Mit seinen Romanen "Dein Name" und "Große Liebe" wurde Navid Kermani als einer der eigensinnigsten Schriftsteller unserer Zeit gefeiert. Nun liegen seine frühen Romane und Erzählungen in einem Band vor - vier literarische Paukenschläge, die bei aller Verschiedenheit zugleich ein Kontinuum ergeben: Ob es die Heilung der Babykolik aus dem Geiste der Rockmusik ist, die Heiligenviten aus Köln-Eigelstein und Umgebung, die Kämpfe, Erniedrigungen und Missverständnisse der erotischen Liebe oder der Tod in Gestalt einer SMS - jedes Mal erweist sich das Wunder oder das Scheitern der menschlichen Existenz in den scheinbar banalsten Situationen unseres Alltags.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.06.2017Die rettende Eingebung
Navid Kermani erinnert daran, dass Rockmusik das Leben besser macht und sogar Kinder beruhigen kann.
Von Cem Özdemir
Ich kann diesem Buch allenfalls einen Vorwurf machen: Sein Titel hat mich arglistig in die Irre geführt. Der Tod ist zwar bei Neil Young wiederkehrendes Thema. Aber Navid Kermani geht es vor allem um Erlösung.
Der Autor hat eine neugeborene Tochter. Auf das große Glück legen sich nach zehn Tagen Schatten: Drei-Monats-Kolik, "drei Monate der Folter", wie er es nennt. Wer sein Kind einmal schreiend durch die Wohnung getragen hat, weiß, wie schnell sich die körperlichen Qualen des Babys in Seelenpein der Eltern verwandeln.
Doch am vierten Abend kommt dem Vater die rettende Eingebung. Während die Versuche seiner Frau "mit afrikanischen Weisen oder anderem ethnologischen Material regelmäßig scheiterten oder sich zumindest endlos hinzogen, bis sie endlich von ihrem multikulturellen Starrsinn ließ", legt er Neil Youngs "Last Trip to Tulsa" auf - und seine Tochter beruhigt sich. So sehr, dass die Mutter einige Tage später halb scherzhaft, halb im Ernst fragt, ob man die Tochter "nicht auch mal schreien lassen solle, schließlich stärke das angeblich die Lungen".
Warum ausgerechnet dieser überlange Song von der ersten Soloplatte, den ich zuvor nicht kannte? "Planlos" dresche der Kanadier auf seine Seiten ein, seine Stimme sei "jämmerlich" hoch und ins "Weinerliche" kippend, "fast fistelig". Für den Unempfänglichen kann diese Musik dilettantisch klingen. Musik, die zwar nicht virtuos im herkömmlichen Sinne ist - aber eben voller Seelen-Pracht. Was wäre besser geeignet, um ein Kind zu heilen?
Nach dem spektakulären Erfolg nimmt Kermani seine Tochter mit auf eine Reise durch einen schier unendlichen musikalischen Kosmos. Die Liebe zur Tochter rückt im Zuge ihrer Genesung in den Hintergrund, die Liebe zur Musik und Poesie Neil Youngs ist es, die Kermani auf 139 Seiten auslebt. Heilende, erlösende, aufwühlende Musik, die sich einen zentralen Platz im Leben des Autors erspielt. Wenn Kermani beschreibt, wie seltene Schattierungen von Youngs Stimme zutage treten, "dunkle, zärtliche und rauhe", dann ist das nicht die Kritik eines Musikjournalisten, auch wenn der Autor nicht unterschlägt, dass es im Werk von Neil Young auch "seichte" und vereinzelt gar "peinliche" Lieder gäbe. Es ist Liebe, die aus Kermani spricht. Beim Lesen des Buchs fühlte ich mich zurückversetzt in die Zeit, als mein erstes Kind geboren war. Es ging mir damals vermutlich so wie vielen anderen jungen Vätern, die sich an ihre neue Rolle herantasten und sich fragen, wie sie eine Beziehung zu ihrem Kind aufbauen. Wie finde ich Zugang zu dem geliebten Geschöpf, das ich da in meinen Armen trage? Über das, was man liebt, so für mich eine Botschaft des Buches. Und bei Kermani ist es Neil Young.
Jeder von uns kennt vermutlich Väter, die versuchen, ihre Kinder mit den eigenen Vorlieben anzustecken. Ich bin auch so einer. Mein Sohn hat gleich Feuer gefangen, als er sah, wie kunstvoll Pete Townshend seine Gitarre zertrümmerte und Keith Moon wie wild auf sein Schlagzeug eindrischt. Meine Tochter hingegen hat dafür nichts übrig, jedenfalls noch nicht. Gegen Hiphop hat The Who in ihrem Fall leider keine Chance. Auch Kermani befürchtet, dass sich seine Tochter kaum jemals wieder so für Neil Young begeistern wird wie in ihrem ersten Lebensjahr. Das Buch ist 2002 erschienen, das Kind ist heute eine junge Frau. Und die musikalische Früherziehung hat offenbar doch Früchte getragen: 2013 beschrieb Kermani in einem Artikel seine Vorfreude auf einen gemeinsamen Konzertbesuch, da sich Neil Young samt seiner Band Crazy Horse angekündigt hatte. Das Kind neben seinem Vater vor der Bühne stehend, mit vor Freude leuchtenden Augen und pochendem Herzen, während Neil Young mal wieder auf seine Gitarre eindrischt, um sie dann "wie zur Entschuldigung, kaum hörbar zu streicheln" - wer dieses Buch liest, versteht meine Rührung angesichts dieser Vorstellung.
Es gibt wohl wenige wie Navid Kermani, die mit solch einer Hingabe zwei ihrer großen Lieben miteinander zu verbinden wissen. Er schreibt in diesem Buch so klug und aufrichtig über Musik und Leben und was das eine mit dem anderen zu tun hat, dass ich mehr als einmal dachte: Es ist eine wunderbare Gabe, Gedanken so in Worte fassen zu können - und ein großes Geschenk, so etwas lesen zu dürfen. Er hat aus seiner Liebe zu Neil Young und zu seiner Tochter ein großes kleines Buch gemacht. Und mich hat es daran erinnert, warum Rockmusik das Leben besser macht. Im Alltagsstress vergesse ich das leider viel zu oft. Danke dafür.
Eine Sache treibt mich noch um: Warum gibt es dieses Buch nicht in englischer Übersetzung? Der Text ist schließlich auch Fanpost auf Weltniveau. Es wäre doch schön, wenn neben vielen anderen auch Neil Young sie lesen könnte.
Cem Özdemir ist Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90 / Die Grünen.
Navid Kermani: "Das Buch der von Neil Young Getöteten". Suhrkamp Taschenbuch, 144 Seiten, 7,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Navid Kermani erinnert daran, dass Rockmusik das Leben besser macht und sogar Kinder beruhigen kann.
Von Cem Özdemir
Ich kann diesem Buch allenfalls einen Vorwurf machen: Sein Titel hat mich arglistig in die Irre geführt. Der Tod ist zwar bei Neil Young wiederkehrendes Thema. Aber Navid Kermani geht es vor allem um Erlösung.
Der Autor hat eine neugeborene Tochter. Auf das große Glück legen sich nach zehn Tagen Schatten: Drei-Monats-Kolik, "drei Monate der Folter", wie er es nennt. Wer sein Kind einmal schreiend durch die Wohnung getragen hat, weiß, wie schnell sich die körperlichen Qualen des Babys in Seelenpein der Eltern verwandeln.
Doch am vierten Abend kommt dem Vater die rettende Eingebung. Während die Versuche seiner Frau "mit afrikanischen Weisen oder anderem ethnologischen Material regelmäßig scheiterten oder sich zumindest endlos hinzogen, bis sie endlich von ihrem multikulturellen Starrsinn ließ", legt er Neil Youngs "Last Trip to Tulsa" auf - und seine Tochter beruhigt sich. So sehr, dass die Mutter einige Tage später halb scherzhaft, halb im Ernst fragt, ob man die Tochter "nicht auch mal schreien lassen solle, schließlich stärke das angeblich die Lungen".
Warum ausgerechnet dieser überlange Song von der ersten Soloplatte, den ich zuvor nicht kannte? "Planlos" dresche der Kanadier auf seine Seiten ein, seine Stimme sei "jämmerlich" hoch und ins "Weinerliche" kippend, "fast fistelig". Für den Unempfänglichen kann diese Musik dilettantisch klingen. Musik, die zwar nicht virtuos im herkömmlichen Sinne ist - aber eben voller Seelen-Pracht. Was wäre besser geeignet, um ein Kind zu heilen?
Nach dem spektakulären Erfolg nimmt Kermani seine Tochter mit auf eine Reise durch einen schier unendlichen musikalischen Kosmos. Die Liebe zur Tochter rückt im Zuge ihrer Genesung in den Hintergrund, die Liebe zur Musik und Poesie Neil Youngs ist es, die Kermani auf 139 Seiten auslebt. Heilende, erlösende, aufwühlende Musik, die sich einen zentralen Platz im Leben des Autors erspielt. Wenn Kermani beschreibt, wie seltene Schattierungen von Youngs Stimme zutage treten, "dunkle, zärtliche und rauhe", dann ist das nicht die Kritik eines Musikjournalisten, auch wenn der Autor nicht unterschlägt, dass es im Werk von Neil Young auch "seichte" und vereinzelt gar "peinliche" Lieder gäbe. Es ist Liebe, die aus Kermani spricht. Beim Lesen des Buchs fühlte ich mich zurückversetzt in die Zeit, als mein erstes Kind geboren war. Es ging mir damals vermutlich so wie vielen anderen jungen Vätern, die sich an ihre neue Rolle herantasten und sich fragen, wie sie eine Beziehung zu ihrem Kind aufbauen. Wie finde ich Zugang zu dem geliebten Geschöpf, das ich da in meinen Armen trage? Über das, was man liebt, so für mich eine Botschaft des Buches. Und bei Kermani ist es Neil Young.
Jeder von uns kennt vermutlich Väter, die versuchen, ihre Kinder mit den eigenen Vorlieben anzustecken. Ich bin auch so einer. Mein Sohn hat gleich Feuer gefangen, als er sah, wie kunstvoll Pete Townshend seine Gitarre zertrümmerte und Keith Moon wie wild auf sein Schlagzeug eindrischt. Meine Tochter hingegen hat dafür nichts übrig, jedenfalls noch nicht. Gegen Hiphop hat The Who in ihrem Fall leider keine Chance. Auch Kermani befürchtet, dass sich seine Tochter kaum jemals wieder so für Neil Young begeistern wird wie in ihrem ersten Lebensjahr. Das Buch ist 2002 erschienen, das Kind ist heute eine junge Frau. Und die musikalische Früherziehung hat offenbar doch Früchte getragen: 2013 beschrieb Kermani in einem Artikel seine Vorfreude auf einen gemeinsamen Konzertbesuch, da sich Neil Young samt seiner Band Crazy Horse angekündigt hatte. Das Kind neben seinem Vater vor der Bühne stehend, mit vor Freude leuchtenden Augen und pochendem Herzen, während Neil Young mal wieder auf seine Gitarre eindrischt, um sie dann "wie zur Entschuldigung, kaum hörbar zu streicheln" - wer dieses Buch liest, versteht meine Rührung angesichts dieser Vorstellung.
Es gibt wohl wenige wie Navid Kermani, die mit solch einer Hingabe zwei ihrer großen Lieben miteinander zu verbinden wissen. Er schreibt in diesem Buch so klug und aufrichtig über Musik und Leben und was das eine mit dem anderen zu tun hat, dass ich mehr als einmal dachte: Es ist eine wunderbare Gabe, Gedanken so in Worte fassen zu können - und ein großes Geschenk, so etwas lesen zu dürfen. Er hat aus seiner Liebe zu Neil Young und zu seiner Tochter ein großes kleines Buch gemacht. Und mich hat es daran erinnert, warum Rockmusik das Leben besser macht. Im Alltagsstress vergesse ich das leider viel zu oft. Danke dafür.
Eine Sache treibt mich noch um: Warum gibt es dieses Buch nicht in englischer Übersetzung? Der Text ist schließlich auch Fanpost auf Weltniveau. Es wäre doch schön, wenn neben vielen anderen auch Neil Young sie lesen könnte.
Cem Özdemir ist Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90 / Die Grünen.
Navid Kermani: "Das Buch der von Neil Young Getöteten". Suhrkamp Taschenbuch, 144 Seiten, 7,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Navid Kermani schreibt in 'Das Buch der von Neil Young Getöteten' so klug und aufrichtig über Musik und Leben und was das eine mit dem anderen zu tun hat, dass ich mehr als einmal dachte: Es ist eine wunderbare Gabe, Gedanken so in Worte fassen zu können - und ein großes Geschenk, so etwas lesen zu dürfen. Er hat aus seiner Liebe zu Neil Young und zu seiner Tochter ein großes kleines Buch gemacht." Cem Özdemir, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.06.17