Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Kerr-Biographie bei der "Frankfurter Premiere"
Er war besessen von dem "Drang, Stellung zu nehmen". Alfred Kerr, neben Alfred Polgar der wohl wirkmächtigste deutschsprachige Theaterkritiker vor 1933, fühlte sich "gedrängt zu preisen oder zu rülpsen. Mein ist die Sprache", wusste er, nachdem ihn Altmeister Fontane mit einem Lobesbrief an den Herausgeber des Magazins für Literatur quasi zum Ritter geschlagen hatte. Umso verwunderlicher, dass erst jetzt, fast 70 Jahre nach dem Tod des Rezensenten, die erste umfassende Biographie über ihn erschienen ist. Die Literaturwissenschaftlerin Deborah Vietor-Engländer, die bei Walter Jens promoviert und an der TU Darmstadt gelehrt hat, stellte sie jetzt bei der ersten "Frankfurter Premiere" des Jahres in der Historischen Villa Metzler vor. Im Gespräch mit dem Literaturkritiker Martin Lüdke erwies sich die Autorin als profunde Kennerin der Berliner Theatergeschichte.
Deborah Vietor-Engländer ist in London aufgewachsen, wo ihre ältere Schwester Shulamit dank eines Kindertransports von 1939 die Schoa überlebt hatte. Als 1971 Judith Kerrs Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" in England erschien, machte Shulamit ihre Schwester auf die Verfasserin aufmerksam. Von der Tochter des emigrierten Kritikers erfuhr Deborah Vietor-Engländer, dass im Rhein-Main Gebiet zwei Menschen an einer Gesamtausgabe der Werke Alfred Kerrs arbeiteten. So lernte Deborah Vietor-Engländer den Theaterhistoriker, Kritiker und Kerr-Mitherausgeber Günther Rühle und dessen mittlerweile verstorbene Frau Margarete kennen. "Wir wurden zum Dreigespann", erinnert sie sich. Gemeinsam setzten sie die Arbeit an der achtbändigen Ausgabe für den S. Fischer Verlag fort.
Wie von selbst ergab sich daraus eine Kerr-Biographie. Insgesamt 15 Jahre hat Vietor-Engländer daran gearbeitet. Die rund 700 Seiten unter dem Titel "Alfred Kerr. Die Biographie" (Rowohlt Verlag) hat sie ihrer Schwester gewidmet. Kurze Einblicke gab sie jetzt in die Konkurrenzkämpfe der Kritiker und Autoren von dazumal. Kerr konnte mit Brechts Stücken - die "Dreigroschenoper" ausgenommen - nichts anfangen, und fand keinen Zugang zu dessen Theorie des epischen Theaters. Karl Kraus hasste Kerr und bescheinigte ihm dies auf 384 Seiten. Gerhart Hauptmann beschimpfte Kerr als "Schmeißfliege", obwohl dieser ihn als naturalistischen Autor auf der Bühne durchgesetzt hatte. Zuletzt verfluchte der Kritiker seinen undankbaren Zögling, der nur seinen Vorteil bei ihm gesucht hatte: "Hauptmann schmeichelt dem Raubgesindel. Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln."
Aber Martin Lüdke wollte auch wissen, was den Meister der "Erlebniskritik" privat so umgetrieben hatte. Eine delikate Beziehung verband Kerr etwa mit Thomas Mann, von dessen Frau Katja er einst einen Korb bekommen hatte. "Kerr wollte mich heiraten", schrieb diese in einem Brief, was niemand je ernst nahm. Vietor-Engländer aber stieß auf einen Brief von Katjas Mutter: "Wie gefällt Ihnen Kerr als mein Schwiegersohn", heißt es da. Soviel zur akribischen Recherche der Verfasserin. Vielleicht hatte der Abgewiesene auch deshalb keine Freude an Thomas Manns Bandwurmsätzen. Jedenfalls hat er ein boshaftes Gedicht über seinen Rivalen verfasst, das in der Biographie ebenso nachzulesen ist wie die Verelendung des gefeierten und wohlhabenden Kritikers im englischen Exil. Deborah Vietor-Engländer ist übrigens schon beim nächsten Projekt: der Edition von Kerrs Berliner Briefen 1897 bis 1922.
CLAUDIA SCHÜLKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH