelungene Mischung aus stupendem Verismus und freier Fiktion.
Philip Hoare: "Albrecht Dürer und der Wal". Wie die Kunst die Welt erschaffen hat.
Aus dem Englischen von Susanne Held. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023. 320 S., Abb., geb., 30,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main