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Hommage an eine untergegangene Türkei: Sedef Ecers Roman „All die Frauen, die du warst“
Es gab eine Zeit, in der das populäre türkische Kino fast so freizügig war, wie es heute einige der erfolgreichen türkischen Netflix-Serien sind. Da fielen in Serie historische wie alltägliche Tabus, als würde ein alter Kleiderschrank ausgemistet. Und es sind heute, wie vor 50 Jahren im Kino, vor allem Frauenrollen, die sich an Klischees abarbeiten dürfen.
Eigentlich sollten es Selbstverständlichkeiten sein, die da im Jahr 2022 behandelt werden: die soziale Spaltung der Gesellschaft, das Schicksal der Minderheiten in der Türkei, Alltagsgewalt, zerbrochene Ehen, Frauen, die offen über sexuelle Wünsche reden. Aber angesichts des politischen Klimas im Land erstaunt diese spezielle Freizügigkeit doch. Auch das türkische Alltagskino erzählte in seiner Glanzzeit von den 1950ern bis Ende der 1970er Jahre Geschichten, die auf den ersten Blick profan wirkten, Geschichten von Wohnungsnot, Familienzwist, und immer wieder von Frauen, die selbstbewusst und alleinerziehend waren und sich große Freiheiten herausnahmen. Schauspielerinnen stiegen zu Heldinnen auf, ihre Namen werden in der Türkei bis heute mit Ehrfurcht buchstabiert: Türkan Şoray, Hülya Koçyiğit, Fatma Girik.
Sedef Ecer, geboren 1965 in Istanbul, war in dieser Kino-Epoche ein Kinderstar, erst auf der Bühne, dann auf der Leinwand. Heute lebt Ecer als Autorin und Regisseurin in Paris, sie hat erfolgreiche Theaterstücke und Drehbücher geschrieben und nun ihren ersten Roman. Er taucht in jenes Milieu ein, das sie seit ihrer Kindheit und Jugend kennt, in die Istanbuler Film- und Theaterwelt. Ecer erzählt, autobiografisch verwoben, nicht nur die filmreife Geschichte einer vielschichtigen Mutter-Tochter-Beziehung, sondern auch von ihrem schwierigen „Mutterland“. In der türkischen Sprache gibt es kein „Vaterland“, es heißt „ana vatan“, Mutterland.
Ecer packt dies in drei Akte, wie auf der Bühne, also Vorhang auf für drei Militärputsche: 1960, 1971, 1980. Nach dem zweiten Putsch verschwindet der Vater der Erzählerin, genannt Hülya, die sich in Paris den hybriden Vornamen Julya zugelegt hat, um nervigen Fragen nach ihrer Herkunft auszuweichen und ein „neuer Mensch“ zu werden, unbelastet von der Vergangenheit.
Doch das Verdrängte tritt ungefragt wieder in ihr Leben, mit einem Anruf aus Istanbul. Ihre Mutter, als Schauspielerin in der Türkei eine nationale Ikone, meldet sich wie aus dem Nichts. Der Kontakt war sporadisch geworden, nun ist die doch eigentlich unsterbliche Diva sterbenskrank. Ihre Beerdigung hat die Mutter schon als Inszenierung im Kopf, sie hat alles bedacht, Licht, Kostüm. Nur eine Trauerrede fehlt noch, die soll die Tochter im fernen Paris schreiben. Was für ein Auftrag!
Die türkischen Kindheits- und Koseworte der Mutter am Telefon lassen die mühsam erkämpfte Distanz dahinschmelzen. So schreibt Hülya schließlich ihre Familiengeschichte auf, unterstützt von Fotos und Gegenständen aus einem Koffer der Erinnerung. Damit erzählt Ecer nicht nur von der großen Zeit des türkischen Kinos, sondern auch von den Jahren davor, als die ersten muslimischen Schauspielerinnen die Theaterbühnen von Istanbul eroberten, wobei die Großmutter Hülyas auch schon Furore machte. Ecer schreibt über Frauen, die zu umschwärmten Identifikationsfiguren werden, und über Männer, die hinter Bühne und Leinwand die Fäden fest im Griff halten. Oder frühzeitig von der Bildfläche verschwinden, wie der mit kindlicher Naivität bewunderte Vater, ein Linker, der in irgendeinem Polizeikeller landet. Die tiefen Risse in der türkischen Gesellschaft gab es auch früher schon. Zuletzt kulminierten die Spannungen 2016 in einem Putschversuch, auch dieses Ereignis streift der Roman kurz. In der frühen Zeit des anatolischen Kinos waren zwar viele Filme in elegantem Schwarz-Weiß, aber die Fragen, die die Erzählerin Hülya der Vergangenheit stellt, entziehen sich immer wieder der einfachen Wahrnehmung von Hell und Dunkel. Wer hat den Vater einst an die Staatsmacht verraten? War es ein Geliebter der Mutter? „Dieses Land hat schon immer seine Kinder gefressen“, sagt die Mutter. „Dieses Land macht uns alle wahnsinnig.“
Ecer erzählt von Verletzungen, Trauer und Versöhnung. Voll emotionaler Wucht und Zärtlichkeit. Sie lässt eine Welt wiederauferstehen, in der das Kino so wichtig war wie das Leben, in der Kantinen in Fabriken zu Kinosälen wurden und Schauspielerinnen und Regisseure auch aufs platte Land zogen und mit einfachsten Mitteln großes Kino machten. In den alten Filmen gab es meist, nach viel Herz und Schmerz, ein Happy End. Der Roman findet dafür seine eigene Form.
CHRISTIANE SCHLÖTZER
Sedef Ecer: All die Frauen, die du warst. Roman. Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck. Piper Verlag, München 2022. 280 Seiten. 24 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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