Alfred Kerr ist uns in Erinnerung als der einflussreichste Theaterkritiker Deutschlands im 20. Jahrhundert. Er rühmte Henrik Ibsen als den Ahnherrn der Moderne, kämpfte für Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler, Frank Wedekind, George Bernard Shaw, entdeckte Robert Musil, stritt gegen den Talmiruhm Hermann Sudermanns, kämpfte mit Bertolt Brecht, verspottete Karl Kraus und setzte gegen Thomas Manns endlose Sätze seine knappen, treffenden, die deutsche Sprache präzisierenden Sentenzen. Er war um 1910 verehrt von den jungen Dichtern, kämpfte in der Republik gegen Rückwärtserei und die Nazis. Goebbels hasste ihn so sehr, dass Kerr sich 1933 ins Exil retten musste. Die Jahre in Paris und London waren ein Sturz in Not und Elend. Deborah Vietor Engländer erschließt in dieser Biographie zum ersten Mal das ganze, zum Teil unbekannte Leben und Wirken Alfred Kerrs, nutzt unbekannte Quellen und rückt uns diesen Streiter, der aus Lessings Geist lebte und mit dem Sprachwitz Heinrich Heines schrieb, wieder nah. Sie zeigt, welche Höhe dieser lebensdurstige Mensch erreichte und wie jäh sein Absturz war. Kerrs Biographie spiegelt exemplarisch das Leben jener jungen jüdischen Generation, die um 1880 aufbrach, um an der deutschen Kultur endlich teilzunehmen. Alfred Kerr starb 1948 in Hamburg, am Beginn einer Vortragsreise, als wollte ihn das Schicksal zurückführen in das Land, für dessen geistige Freiheit er stritt und das er nie vergaß. Seine von Günther Rühle in der Breslauer Zeitung der Jahrhundertwende entdeckten «Berliner Briefe» («Wo liegt Berlin?», erschienen 1997) führten zu Alfred Kerrs Neuentdeckung. Im Literarischen Quartett verkündete Marcel Reich-Ranicki damals: «Die Geschichte des deutschen Feuilletons muss nach diesem Buch neu geschrieben werden.» Die exemplarische Geschichte eines großen Schriftstellers, dessen glänzende Karriere die Nazis gewaltsam beendeten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2017"Mein ist die Sprache"
Kerr-Biographie bei der "Frankfurter Premiere"
Er war besessen von dem "Drang, Stellung zu nehmen". Alfred Kerr, neben Alfred Polgar der wohl wirkmächtigste deutschsprachige Theaterkritiker vor 1933, fühlte sich "gedrängt zu preisen oder zu rülpsen. Mein ist die Sprache", wusste er, nachdem ihn Altmeister Fontane mit einem Lobesbrief an den Herausgeber des Magazins für Literatur quasi zum Ritter geschlagen hatte. Umso verwunderlicher, dass erst jetzt, fast 70 Jahre nach dem Tod des Rezensenten, die erste umfassende Biographie über ihn erschienen ist. Die Literaturwissenschaftlerin Deborah Vietor-Engländer, die bei Walter Jens promoviert und an der TU Darmstadt gelehrt hat, stellte sie jetzt bei der ersten "Frankfurter Premiere" des Jahres in der Historischen Villa Metzler vor. Im Gespräch mit dem Literaturkritiker Martin Lüdke erwies sich die Autorin als profunde Kennerin der Berliner Theatergeschichte.
Deborah Vietor-Engländer ist in London aufgewachsen, wo ihre ältere Schwester Shulamit dank eines Kindertransports von 1939 die Schoa überlebt hatte. Als 1971 Judith Kerrs Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" in England erschien, machte Shulamit ihre Schwester auf die Verfasserin aufmerksam. Von der Tochter des emigrierten Kritikers erfuhr Deborah Vietor-Engländer, dass im Rhein-Main Gebiet zwei Menschen an einer Gesamtausgabe der Werke Alfred Kerrs arbeiteten. So lernte Deborah Vietor-Engländer den Theaterhistoriker, Kritiker und Kerr-Mitherausgeber Günther Rühle und dessen mittlerweile verstorbene Frau Margarete kennen. "Wir wurden zum Dreigespann", erinnert sie sich. Gemeinsam setzten sie die Arbeit an der achtbändigen Ausgabe für den S. Fischer Verlag fort.
Wie von selbst ergab sich daraus eine Kerr-Biographie. Insgesamt 15 Jahre hat Vietor-Engländer daran gearbeitet. Die rund 700 Seiten unter dem Titel "Alfred Kerr. Die Biographie" (Rowohlt Verlag) hat sie ihrer Schwester gewidmet. Kurze Einblicke gab sie jetzt in die Konkurrenzkämpfe der Kritiker und Autoren von dazumal. Kerr konnte mit Brechts Stücken - die "Dreigroschenoper" ausgenommen - nichts anfangen, und fand keinen Zugang zu dessen Theorie des epischen Theaters. Karl Kraus hasste Kerr und bescheinigte ihm dies auf 384 Seiten. Gerhart Hauptmann beschimpfte Kerr als "Schmeißfliege", obwohl dieser ihn als naturalistischen Autor auf der Bühne durchgesetzt hatte. Zuletzt verfluchte der Kritiker seinen undankbaren Zögling, der nur seinen Vorteil bei ihm gesucht hatte: "Hauptmann schmeichelt dem Raubgesindel. Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln."
Aber Martin Lüdke wollte auch wissen, was den Meister der "Erlebniskritik" privat so umgetrieben hatte. Eine delikate Beziehung verband Kerr etwa mit Thomas Mann, von dessen Frau Katja er einst einen Korb bekommen hatte. "Kerr wollte mich heiraten", schrieb diese in einem Brief, was niemand je ernst nahm. Vietor-Engländer aber stieß auf einen Brief von Katjas Mutter: "Wie gefällt Ihnen Kerr als mein Schwiegersohn", heißt es da. Soviel zur akribischen Recherche der Verfasserin. Vielleicht hatte der Abgewiesene auch deshalb keine Freude an Thomas Manns Bandwurmsätzen. Jedenfalls hat er ein boshaftes Gedicht über seinen Rivalen verfasst, das in der Biographie ebenso nachzulesen ist wie die Verelendung des gefeierten und wohlhabenden Kritikers im englischen Exil. Deborah Vietor-Engländer ist übrigens schon beim nächsten Projekt: der Edition von Kerrs Berliner Briefen 1897 bis 1922.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kerr-Biographie bei der "Frankfurter Premiere"
Er war besessen von dem "Drang, Stellung zu nehmen". Alfred Kerr, neben Alfred Polgar der wohl wirkmächtigste deutschsprachige Theaterkritiker vor 1933, fühlte sich "gedrängt zu preisen oder zu rülpsen. Mein ist die Sprache", wusste er, nachdem ihn Altmeister Fontane mit einem Lobesbrief an den Herausgeber des Magazins für Literatur quasi zum Ritter geschlagen hatte. Umso verwunderlicher, dass erst jetzt, fast 70 Jahre nach dem Tod des Rezensenten, die erste umfassende Biographie über ihn erschienen ist. Die Literaturwissenschaftlerin Deborah Vietor-Engländer, die bei Walter Jens promoviert und an der TU Darmstadt gelehrt hat, stellte sie jetzt bei der ersten "Frankfurter Premiere" des Jahres in der Historischen Villa Metzler vor. Im Gespräch mit dem Literaturkritiker Martin Lüdke erwies sich die Autorin als profunde Kennerin der Berliner Theatergeschichte.
Deborah Vietor-Engländer ist in London aufgewachsen, wo ihre ältere Schwester Shulamit dank eines Kindertransports von 1939 die Schoa überlebt hatte. Als 1971 Judith Kerrs Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" in England erschien, machte Shulamit ihre Schwester auf die Verfasserin aufmerksam. Von der Tochter des emigrierten Kritikers erfuhr Deborah Vietor-Engländer, dass im Rhein-Main Gebiet zwei Menschen an einer Gesamtausgabe der Werke Alfred Kerrs arbeiteten. So lernte Deborah Vietor-Engländer den Theaterhistoriker, Kritiker und Kerr-Mitherausgeber Günther Rühle und dessen mittlerweile verstorbene Frau Margarete kennen. "Wir wurden zum Dreigespann", erinnert sie sich. Gemeinsam setzten sie die Arbeit an der achtbändigen Ausgabe für den S. Fischer Verlag fort.
Wie von selbst ergab sich daraus eine Kerr-Biographie. Insgesamt 15 Jahre hat Vietor-Engländer daran gearbeitet. Die rund 700 Seiten unter dem Titel "Alfred Kerr. Die Biographie" (Rowohlt Verlag) hat sie ihrer Schwester gewidmet. Kurze Einblicke gab sie jetzt in die Konkurrenzkämpfe der Kritiker und Autoren von dazumal. Kerr konnte mit Brechts Stücken - die "Dreigroschenoper" ausgenommen - nichts anfangen, und fand keinen Zugang zu dessen Theorie des epischen Theaters. Karl Kraus hasste Kerr und bescheinigte ihm dies auf 384 Seiten. Gerhart Hauptmann beschimpfte Kerr als "Schmeißfliege", obwohl dieser ihn als naturalistischen Autor auf der Bühne durchgesetzt hatte. Zuletzt verfluchte der Kritiker seinen undankbaren Zögling, der nur seinen Vorteil bei ihm gesucht hatte: "Hauptmann schmeichelt dem Raubgesindel. Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln."
Aber Martin Lüdke wollte auch wissen, was den Meister der "Erlebniskritik" privat so umgetrieben hatte. Eine delikate Beziehung verband Kerr etwa mit Thomas Mann, von dessen Frau Katja er einst einen Korb bekommen hatte. "Kerr wollte mich heiraten", schrieb diese in einem Brief, was niemand je ernst nahm. Vietor-Engländer aber stieß auf einen Brief von Katjas Mutter: "Wie gefällt Ihnen Kerr als mein Schwiegersohn", heißt es da. Soviel zur akribischen Recherche der Verfasserin. Vielleicht hatte der Abgewiesene auch deshalb keine Freude an Thomas Manns Bandwurmsätzen. Jedenfalls hat er ein boshaftes Gedicht über seinen Rivalen verfasst, das in der Biographie ebenso nachzulesen ist wie die Verelendung des gefeierten und wohlhabenden Kritikers im englischen Exil. Deborah Vietor-Engländer ist übrigens schon beim nächsten Projekt: der Edition von Kerrs Berliner Briefen 1897 bis 1922.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2016Sein war das Wort
Deborah Vietor-Engländers große Biografie über Alfred Kerr,
den Kritikerkönig mit Schleuder und Harfe
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Als Sohn des jüdischen Weinhändlers Emanuel Kempner wird der Kritikerkomet Alfred Kerr in der Weihnachtsnacht 1867 in Breslau geboren. „Gott hat mich eingesetzt, jedes Beiseitesprechen zu verhindern“, sagt er später über seinen Logenplatz im Schöpfungsplan. Es war eine kalte Nacht, fast zehn Grad minus. „Doch frostig waren nicht nur die Wetterverhältnisse, sondern auch die Zeiten“, schreibt Deborah Vietor-Engländer zu Beginn ihrer Biografie, der ersten, die Kerrs ganzes Leben umfasst.
Bei solch einer holprigen Überleitung ahnt man, weshalb Kerr seinerseits bald schon auf Überleitungen verzichtete und seine Kritiken in Paragrafen unterteilte. Kerr war ein Pointillist der Pointe, jede von ihnen mit dem Florett aufs Papier getupft. Er selbst bezeichnete Schleuder und Harfe als die Waffen seiner Wahl, er könne halt bloß entweder „jauchzen oder rülpsen“. Kritik verstand er als Kunst und gleichberechtigte literarische Gattung neben Epik, Dramatik und Lyrik. Während andere mit Wasser kochten, erfand er in jeder brillanten Formulierung den Brühwürfel neu. „Aus einem Gedanken macht der Stückemacher ein Stück. Der Schriftsteller einen Aufsatz. Ich einen Satz.“ So sein twittereskes Schreibideal. Selbst seinen Namen hat er zum Einsilber verkürzt, als er sich von Kempner in Kerr umbenennt.
Aber selbst der große Kerr musste erst werden, der er war. Und sich beim Abitur mit „Deutsch: Genügend“ bescheiden. Die Theaterleidenschaft ist da längst entfacht: „Ich war Fiesco die ganze Tertia hindurch; wie man zuvor Indianer gewesen.“ Kerr studiert Germanistik und Romanistik in Breslau und Berlin, wird mit einer Arbeit über Clemens Brentano promoviert. Den Ironiebegriff der Romantik streift er sich über wie einen Glacéhandschuh, passend zu „Frack und Lack und Claque“, der Arbeitskleidung, in der er sich von 1890 an inspralle Theater- und Gesellschaftsleben der „Pankestadt“ Berlin stürzt: „Man kommt aus dem reinen Oberhemd gar nicht mehr raus.“
Sein feuilletonistischer Hausgott war Heinrich Heine; ein halbes Leben hat er dafür gefochten, dass ihm, dem deutschen Jude, wie er selbst einer war, ein Denkmal errichtet wird. Vom Antisemitismus hat Kerr sich ohnehin nicht verbiegen lassen, nie ernsthaft die Taufe erwogen, obwohl dies damals die Voraussetzung für eine akademische Karriere war, die sich die Eltern wünschten und die er zunächst auch anstrebte.
Doch die Metropole bot schnellere Reize. Die rasch expandierende Presselandschaft musste genauso erobert werden wie die Damenwelt. Beide nahm Kerr im Sturm, verströmte sich hier wie dort – was dort angeht, zur Not auch mal im „Fickhotel“. Sein chronisches Herzeleid verpflastert der junge Kerr mit elegisch-geschmerzten Prosadichtungen, „Quittungen für Erlebtes“. Und schickt seine „Plauderbriefe“ nach Breslau und Königsberg. Als schreibender Großstadtflaneur spießt er für die dortigen Zeitungen das Vermischte lässig mit dem Spazierstock auf.
Kerr reüssiert als sturzfrecher Starschreiber und verwöhnte Lästerzunge. In seinem Hauptamt als Kritiker wird er „ein bisschen Papst mit Pensionsberechtigung“, wie er wehmütig im Exil notiert. Kerr bringt einen neuen, direkten Ton ins akademisch vermuffte Rezensionswesen, begründet die mit nervöser Energie aufgeladene „Erlebniskritik“. Er reitet und streitet gegen die „Rückwärtserei“ in Kunst und Politik. Das Theater ist aufregend und bald Leitmedium. Man kämpft um Deutungshoheit und Meinungsführerschaft, versucht die Kritiker-Konkurrenten wegzubeißen. „Sie arbeiten mit Stinkbomben, er mit Curare“, schreibt der Dramatiker Hermann Sudermann über Kerr und Kollegen.
Die Zeitungen sind eine eigene, zweite Bühne, auf der die sich gegenseitig zerfleischenden Kritiker dem Publikum schmutziges Entertainment bieten. War das Feuilleton damals insiderischer, inzestuöser als heute? Oder nur rauflustiger? Einerseits missbrauchten die Widersacher ungeniert ihre jeweiligen Blätter, um übereinander herzufallen, die Rivalen mit Spottgedichten und peinlichen Enthüllungen zu vernichten. Andererseits ist Alfred Kerr das beste Beispiel für ein Selbstverständnis von Kritik, das Entwicklungen im Zusammenhang darzustellen, Tendenzen zu erkennen und zu befördern suchte. Wichtig konnte das Theater erst werden, als es welche gab, die es wichtig nahmen.
Der Machthunger fand jedoch keine Grenzen; bald schon wollte auch Kerr wie andere Herausgeber einer eigenen Zeitung sein und wurde es beim Pan, den er zuletzt fast allein vollschrieb. Es ging darum, sich eine publizistische Plattform zu verschaffen, ein wehrhaftes Mutterschiff. Im Falle Kerrs zum Beispiel, um Karl Kraus in Wien in die Schranken zu weisen. Kerr zu zerstören, war für Kraus fast schon zur Besessenheit geworden. In den Zwanzigerjahren kramt er dessen chauvinistische Verse aus dem Ersten Weltkrieg hervor und verbreitet, Kerr sei der Autor des „Gottlieb“-Gedichts „Serbien muss sterbien“. Der Streit endet vor Gericht und wird letztlich niedergeschlagen. „Die faden Fehden“, so fasste Kerr seinen Krieg mit Kraus zusammen. Zum Weltkriegsjubiläum 2014 gab es noch einmal den Versuch, Kerrs Kriegspoesie zu skandalisieren.
Auch im Privaten war das Leben nicht frei von Intrigen. Mit fünfzig Jahren bindet Kerr sich zum zweiten Mal und heiratet die dreißig Jahre jüngere Julia Weißmann. Deren Vater setzt bezahlte Schläger auf den verhassten Schwiegersohn an. Kerr löst das Problem gewohnt entspannt und geht mit den Auftrags-Angstmachern Bier trinken. Die ohnehin labile Julia jedoch versucht, sich mit Veronal zu vergiften.
Schon der junge Kerr nimmt sich regelmäßig Auszeiten von den Bühnengrabenkämpfen und geht auf Reisen – er fährt nach Italien, Frankreich, England, aber auch nach Palästina und mehrmals in die USA. Reisereportagen entstehen, aus denen wiederum Bücher werden. Dass in einer der letzten Berliner Premieren, die er bespricht, Gustaf Gründgens den Mephisto spielt, also die Rolle, die als Goebbels’ Günstling auch politisch seine Lebensrolle wurde, ist eine makabre Pointe. Zwei Wochen nach Hitlers Machtergreifung verlässt Kerr Deutschland. Nur mit einer kleinen Reisetasche setzt er sich nach Prag ab und holt Julia und die beiden Kinder, Michael und Judith, in die Schweiz nach. Was folgt, sind die zermürbenden Jahre des Exils unter elenden Bedingungen – der eindrücklich erschütternde Teil dieser materialreichen Biografie, die Kerrs Lebenslinien akribisch nachzieht.
Denn Alfred Kerr wird jäh aus allen Daseinszusammenhängen gerissen, als hätte jemand einen Kippschalter umgelegt. Die Stellung wird ihm fristlos gekündigt, die Staatsbürgerschaft entzogen, der Doktortitel aberkannt. Vor allem aber verliert er die Sprache und damit sein Element. Die Familie geht zunächst nach Paris, und obwohl Kerr weiterhin Theaterkritiken schreibt, ist er ein abgedankter König. Er ist ihm für immer weggebrochen, der hochinformierte Kreis der Leser, die jede seiner Anspielungen verstehen, all die Kalauer, Wortspiele und Parodien. Kerrs Schicksal zeigt, dass immer Nachbarschaften nötig sind, ein bestimmtes Mikroklima, damit das lebendige Gespräch namens Feuilleton entstehen kann. Heute ist dieses Biotop, das es mal gab, ausgetrocknet, auch ohne Diktatur und Exil.
Mit Hilfe einer Flüchtlingsorganisation kommen die Kerrs nach London; sie werden nie wieder eine eigene Wohnung haben, kein Bankkonto und einen Pass erst nach vielen Jahren. Weil sie nicht als Staatenlose registriert wurden, gelten sie bei Kriegsausbruch als „Enemy Aliens“, was die Arbeitssuche noch schwieriger macht. Kerr versucht alles und schreibt sich die Finger wund: Filmskripts, Bücher, Zeitungsbeiträge, aber seine wichtigste Textform ist nun der Bitt- und Bettelbrief. „Unser Dasein hier ist eine Woolworth-Existenz; und es reicht oft nicht für Woolworth“, heißt es in einem dieser Briefe.
Trotz allem verliert Kerr nicht den Mut und nicht den Witz. Er habe so wenig Talent zum Unglücklichsein, schreibt er einmal. Und spottet: „Zwei Mächte verfolgen mich: die Braunen in Deutschland, die Wolligen in England.“ Gemeint ist der ewige Hammeleintopf. Die bitterste Ironie ist, dass niemand sich traut, einer Berühmtheit wie ihm eine Arbeit anzubieten, die seiner nicht würdig sein könnte. Sein Nimbus wird ihm zum Hungertuch.
Auch nach dem Krieg wird es nicht leichter. Das Papier ist knapp in Deutschland, der Platz zum Schreiben begrenzt. „Man stirbt einen Tod; man weiß nur nicht welchen; / Vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen“, dichtet er noch, der leise Nachklang eines Heine-Gedichts ist da zu hören. Bei einem Besuch in Hamburg werden seine Verse wahr. Am 12. Oktober 1948 setzt Alfred Kerr nach einem Schlaganfall, nicht dem ersten, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende. So klaute er sogar dem Tod noch die Pointe.
Wichtig konnte das Theater
erst werden, als es welche gab,
die es wichtig nahmen
Im Exil wird sein Ruhm
zur Last, weil sich niemand traut,
ihm eine Arbeit anzubieten
Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 720 Seiten, 29,95 Euro. E-Book 24,99 Euro.
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Deborah Vietor-Engländers große Biografie über Alfred Kerr,
den Kritikerkönig mit Schleuder und Harfe
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Als Sohn des jüdischen Weinhändlers Emanuel Kempner wird der Kritikerkomet Alfred Kerr in der Weihnachtsnacht 1867 in Breslau geboren. „Gott hat mich eingesetzt, jedes Beiseitesprechen zu verhindern“, sagt er später über seinen Logenplatz im Schöpfungsplan. Es war eine kalte Nacht, fast zehn Grad minus. „Doch frostig waren nicht nur die Wetterverhältnisse, sondern auch die Zeiten“, schreibt Deborah Vietor-Engländer zu Beginn ihrer Biografie, der ersten, die Kerrs ganzes Leben umfasst.
Bei solch einer holprigen Überleitung ahnt man, weshalb Kerr seinerseits bald schon auf Überleitungen verzichtete und seine Kritiken in Paragrafen unterteilte. Kerr war ein Pointillist der Pointe, jede von ihnen mit dem Florett aufs Papier getupft. Er selbst bezeichnete Schleuder und Harfe als die Waffen seiner Wahl, er könne halt bloß entweder „jauchzen oder rülpsen“. Kritik verstand er als Kunst und gleichberechtigte literarische Gattung neben Epik, Dramatik und Lyrik. Während andere mit Wasser kochten, erfand er in jeder brillanten Formulierung den Brühwürfel neu. „Aus einem Gedanken macht der Stückemacher ein Stück. Der Schriftsteller einen Aufsatz. Ich einen Satz.“ So sein twittereskes Schreibideal. Selbst seinen Namen hat er zum Einsilber verkürzt, als er sich von Kempner in Kerr umbenennt.
Aber selbst der große Kerr musste erst werden, der er war. Und sich beim Abitur mit „Deutsch: Genügend“ bescheiden. Die Theaterleidenschaft ist da längst entfacht: „Ich war Fiesco die ganze Tertia hindurch; wie man zuvor Indianer gewesen.“ Kerr studiert Germanistik und Romanistik in Breslau und Berlin, wird mit einer Arbeit über Clemens Brentano promoviert. Den Ironiebegriff der Romantik streift er sich über wie einen Glacéhandschuh, passend zu „Frack und Lack und Claque“, der Arbeitskleidung, in der er sich von 1890 an inspralle Theater- und Gesellschaftsleben der „Pankestadt“ Berlin stürzt: „Man kommt aus dem reinen Oberhemd gar nicht mehr raus.“
Sein feuilletonistischer Hausgott war Heinrich Heine; ein halbes Leben hat er dafür gefochten, dass ihm, dem deutschen Jude, wie er selbst einer war, ein Denkmal errichtet wird. Vom Antisemitismus hat Kerr sich ohnehin nicht verbiegen lassen, nie ernsthaft die Taufe erwogen, obwohl dies damals die Voraussetzung für eine akademische Karriere war, die sich die Eltern wünschten und die er zunächst auch anstrebte.
Doch die Metropole bot schnellere Reize. Die rasch expandierende Presselandschaft musste genauso erobert werden wie die Damenwelt. Beide nahm Kerr im Sturm, verströmte sich hier wie dort – was dort angeht, zur Not auch mal im „Fickhotel“. Sein chronisches Herzeleid verpflastert der junge Kerr mit elegisch-geschmerzten Prosadichtungen, „Quittungen für Erlebtes“. Und schickt seine „Plauderbriefe“ nach Breslau und Königsberg. Als schreibender Großstadtflaneur spießt er für die dortigen Zeitungen das Vermischte lässig mit dem Spazierstock auf.
Kerr reüssiert als sturzfrecher Starschreiber und verwöhnte Lästerzunge. In seinem Hauptamt als Kritiker wird er „ein bisschen Papst mit Pensionsberechtigung“, wie er wehmütig im Exil notiert. Kerr bringt einen neuen, direkten Ton ins akademisch vermuffte Rezensionswesen, begründet die mit nervöser Energie aufgeladene „Erlebniskritik“. Er reitet und streitet gegen die „Rückwärtserei“ in Kunst und Politik. Das Theater ist aufregend und bald Leitmedium. Man kämpft um Deutungshoheit und Meinungsführerschaft, versucht die Kritiker-Konkurrenten wegzubeißen. „Sie arbeiten mit Stinkbomben, er mit Curare“, schreibt der Dramatiker Hermann Sudermann über Kerr und Kollegen.
Die Zeitungen sind eine eigene, zweite Bühne, auf der die sich gegenseitig zerfleischenden Kritiker dem Publikum schmutziges Entertainment bieten. War das Feuilleton damals insiderischer, inzestuöser als heute? Oder nur rauflustiger? Einerseits missbrauchten die Widersacher ungeniert ihre jeweiligen Blätter, um übereinander herzufallen, die Rivalen mit Spottgedichten und peinlichen Enthüllungen zu vernichten. Andererseits ist Alfred Kerr das beste Beispiel für ein Selbstverständnis von Kritik, das Entwicklungen im Zusammenhang darzustellen, Tendenzen zu erkennen und zu befördern suchte. Wichtig konnte das Theater erst werden, als es welche gab, die es wichtig nahmen.
Der Machthunger fand jedoch keine Grenzen; bald schon wollte auch Kerr wie andere Herausgeber einer eigenen Zeitung sein und wurde es beim Pan, den er zuletzt fast allein vollschrieb. Es ging darum, sich eine publizistische Plattform zu verschaffen, ein wehrhaftes Mutterschiff. Im Falle Kerrs zum Beispiel, um Karl Kraus in Wien in die Schranken zu weisen. Kerr zu zerstören, war für Kraus fast schon zur Besessenheit geworden. In den Zwanzigerjahren kramt er dessen chauvinistische Verse aus dem Ersten Weltkrieg hervor und verbreitet, Kerr sei der Autor des „Gottlieb“-Gedichts „Serbien muss sterbien“. Der Streit endet vor Gericht und wird letztlich niedergeschlagen. „Die faden Fehden“, so fasste Kerr seinen Krieg mit Kraus zusammen. Zum Weltkriegsjubiläum 2014 gab es noch einmal den Versuch, Kerrs Kriegspoesie zu skandalisieren.
Auch im Privaten war das Leben nicht frei von Intrigen. Mit fünfzig Jahren bindet Kerr sich zum zweiten Mal und heiratet die dreißig Jahre jüngere Julia Weißmann. Deren Vater setzt bezahlte Schläger auf den verhassten Schwiegersohn an. Kerr löst das Problem gewohnt entspannt und geht mit den Auftrags-Angstmachern Bier trinken. Die ohnehin labile Julia jedoch versucht, sich mit Veronal zu vergiften.
Schon der junge Kerr nimmt sich regelmäßig Auszeiten von den Bühnengrabenkämpfen und geht auf Reisen – er fährt nach Italien, Frankreich, England, aber auch nach Palästina und mehrmals in die USA. Reisereportagen entstehen, aus denen wiederum Bücher werden. Dass in einer der letzten Berliner Premieren, die er bespricht, Gustaf Gründgens den Mephisto spielt, also die Rolle, die als Goebbels’ Günstling auch politisch seine Lebensrolle wurde, ist eine makabre Pointe. Zwei Wochen nach Hitlers Machtergreifung verlässt Kerr Deutschland. Nur mit einer kleinen Reisetasche setzt er sich nach Prag ab und holt Julia und die beiden Kinder, Michael und Judith, in die Schweiz nach. Was folgt, sind die zermürbenden Jahre des Exils unter elenden Bedingungen – der eindrücklich erschütternde Teil dieser materialreichen Biografie, die Kerrs Lebenslinien akribisch nachzieht.
Denn Alfred Kerr wird jäh aus allen Daseinszusammenhängen gerissen, als hätte jemand einen Kippschalter umgelegt. Die Stellung wird ihm fristlos gekündigt, die Staatsbürgerschaft entzogen, der Doktortitel aberkannt. Vor allem aber verliert er die Sprache und damit sein Element. Die Familie geht zunächst nach Paris, und obwohl Kerr weiterhin Theaterkritiken schreibt, ist er ein abgedankter König. Er ist ihm für immer weggebrochen, der hochinformierte Kreis der Leser, die jede seiner Anspielungen verstehen, all die Kalauer, Wortspiele und Parodien. Kerrs Schicksal zeigt, dass immer Nachbarschaften nötig sind, ein bestimmtes Mikroklima, damit das lebendige Gespräch namens Feuilleton entstehen kann. Heute ist dieses Biotop, das es mal gab, ausgetrocknet, auch ohne Diktatur und Exil.
Mit Hilfe einer Flüchtlingsorganisation kommen die Kerrs nach London; sie werden nie wieder eine eigene Wohnung haben, kein Bankkonto und einen Pass erst nach vielen Jahren. Weil sie nicht als Staatenlose registriert wurden, gelten sie bei Kriegsausbruch als „Enemy Aliens“, was die Arbeitssuche noch schwieriger macht. Kerr versucht alles und schreibt sich die Finger wund: Filmskripts, Bücher, Zeitungsbeiträge, aber seine wichtigste Textform ist nun der Bitt- und Bettelbrief. „Unser Dasein hier ist eine Woolworth-Existenz; und es reicht oft nicht für Woolworth“, heißt es in einem dieser Briefe.
Trotz allem verliert Kerr nicht den Mut und nicht den Witz. Er habe so wenig Talent zum Unglücklichsein, schreibt er einmal. Und spottet: „Zwei Mächte verfolgen mich: die Braunen in Deutschland, die Wolligen in England.“ Gemeint ist der ewige Hammeleintopf. Die bitterste Ironie ist, dass niemand sich traut, einer Berühmtheit wie ihm eine Arbeit anzubieten, die seiner nicht würdig sein könnte. Sein Nimbus wird ihm zum Hungertuch.
Auch nach dem Krieg wird es nicht leichter. Das Papier ist knapp in Deutschland, der Platz zum Schreiben begrenzt. „Man stirbt einen Tod; man weiß nur nicht welchen; / Vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen“, dichtet er noch, der leise Nachklang eines Heine-Gedichts ist da zu hören. Bei einem Besuch in Hamburg werden seine Verse wahr. Am 12. Oktober 1948 setzt Alfred Kerr nach einem Schlaganfall, nicht dem ersten, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende. So klaute er sogar dem Tod noch die Pointe.
Wichtig konnte das Theater
erst werden, als es welche gab,
die es wichtig nahmen
Im Exil wird sein Ruhm
zur Last, weil sich niemand traut,
ihm eine Arbeit anzubieten
Deborah Vietor-Engländer: Alfred Kerr. Die Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 720 Seiten, 29,95 Euro. E-Book 24,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ausführlich und wohlwollend stellt Bernd Noack Deborah Vietor-Engländer und ihre Biografie des berühmt-berüchtigten Theaterkritikers Alfred Kerr vor, ohne das Buch zu bewerten. Er hat die Autorin getroffen und belässt es beim Erzählen hübsch böser Anekdoten. Deutlich macht er, dass die Autorin bei Kerr großen Wert auf die Unterscheidung der öffentlichen und der privaten Person legt. Denn als Kritiker sei Kerr vielleicht gnadenlos gewesen, wenn er Schauspiel- und Regiekarrieren beendete, seine Gegner beschimpfte oder in der unerbittlichen Fehde Karl Kraus als "aufgeblähten Jammerzwerg" titulierte; als Familienvater jedoch sei er absolut liebenswert und über jeden Zweifel erhaben gewesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Alles, was ich über meinen Vater nie wusste. Brillant! Judith Kerr, Autorin des Bestsellers «Als Hitler das rosa Kaninchen stahl»