"Vor fünfzig Jahren Kriegsanfang, vierzig Jahre Bundesrepublik und DDR. Und ich werde sechzig." Als Walter Kempowski dies in seinem Tagebuch notierte, ahnte er nicht, welche dramatischen Entwicklungen das Jahr 1989 nehmen sollte. Der wachsende Unmut in der DDR, die Ausreisewelle über Ungarn, die Montagsdemonstrationen und schließlich die Öffnung der Mauer - zwischen Bangen und Hoffen beobachtet Kempowski diese Entwicklung. Zugleich gewährt er jedoch auch Einblicke in den Mikrokosmos seines Alltags und in die Arbeit an seiner monumentalen Textcollage "Echolot", die 1989 in ihre entscheidende Phase tritt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Die Tagebuch-Therapie
Walter Kempowski überlebt einen Umbruch / Von Martin Ebel
Walter Kempowski ist der heimliche Therapeut des deutschen Bürgertums. Mit seiner vielbändigen Familienchronik hat er ihm den Spiegel vorgehalten, in dem es sich wiedererkennen mag. Wer die Nazizeit und den Weltkrieg bewußt erlebt hatte und sich als Opfer der Geschichte fühlte, sich in der öffentlichen Rede aber als Teil einer kollektiven Täterschaft gebrandmarkt sah, fand sich in jenen gutartigen Gestalten richtig dargestellt, die Klavier spielten und Bildungsgut repetierten, während draußen ihre Welt in Scherben ging. Daß der ausgestellte Normalitätswille mit all den Schnacks und Schnurren, die nicht zuletzt durch die kongenialen Verfilmungen Eberhard Fechners sprichwörtlich wurden, daß die unbekümmerte Naivität dieser Familie mit ihrem "Nein, wie isses bloß möglich" durch die Schrecken der historischen Ereignisse etwas Gespenstisches bekam, wurde bei erster Lektüre gern überlesen.
Überlesen auch von denen, die Kempowski selbst Naivität oder, schlimmer, Beschönigung der Vergangenheit vorwarfen und ihn kurzerhand, so war das in den siebziger Jahren, in die rechte Ecke stellten - natürlich auch, weil er auf die DDR schon mit Fingern zeigte, als das in friedensbewegten und progressiven Kreisen noch nicht opportun war. Heute, mit größerem Abstand, ist eine differenziertere Lektüre der "Deutschen Chronik" leichter, ist es möglich, in den bürgerlichen Überlebenstechniken auch eine Leistung zu sehen, ohne das Versagen dieser Schicht gegenüber der Barbarei auszublenden. Kempowskis Familiengeschichte hat auch durch das immense "Echolot"-Projekt, das dieser Gedächtnisvirtuose und manische Vergangenheitsbewahrer seit fast zwei Jahrzehnten betreibt, einen anderen Stellenwert bekommen.
Zwei große Lieferungen über jeweils einige Wochen der Kriegsjahre 1943 und 1945 liegen bis jetzt vor, die auf vielen tausend Seiten Hunderte von "Stimmen" zum Sprechen bringen; eine große kollektive Erzählung, die wie das Querschiff in die Kathedrale des Kempowskischen Erinnerungswerks eingezogen ist. Weitere Lieferungen sind vorgesehen, die nächste wird das Kriegsende behandeln, und über allem spannt sich als riesiges virtuelles Gebäude das Unternehmen "Ortslinien", das gleich ein ganzes Jahrhundert dokumentieren soll, in Wort und Ton, Bild und Film. Ein unvollendbares Werk, für das der einzige denkbare Behälter ein Faß ohne Boden ist: das Internet.
Wo bleibt in diesen Materialschlachten die eigene Stimme? In seinen Tagebüchern. Nur da ist Kempowski nicht Chorleiter und Arrangeur, sondern ganz Mensch - und will es sein. Seit fast fünfzig Jahren schreibt er Tag für Tag in dicke Hefte, was ihn gefreut und geärgert hat, und ab und zu gibt er ein solches Heft der Öffentlichkeit zu lesen. Jetzt liegt nach "Sirius" (1990) das zweite vor. "Alkor" heißt das Tagebuch des Jahres 1989, es ist über sechshundert Seiten dick und läßt vom 1. Januar bis zum 31. Dezember keinen Tag aus.
Es läßt auch alles durch: Eine Zensur findet nicht statt. Es ist ein riskantes Unternehmen, sich so aus- und dabei auch bloßzustellen; jeder Tagebuchschreiber betreibt es mit einer gewissen Lustangst, jeder Leser ist auch ein bißchen ein Voyeur. Kempowski hat nur formal etwas Ordnung geschaffen; er leitet jeden Tag mit den Schlagzeilen der "Bild-Zeitung" und des "Neuen Deutschland" ein, was nicht ohne einen geradezu surrealen Reiz ist.
Ansonsten läßt er ein krauses Neben- und Durcheinander walten; das ist ihm überhaupt nicht peinlich, sondern Programm. Denn dieser Autor ist, auch wenn der Begriff hier überraschen sollte, ein Aufklärer; Nebel zu zerstreuen und im hellen Licht zu zeigen, was war, ist ein Movens der Familien- wie der Kollektivgeschichte. Das gilt um so mehr, wenn er selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird. Wie Rousseau, mit seinen "Confessions" der radikalste unter den Aufklärern, schreckt Kempowski mit seinem Journal intime vor nichts zurück, auch nicht vor Banalitäten.
Was wir zu lesen bekommen, ist also das "Schwappen eines mitteleuropäischen Kopfinhaltes", das "unqualifizierte ressentimentale Gebrummse", wie es unübertrefflich Peter Rühmkorf über sein eigenes, vergleichbares Unternehmen "TABU I" formuliert hat. Wie Rühmkorf und wie jeder Durchschnittszuschauer sitzt Kempowski im Herbst '89 fassungslos vor dem Fernseher, als die deutsche Botschaft in Prag gestürmt und die Berliner Mauer geöffnet wird, er staunt und stammelt, spekuliert und jubiliert - ohne irgendeinen Erkenntnisgewinn daraus destillieren zu wollen. Rührend sein Versuch der aktiven Teilnahme, sein Bemühen, mit Besuchern aus Ostdeutschland ins Gespräch zu kommen. Einladungen ins Café oder auf ein Bier werden mißtrauisch abgebogen. Immerhin gelingt es ihm, eine Familie aus seiner Heimatstadt Rostock in sein Haus mitzunehmen, da erfährt er dann doch etwas.
Kempowski verbringt, da ist er nicht anders als ein Großteil der Deutschen, eine erkleckliche Zeit vor dem Bildschirm, nicht nur aus professionellen Motiven (wie 1999, als er aus einem Tagesangebot von 37 Kanälen seinen "Bloomsday" collagierte). Er konsumiert, und er notiert, was ihm dazu so einfällt. Meist aber arbeitet er, rastlos und wie ein Getriebener - "ein verordnetes Lebenswerk lastet auf mir" - und immer an mehreren Projekten gleichzeitig. Im Berichtszeitraum ist es das erste "Echolot", das Tagebuch "Sirius" und schließlich der Polen-Roman "Mark und Bein". Dazu kommen Lesereisen, eine regelmäßige Veranstaltung für angehende Pädagogen in Oldenburg (Kempowski war selbst jahrelang Landlehrer), eigene Literaturseminare und die Betreuung von Besuchern, die das Haus in Nartum nahezu ohne Unterbrechung bevölkern. Die sind eine Lust und eine Last. Kempowski braucht Anregung und Anreize, er hofft auf "Plankton" - das sind Kindheitseindrücke seiner Besucher - und eine starke Dosis Bewunderung.
Aber das erste bleibt meist aus und das zweite auch: Es gibt zu viele apathische Schulklassen, die den Mund nicht aufkriegen, Volkshochschulkursdamen, die seine Bücher nicht einmal kennen, Studenten, die endlich sein "bürgerliches Bewußtsein" entlarven wollen, oder Journalisten, die immer dieselben Fragen stellen und die Antworten nicht hören wollen.
Kempowski ist auch ein Virtuose des Gekränktwerdens. Nie bekommt er, was ihm zusteht, und wenn doch, ist es zuwenig, zu spät oder sonstwie daneben. Ihn kränkt, daß ihm die Stadt Lübeck bei einem Empfang zu seinem sechzigsten Geburtstag das Goldene Buch vorenthält, daß die "sogenannten Kollegen" nicht erscheinen und die Hotelchefin ihn nicht gleich erkennt. Das ZDF übergeht den Ehrentag mit Schweigen. Die Buchhändlerin "boykottiert mich irgendwie", es liegen zuwenig Exemplare aus. Schlimmer noch in Trier: Da steht gar kein Titel von ihm im Regal. Unter seinen Studenten, erfährt er, "wird planmäßig gegen mich gehetzt". In den Schulen wird nicht Kempowski gelesen, sondern "immer noch Böll".
Die Dänen und die Schweden laden ihn nicht ein, die Goethe-Institute auch nicht: "Die Konsequenz, mit der sie mich schneiden! Warum? Afrika, Asien, Australien, Frankreich, Südamerika. Nix und nie." Villa Massimo: Fehlanzeige. "Das ist für die 68er. Da stört unsereiner." Sein Verlag (der immerhin das monumentale "Echolot" schultert) stellt die "Befragungsbücher" ("Haben Sie Hitler gesehen?") nicht in den richtigen Zusammenhang mit der Chronik: "Daß man sein Werk so beschädigen läßt!" Heftige Abneigung schlägt den Käufern von Taschenbuchausgaben entgegen, da ist der Autorenanteil geringer: Ein rechter Geizkragen ist der Auflagenmillionär auch ("Sie denken, ich verdiene mich dumm und dämlich; dabei pfeife ich auf dem letzten Loch"). Selbst das Seniorenheim Eilenriede bei Hannover schafft es, ihn zu verletzen: Denn da waren vor ihm schon Krolow e tutti quanti - "daß die erst jetzt auf mich kommen". Kempowski leidet mit Inbrunst, und er pflegt seine Paranoia mit Liebe. Feinde und Verfolger suchen ihm zu schaden, Linke natürlich, Alt-68er, verbohrte Ideologen. "Diese Leute sitzen überall." Aus Angst, Abwehr und Aggression wird er gelegentlich schrill und schief. Sein Sohn bekommt ein Praktikum beim NDR nicht: "Sippenhaft!" schreit Kempowski, und der "Meinungsterror", den er überall sieht, "hat sich derart verschärft, daß man um seine Existenz fürchten muß." Gegen ihn ist Martin Walser ein Mensch von dickfelliger Gemütsruhe.
Erst wenn "die Straßen unserer Städte voll Menschen sind, die im Gehen Kempowski lesen, haben wir es geschafft": Das glaubt er natürlich selber nicht. Denn ebenso sicher weiß er genau, daß die vielen Mikro-Kränkungen, an denen entlang er sich durchs Jahr hangelt und mosert, ihn immerhin von der großen, nie ganz bewältigten Verletzung seiner Jugend ablenken. 1948 wurde der Neunzehnjährige von einem russischen Militärgericht wegen "Spionage" zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt (in Wirklichkeit hatte er nur die Demontage der väterlichen Reederei durch die Besatzer dokumentiert).
Acht Jahre mußte er absitzen, und auch sein Bruder und seine Mutter verbüßten lange Haftstrafen aufgrund ähnlicher Unrechtsurteile - er war es, der sie dort unwillentlich hineingezogen hatte. Ein unentwirrbares Knäuel von Täter- und Opferschaft, ein Trauma und ein Schuldkomplex, unmöglich zu bewältigen. Dazu kommt noch, daß aus seiner Sicht das an ihm begangene Verbrechen - gestohlene, getötete Lebenszeit - nach der Entlassung im Westen fortgesetzt wurde: Ein Hamburger Amtsrichter verweigerte ihm die Anerkennung als politischer Flüchtling ("Sie sind für mich ein ganz gewöhnlicher Krimineller"). Und dann wollte von seiner Leidenszeit niemand etwas wissen: Schlechte Nachrichten über die DDR waren damals nicht opportun.
Andererseits: Wenn man ihn seinerzeit mit offenen Armen empfangen hätte, "hätte ich kein einziges Buch geschrieben". Kränkungen und Verletzungen, so funktioniert die künstlerische Alchimie, sind der Katalysator großer Werke; auch Kempowski bedient sich dieser Erklärung für seine manische Produktivität: "Daß man mich ganz klein machte, ermöglichte es mir zu wachsen." Vom Komplex Bautzen (den er dreimal bereits literarisch behandelt hat, eine vierte Version liegt bis zu seinem Tode unter Verschluß) hat sich Kempowski nicht gelöst, aber ihn ins Allgemeine, ins Kollektive, ins Gigantische transponiert.
Mit dem "Echolot" macht er das Trauma zur Epoche. Ein Tagebuch wie "Alkor" (das ist der Name eines kleinen Sterns im Großen Wagen) ist Entlastung von dieser herkulischen Umgrabe- und Restaurationsarbeit, und seine Publikation bereitet ihm ganz offensichtlich eine klammheimliche, diebische Freude. Das ist seine Tagebuch-Therapie. Seht her, so bin ich, scheint er uns zuzuzwinkern - so banal und ängstlich, neidisch und geizig, so rührend spießig. Seid ihr denn nicht auch so? Ihr traut euch bloß nicht, es zuzugeben.
Walter Kempowski: "Alkor". Tagebuch 1989. Knaus Verlag, München 2001. 608 S., geb., 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Walter Kempowski überlebt einen Umbruch / Von Martin Ebel
Walter Kempowski ist der heimliche Therapeut des deutschen Bürgertums. Mit seiner vielbändigen Familienchronik hat er ihm den Spiegel vorgehalten, in dem es sich wiedererkennen mag. Wer die Nazizeit und den Weltkrieg bewußt erlebt hatte und sich als Opfer der Geschichte fühlte, sich in der öffentlichen Rede aber als Teil einer kollektiven Täterschaft gebrandmarkt sah, fand sich in jenen gutartigen Gestalten richtig dargestellt, die Klavier spielten und Bildungsgut repetierten, während draußen ihre Welt in Scherben ging. Daß der ausgestellte Normalitätswille mit all den Schnacks und Schnurren, die nicht zuletzt durch die kongenialen Verfilmungen Eberhard Fechners sprichwörtlich wurden, daß die unbekümmerte Naivität dieser Familie mit ihrem "Nein, wie isses bloß möglich" durch die Schrecken der historischen Ereignisse etwas Gespenstisches bekam, wurde bei erster Lektüre gern überlesen.
Überlesen auch von denen, die Kempowski selbst Naivität oder, schlimmer, Beschönigung der Vergangenheit vorwarfen und ihn kurzerhand, so war das in den siebziger Jahren, in die rechte Ecke stellten - natürlich auch, weil er auf die DDR schon mit Fingern zeigte, als das in friedensbewegten und progressiven Kreisen noch nicht opportun war. Heute, mit größerem Abstand, ist eine differenziertere Lektüre der "Deutschen Chronik" leichter, ist es möglich, in den bürgerlichen Überlebenstechniken auch eine Leistung zu sehen, ohne das Versagen dieser Schicht gegenüber der Barbarei auszublenden. Kempowskis Familiengeschichte hat auch durch das immense "Echolot"-Projekt, das dieser Gedächtnisvirtuose und manische Vergangenheitsbewahrer seit fast zwei Jahrzehnten betreibt, einen anderen Stellenwert bekommen.
Zwei große Lieferungen über jeweils einige Wochen der Kriegsjahre 1943 und 1945 liegen bis jetzt vor, die auf vielen tausend Seiten Hunderte von "Stimmen" zum Sprechen bringen; eine große kollektive Erzählung, die wie das Querschiff in die Kathedrale des Kempowskischen Erinnerungswerks eingezogen ist. Weitere Lieferungen sind vorgesehen, die nächste wird das Kriegsende behandeln, und über allem spannt sich als riesiges virtuelles Gebäude das Unternehmen "Ortslinien", das gleich ein ganzes Jahrhundert dokumentieren soll, in Wort und Ton, Bild und Film. Ein unvollendbares Werk, für das der einzige denkbare Behälter ein Faß ohne Boden ist: das Internet.
Wo bleibt in diesen Materialschlachten die eigene Stimme? In seinen Tagebüchern. Nur da ist Kempowski nicht Chorleiter und Arrangeur, sondern ganz Mensch - und will es sein. Seit fast fünfzig Jahren schreibt er Tag für Tag in dicke Hefte, was ihn gefreut und geärgert hat, und ab und zu gibt er ein solches Heft der Öffentlichkeit zu lesen. Jetzt liegt nach "Sirius" (1990) das zweite vor. "Alkor" heißt das Tagebuch des Jahres 1989, es ist über sechshundert Seiten dick und läßt vom 1. Januar bis zum 31. Dezember keinen Tag aus.
Es läßt auch alles durch: Eine Zensur findet nicht statt. Es ist ein riskantes Unternehmen, sich so aus- und dabei auch bloßzustellen; jeder Tagebuchschreiber betreibt es mit einer gewissen Lustangst, jeder Leser ist auch ein bißchen ein Voyeur. Kempowski hat nur formal etwas Ordnung geschaffen; er leitet jeden Tag mit den Schlagzeilen der "Bild-Zeitung" und des "Neuen Deutschland" ein, was nicht ohne einen geradezu surrealen Reiz ist.
Ansonsten läßt er ein krauses Neben- und Durcheinander walten; das ist ihm überhaupt nicht peinlich, sondern Programm. Denn dieser Autor ist, auch wenn der Begriff hier überraschen sollte, ein Aufklärer; Nebel zu zerstreuen und im hellen Licht zu zeigen, was war, ist ein Movens der Familien- wie der Kollektivgeschichte. Das gilt um so mehr, wenn er selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird. Wie Rousseau, mit seinen "Confessions" der radikalste unter den Aufklärern, schreckt Kempowski mit seinem Journal intime vor nichts zurück, auch nicht vor Banalitäten.
Was wir zu lesen bekommen, ist also das "Schwappen eines mitteleuropäischen Kopfinhaltes", das "unqualifizierte ressentimentale Gebrummse", wie es unübertrefflich Peter Rühmkorf über sein eigenes, vergleichbares Unternehmen "TABU I" formuliert hat. Wie Rühmkorf und wie jeder Durchschnittszuschauer sitzt Kempowski im Herbst '89 fassungslos vor dem Fernseher, als die deutsche Botschaft in Prag gestürmt und die Berliner Mauer geöffnet wird, er staunt und stammelt, spekuliert und jubiliert - ohne irgendeinen Erkenntnisgewinn daraus destillieren zu wollen. Rührend sein Versuch der aktiven Teilnahme, sein Bemühen, mit Besuchern aus Ostdeutschland ins Gespräch zu kommen. Einladungen ins Café oder auf ein Bier werden mißtrauisch abgebogen. Immerhin gelingt es ihm, eine Familie aus seiner Heimatstadt Rostock in sein Haus mitzunehmen, da erfährt er dann doch etwas.
Kempowski verbringt, da ist er nicht anders als ein Großteil der Deutschen, eine erkleckliche Zeit vor dem Bildschirm, nicht nur aus professionellen Motiven (wie 1999, als er aus einem Tagesangebot von 37 Kanälen seinen "Bloomsday" collagierte). Er konsumiert, und er notiert, was ihm dazu so einfällt. Meist aber arbeitet er, rastlos und wie ein Getriebener - "ein verordnetes Lebenswerk lastet auf mir" - und immer an mehreren Projekten gleichzeitig. Im Berichtszeitraum ist es das erste "Echolot", das Tagebuch "Sirius" und schließlich der Polen-Roman "Mark und Bein". Dazu kommen Lesereisen, eine regelmäßige Veranstaltung für angehende Pädagogen in Oldenburg (Kempowski war selbst jahrelang Landlehrer), eigene Literaturseminare und die Betreuung von Besuchern, die das Haus in Nartum nahezu ohne Unterbrechung bevölkern. Die sind eine Lust und eine Last. Kempowski braucht Anregung und Anreize, er hofft auf "Plankton" - das sind Kindheitseindrücke seiner Besucher - und eine starke Dosis Bewunderung.
Aber das erste bleibt meist aus und das zweite auch: Es gibt zu viele apathische Schulklassen, die den Mund nicht aufkriegen, Volkshochschulkursdamen, die seine Bücher nicht einmal kennen, Studenten, die endlich sein "bürgerliches Bewußtsein" entlarven wollen, oder Journalisten, die immer dieselben Fragen stellen und die Antworten nicht hören wollen.
Kempowski ist auch ein Virtuose des Gekränktwerdens. Nie bekommt er, was ihm zusteht, und wenn doch, ist es zuwenig, zu spät oder sonstwie daneben. Ihn kränkt, daß ihm die Stadt Lübeck bei einem Empfang zu seinem sechzigsten Geburtstag das Goldene Buch vorenthält, daß die "sogenannten Kollegen" nicht erscheinen und die Hotelchefin ihn nicht gleich erkennt. Das ZDF übergeht den Ehrentag mit Schweigen. Die Buchhändlerin "boykottiert mich irgendwie", es liegen zuwenig Exemplare aus. Schlimmer noch in Trier: Da steht gar kein Titel von ihm im Regal. Unter seinen Studenten, erfährt er, "wird planmäßig gegen mich gehetzt". In den Schulen wird nicht Kempowski gelesen, sondern "immer noch Böll".
Die Dänen und die Schweden laden ihn nicht ein, die Goethe-Institute auch nicht: "Die Konsequenz, mit der sie mich schneiden! Warum? Afrika, Asien, Australien, Frankreich, Südamerika. Nix und nie." Villa Massimo: Fehlanzeige. "Das ist für die 68er. Da stört unsereiner." Sein Verlag (der immerhin das monumentale "Echolot" schultert) stellt die "Befragungsbücher" ("Haben Sie Hitler gesehen?") nicht in den richtigen Zusammenhang mit der Chronik: "Daß man sein Werk so beschädigen läßt!" Heftige Abneigung schlägt den Käufern von Taschenbuchausgaben entgegen, da ist der Autorenanteil geringer: Ein rechter Geizkragen ist der Auflagenmillionär auch ("Sie denken, ich verdiene mich dumm und dämlich; dabei pfeife ich auf dem letzten Loch"). Selbst das Seniorenheim Eilenriede bei Hannover schafft es, ihn zu verletzen: Denn da waren vor ihm schon Krolow e tutti quanti - "daß die erst jetzt auf mich kommen". Kempowski leidet mit Inbrunst, und er pflegt seine Paranoia mit Liebe. Feinde und Verfolger suchen ihm zu schaden, Linke natürlich, Alt-68er, verbohrte Ideologen. "Diese Leute sitzen überall." Aus Angst, Abwehr und Aggression wird er gelegentlich schrill und schief. Sein Sohn bekommt ein Praktikum beim NDR nicht: "Sippenhaft!" schreit Kempowski, und der "Meinungsterror", den er überall sieht, "hat sich derart verschärft, daß man um seine Existenz fürchten muß." Gegen ihn ist Martin Walser ein Mensch von dickfelliger Gemütsruhe.
Erst wenn "die Straßen unserer Städte voll Menschen sind, die im Gehen Kempowski lesen, haben wir es geschafft": Das glaubt er natürlich selber nicht. Denn ebenso sicher weiß er genau, daß die vielen Mikro-Kränkungen, an denen entlang er sich durchs Jahr hangelt und mosert, ihn immerhin von der großen, nie ganz bewältigten Verletzung seiner Jugend ablenken. 1948 wurde der Neunzehnjährige von einem russischen Militärgericht wegen "Spionage" zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt (in Wirklichkeit hatte er nur die Demontage der väterlichen Reederei durch die Besatzer dokumentiert).
Acht Jahre mußte er absitzen, und auch sein Bruder und seine Mutter verbüßten lange Haftstrafen aufgrund ähnlicher Unrechtsurteile - er war es, der sie dort unwillentlich hineingezogen hatte. Ein unentwirrbares Knäuel von Täter- und Opferschaft, ein Trauma und ein Schuldkomplex, unmöglich zu bewältigen. Dazu kommt noch, daß aus seiner Sicht das an ihm begangene Verbrechen - gestohlene, getötete Lebenszeit - nach der Entlassung im Westen fortgesetzt wurde: Ein Hamburger Amtsrichter verweigerte ihm die Anerkennung als politischer Flüchtling ("Sie sind für mich ein ganz gewöhnlicher Krimineller"). Und dann wollte von seiner Leidenszeit niemand etwas wissen: Schlechte Nachrichten über die DDR waren damals nicht opportun.
Andererseits: Wenn man ihn seinerzeit mit offenen Armen empfangen hätte, "hätte ich kein einziges Buch geschrieben". Kränkungen und Verletzungen, so funktioniert die künstlerische Alchimie, sind der Katalysator großer Werke; auch Kempowski bedient sich dieser Erklärung für seine manische Produktivität: "Daß man mich ganz klein machte, ermöglichte es mir zu wachsen." Vom Komplex Bautzen (den er dreimal bereits literarisch behandelt hat, eine vierte Version liegt bis zu seinem Tode unter Verschluß) hat sich Kempowski nicht gelöst, aber ihn ins Allgemeine, ins Kollektive, ins Gigantische transponiert.
Mit dem "Echolot" macht er das Trauma zur Epoche. Ein Tagebuch wie "Alkor" (das ist der Name eines kleinen Sterns im Großen Wagen) ist Entlastung von dieser herkulischen Umgrabe- und Restaurationsarbeit, und seine Publikation bereitet ihm ganz offensichtlich eine klammheimliche, diebische Freude. Das ist seine Tagebuch-Therapie. Seht her, so bin ich, scheint er uns zuzuzwinkern - so banal und ängstlich, neidisch und geizig, so rührend spießig. Seid ihr denn nicht auch so? Ihr traut euch bloß nicht, es zuzugeben.
Walter Kempowski: "Alkor". Tagebuch 1989. Knaus Verlag, München 2001. 608 S., geb., 58,- DM.
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