Als im März 2014 ein Flugzeug auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking plötzlich vom Radar verschwindet, hat für Helgard Haug der Abschied vom Vater gerade begonnen. Sein Gedächtnis wird unzuverlässig, die Orientierung immer schwieriger, der ehedem wortmächtige Mann versinkt, er driftet ab - wie, ungefähr zur selben Zeit, die MH 370 mit 239 Passagieren an Bord im Meer. All right. Good night, soll der letzte Funkspruch des Piloten gelautet haben. Danach verliert sich die Spur. War es ein Unfall? Ein Anschlag oder Suizid? Das Flugzeug bleibt verschwunden, die Ursache des Absturzes ungeklärt. Die Vergesslichkeit des Vaters aber bekommt einen Namen: Demenz. Über einen Zeitraum von acht Jahren zeichnet Helgard Haug das Verschwinden, die Suche und das Ringen mit der Ungewissheit nach, verknüpft sie die eigene Erfahrung mit der Trauerarbeit der Hinterbliebenen des Unglücksflugs. Das Prosadebüt einer der prägendsten Stimmen des deutschsprachigen Theaters, ein Buch, das berührt und erhellt, wie persönlicher Verlust und das Leiden anderer zusammengehen. Die gleichnamige Inszenierung wurde zum Theatertreffen eingeladen, für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und von Theater Heute zur «Inszenierung des Jahres» erklärt.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Irene Bazinger staunt, wie gekonnt die Autorin und Theaterregisseurin Haug in ihrem Buch zwei Dinge verwebt, die nichts miteinander zu tun haben: die Demenzkrankheit ihres Vaters und das unaufgeklärte Verschwinden des Flugzeugs Boeing MH 370 im Jahre 2014. Wie Haug in dem Buch, ursprünglich ein Theaterstück, mindestens eine "suggestive Eindringlichkeit" schafft, immer wieder aber sogar erstaunlich treffende Analogien zustande bringt - etwa zwischen der eigenen Trauer um das Bewusstsein des Vaters und den trauernden Angehörigen der verschollenen Boeing-Passagiere, oder zwischen dem Ins-Nichts-Auflösen sowohl der väterlichen Luzidität als auch des riesigen Flugzeugs -, findet Bazinger "verblüffend" und "subtil". Auch Haugs akribische Materialrecherche zur MH 370 beeindruckt sie. Stellenweise ist ihr die "Indiskretion", mit der Haug über ihren Vater schreibt, etwas unangenehm, wie auch die Tatsache, dass dieser Mann mit wenigen Klicks im Internet zu finden sei - aber glücklicherweise gerate das bei dem "narrativen Sog", den Haug zu kreieren vermöge, schnell in Vergessenheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Nicht nur ein herausragendes Stück dokumentarischer Literatur, sondern auch ein ungemein besonnenes und feines Vaterbuch ... ein großartiger Roman. Shirin Sojitrawalla Deutschlandfunk "Büchermarkt" 20230719
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2023Noch hier,
schon fort
Helgard Haugs intimer
Roman über Verluste, die man
nicht betrauern kann
Irgendwann geht es nicht mehr. Der an Demenz erkrankte Vater von Helgard Haug muss in ein Pflegeheim umziehen. Nach einer Eingewöhnungsphase blüht er auf: „Hat seine Rolle gefunden: als Leiter der Einrichtung. Schwingt große Reden. Schaut alles an, mit wachem Blick“, schreibt Haug: „Dies hier ist zur Chefsache geworden. Ein genialer Schachzug seines Gehirns.“ Während seine Persönlichkeit verschwindet, bäumt sich das Hirn dagegen auf, er reimt sich eine Welt zusammen, die ihm erträglich ist: eine, in der er seine Souveränität nicht verliert. Dazu gehört auch, dass er unwillkürlich versucht, mehr Erinnerungen aus dem Gedächtnis abzurufen, als eigentlich da sind.
Der Fachbegriff für diesen Versuch, den Haug in ihrem Buch „All right. Good night“ schildert, lautet Konfabulation, erklärt ihr ein Arzt. Das Fabulieren als Kompensation für einen totalen Kontrollverlust, zieht sich durch das Buch, das als Roman firmiert und kühn zwei Geschichten vom Verschwinden verbindet. Da ist auf der einen Seite das Verschwinden des Wesens ihres Vaters: Zuletzt bleiben von seiner Person allein die letzten Vitalzeichen des Organismus.
Demgegenüber steht die Geschichte des verschollenen Fluges MH 370: Im März 2014 brach eine Boeing der Malaysian Airlines zu einem Flug von Kuala Lumpur nach Peking auf. Nach kurzer Flugdauer war die Maschine auf keinem Radar mehr aufzufinden und drehte um, wie spätere Ermittlungen zeigten. Der Flug endete an unbekannter Stelle im Indischen Ozean. Während der Suche nach Überresten der Maschine und der 239 von ihr beförderten Personen kam es zu Fehlern, die für die Angehörigen der Passagiere qualvoll mitzuerleben waren. Erst kürzlich ist wieder ein Wrackteil aufgetaucht. Knapp zehn Jahre nach seinem Verschwinden sind die möglichen Gründe dafür vermehrt worden: Man zog eine Flugzeugentführung in Betracht, einen Abschuss durch die amerikanische Flugabwehr und einen Suizid des Piloten. Nichts davon ist belegbar.
Haug hat für ihr Buch mit Angehörigen der Passagiere gesprochen, die vor allem unter der Unabgeschlossenheit der Geschichte des Verlusts ihrer Angehörigen leiden. Krude Erklärungsversuche könnte man auch in diesem Zusammenhang als Konfabulationen deuten. Sie sollen einem Geschehen Sinn verleihen, das eigentlich nur als Katastrophe hinzunehmen ist.
„All right. Good night“ erscheint jetzt als Romanfassung eines Theaterstücks, das im Dezember 2021 im Berliner Theater Hebbel am Ufer seine Premiere erlebte. Helgard Haug, die als Mitglied des Kollektivs Rimini Protokoll seit den 2000er-Jahren zahlreiche Theaterstücke und Hörspiele geschrieben und realisiert hat, ließ in dieser Inszenierung einen Satz in den Bühnenraum projizieren, der in der Romanfassung des Stücks fehlt. Die Geschichte des Flugs der MH 370 könne man, so vereindeutigte sie dort, wie die Reise ihres Vaters erzählen. Auf der Bühne erzeugte dabei die von Barbara Morgenstern für das Stück komponierte und vom Zafraan Ensemble aufgeführte Musik eine gravitätische Stimmung. Der schmale Roman kommt luftiger daher, was dem Text guttut. Sein Thema ist schwer genug.
Von der amerikanischen Psychologin Pauline Boss übernimmt Haug den Begriff ambiguous loss: „‚Nur indem du zwei völlig widersprüchliche Gedanken zeitgleich aushältst, kannst du mit ambiguous loss leben oder überleben!‘ Du bist hier, vielleicht aber schon fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier. Diesen Gedanken auszuhalten, sollte man früh üben.“ In verdichteter Form beschreibt Haug, wie der ambiguous loss Menschen in Lähmung. Sowohl die Hinterbliebenen von Flug MH 370 als auch Haug selbst, die miterleben muss, wie ihr Vater ihr immer mehr entgleitet, können nicht auf einen eindeutigen Verlust mit dem eindeutigen Gefühl der Trauer reagieren. Von dem geliebten Menschen ist nur immer weniger da.
Haug schreibt größtenteils in von unnötigen Adjektiven befreiten Hauptsätzen. Der protokollarische Stil ist nicht nur geeignet, die Wucht ihrer eigenen Erfahrungen mit der Krankheit ihres Vaters mit dezenter Distanz abzufedern. Die Nüchternheit, mit der sie die Erlebnisse der Hinterbliebenen des Flugs MH370 in knappen Absätzen beschreibt, ist auch Ausweis höchsten Respekts. Haug vermeidet das Grauen, das die Überlebenden erfahren mussten, durch ihre eigenen Gefühle irgendwie zu qualifizieren. Die Verschränkung einer intimen Familiengeschichte mit einem Ereignis, das vielen nur als tragische Sensation aus den Nachrichten bekannt ist, gelingt auf großartige Weise. Sie gibt der öffentlichen Tragödie die Privatheit des individuellen Erlebens zurück.
HANNA ENGELMEIER
Erzählen soll etwas Sinn
verleihen, das als Katastrophe
hinzunehmen wäre
Helgard Haug:
All right. Good night.
Roman. Rowohlt,
Hamburg 2023.
155 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
schon fort
Helgard Haugs intimer
Roman über Verluste, die man
nicht betrauern kann
Irgendwann geht es nicht mehr. Der an Demenz erkrankte Vater von Helgard Haug muss in ein Pflegeheim umziehen. Nach einer Eingewöhnungsphase blüht er auf: „Hat seine Rolle gefunden: als Leiter der Einrichtung. Schwingt große Reden. Schaut alles an, mit wachem Blick“, schreibt Haug: „Dies hier ist zur Chefsache geworden. Ein genialer Schachzug seines Gehirns.“ Während seine Persönlichkeit verschwindet, bäumt sich das Hirn dagegen auf, er reimt sich eine Welt zusammen, die ihm erträglich ist: eine, in der er seine Souveränität nicht verliert. Dazu gehört auch, dass er unwillkürlich versucht, mehr Erinnerungen aus dem Gedächtnis abzurufen, als eigentlich da sind.
Der Fachbegriff für diesen Versuch, den Haug in ihrem Buch „All right. Good night“ schildert, lautet Konfabulation, erklärt ihr ein Arzt. Das Fabulieren als Kompensation für einen totalen Kontrollverlust, zieht sich durch das Buch, das als Roman firmiert und kühn zwei Geschichten vom Verschwinden verbindet. Da ist auf der einen Seite das Verschwinden des Wesens ihres Vaters: Zuletzt bleiben von seiner Person allein die letzten Vitalzeichen des Organismus.
Demgegenüber steht die Geschichte des verschollenen Fluges MH 370: Im März 2014 brach eine Boeing der Malaysian Airlines zu einem Flug von Kuala Lumpur nach Peking auf. Nach kurzer Flugdauer war die Maschine auf keinem Radar mehr aufzufinden und drehte um, wie spätere Ermittlungen zeigten. Der Flug endete an unbekannter Stelle im Indischen Ozean. Während der Suche nach Überresten der Maschine und der 239 von ihr beförderten Personen kam es zu Fehlern, die für die Angehörigen der Passagiere qualvoll mitzuerleben waren. Erst kürzlich ist wieder ein Wrackteil aufgetaucht. Knapp zehn Jahre nach seinem Verschwinden sind die möglichen Gründe dafür vermehrt worden: Man zog eine Flugzeugentführung in Betracht, einen Abschuss durch die amerikanische Flugabwehr und einen Suizid des Piloten. Nichts davon ist belegbar.
Haug hat für ihr Buch mit Angehörigen der Passagiere gesprochen, die vor allem unter der Unabgeschlossenheit der Geschichte des Verlusts ihrer Angehörigen leiden. Krude Erklärungsversuche könnte man auch in diesem Zusammenhang als Konfabulationen deuten. Sie sollen einem Geschehen Sinn verleihen, das eigentlich nur als Katastrophe hinzunehmen ist.
„All right. Good night“ erscheint jetzt als Romanfassung eines Theaterstücks, das im Dezember 2021 im Berliner Theater Hebbel am Ufer seine Premiere erlebte. Helgard Haug, die als Mitglied des Kollektivs Rimini Protokoll seit den 2000er-Jahren zahlreiche Theaterstücke und Hörspiele geschrieben und realisiert hat, ließ in dieser Inszenierung einen Satz in den Bühnenraum projizieren, der in der Romanfassung des Stücks fehlt. Die Geschichte des Flugs der MH 370 könne man, so vereindeutigte sie dort, wie die Reise ihres Vaters erzählen. Auf der Bühne erzeugte dabei die von Barbara Morgenstern für das Stück komponierte und vom Zafraan Ensemble aufgeführte Musik eine gravitätische Stimmung. Der schmale Roman kommt luftiger daher, was dem Text guttut. Sein Thema ist schwer genug.
Von der amerikanischen Psychologin Pauline Boss übernimmt Haug den Begriff ambiguous loss: „‚Nur indem du zwei völlig widersprüchliche Gedanken zeitgleich aushältst, kannst du mit ambiguous loss leben oder überleben!‘ Du bist hier, vielleicht aber schon fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier. Diesen Gedanken auszuhalten, sollte man früh üben.“ In verdichteter Form beschreibt Haug, wie der ambiguous loss Menschen in Lähmung. Sowohl die Hinterbliebenen von Flug MH 370 als auch Haug selbst, die miterleben muss, wie ihr Vater ihr immer mehr entgleitet, können nicht auf einen eindeutigen Verlust mit dem eindeutigen Gefühl der Trauer reagieren. Von dem geliebten Menschen ist nur immer weniger da.
Haug schreibt größtenteils in von unnötigen Adjektiven befreiten Hauptsätzen. Der protokollarische Stil ist nicht nur geeignet, die Wucht ihrer eigenen Erfahrungen mit der Krankheit ihres Vaters mit dezenter Distanz abzufedern. Die Nüchternheit, mit der sie die Erlebnisse der Hinterbliebenen des Flugs MH370 in knappen Absätzen beschreibt, ist auch Ausweis höchsten Respekts. Haug vermeidet das Grauen, das die Überlebenden erfahren mussten, durch ihre eigenen Gefühle irgendwie zu qualifizieren. Die Verschränkung einer intimen Familiengeschichte mit einem Ereignis, das vielen nur als tragische Sensation aus den Nachrichten bekannt ist, gelingt auf großartige Weise. Sie gibt der öffentlichen Tragödie die Privatheit des individuellen Erlebens zurück.
HANNA ENGELMEIER
Erzählen soll etwas Sinn
verleihen, das als Katastrophe
hinzunehmen wäre
Helgard Haug:
All right. Good night.
Roman. Rowohlt,
Hamburg 2023.
155 Seiten, 22 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2023Plötzlich das Nichts
"All right. Good night." von Helgard Haug
Die deutsche Autorin und Regisseurin Helgard Haug ist Mitbegründerin der Künstlergruppe Rimini Protokoll. Diese hat sich auf ortsspezifische oder dokumentarische Produktionen mit Laien spezialisiert, die als "Experten des Alltags" sich selbst und ihre Biographien darstellen. Fiktion und Realität, private und allgemeine Zusammenhänge überschneiden sich, um im besten Fall ein neues erweitertes Bild eines Klassikers (Schillers "Wallenstein") oder eines Rimini-Konzepts ("Situation Rooms") zu ergeben.
Dieser Methode entspricht nun mit "All right. Good night." auch das erste Buch von Helgard Haug, das als "Roman" auf den Markt kommt, allerdings eines ihrer Theaterstücke ist, das unter gleichem Titel 2021 in Berlin uraufgeführt wurde. Haug verwebt darin auf dramaturgisch höchst subtile Weise die Demenzerkrankung ihres Vaters, dessen Persönlichkeit sich vor ihren Augen zersetzt, mit dem mysteriösen Verschwinden der Boeing MH 370 der Malaysian Airline, die 2014 in Kuala Lumpur startete, doch den Zielort Peking nie erreichte - und bis heute nicht gefunden wurde.
Beide Ereignisse haben nicht das Geringste miteinander zu tun, aber die gestandene Theaterfrau weiß die Geschichten dennoch raffiniert miteinander zu verknüpfen: "Die Boeing hat über 53.400 Betriebsstunden und 7526 Flüge absolviert. Der Vater ist im Frühjahr 2014 76 Jahre alt. Ich frage mich, wie viele Betriebsstunden er absolviert hat. 76×365×24. Rechnet man so? Hochtourig." Immer wieder gelingen Helgard Haug verblüffende Analogien, die sich um die Schlüsselbegriffe Verschwinden und Verlust drehen. Wo ist der Vater mit seiner Vergangenheit geblieben? Wo ist die Maschine mit ihren Passagieren geblieben? Wie ergeht es den Angehörigen? Wie konkret lässt sich die Wirklichkeit eines Lebens und die des Flugs MH 370 rekonstruieren?
Gegliedert nach Jahren, schildert Haug ihre individuelle Trauer über den Verfall des Vaters und spiegelt sie im kollektiven Leid jener Angehörigen, die nicht wissen, was aus ihren Verwandten im Flugzeug geworden ist. Die suchen schon lange nicht mehr nach Passagieren, sondern nach Antworten, heißt es einmal. Akribisch hat Helgard Haug Materialien studiert und Kontakte aufgebaut, sie zitiert aus unzähligen Berichten etwa von professionellen Wracksuchern, von Journalisten, Buchautoren und Verschwörungstheoretikern. Es handelt sich schließlich um eines der größten Rätsel der Luftfahrt, das hier zu einem spektakulären Wahrnehmungsphänomen wird: Wie kann sich ein voll besetztes Flugzeug in einem weiträumig überwachten Luftraum in nichts auflösen? Wie kann aus einem materiellen Etwas so rigoros ein unspezifisches Nichts werden?
Demgegenüber bleibt auch vom Vater nur wenig übrig. Er erkennt irgendwann weder sich selbst mehr noch seine Familie. Man merkt den Kummer und die Verunsicherung der Autorin, die dabei empathisch und genau beschreibt, wie der alte Herr zunehmend Orientierung und Halt verliert. Problematisch ist freilich, dass er mit ein paar Klicks im Internet zu eruieren ist. Der Preis für diese Trauerarbeit ist hoch. Das Buch hingegen ist einfühlsam und in Bezug auf MH 370 unglaublich spannend. Die Erzählstränge schaukeln sich in ihrer Unvereinbarkeit zu suggestiver Eindringlichkeit auf, verbinden sich in der Frage, was Realität ist und sich als solche beweisen lässt. Während Wittgenstein einst postulieren konnte, dass die Welt alles ist, was der Fall ist, resümiert Helgard Haug über ihren Vater: "Du bist hier, vielleicht aber auch fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier." Diese Unklarheit zwischen den Aggregatszuständen des Bewusstseins sind schwer zu ertragen.
Manchmal unangenehm in seiner Indiskretion, entwickelt "All right. Good night." trotzdem einen narrativen Sog, in dem sämtliche Bedenken verschwinden und der beim Lesen eine verzweifelte Hoffnung auf Antworten in diesem diffusen Entrückungsprozess evoziert. Vergebens, denn ob im Flugzeug über dem Indischen Ozean oder beim Spaziergang im deutschen Wald - nichts und niemand kann sich seiner sicher sein. Das teilt uns das Buch so packend wie lapidar mit: wie einen Appell, um bei allem Schmerz das Unabänderliche zu ertragen. IRENE BAZINGER
Helgard Haug: "All right. Good night". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"All right. Good night." von Helgard Haug
Die deutsche Autorin und Regisseurin Helgard Haug ist Mitbegründerin der Künstlergruppe Rimini Protokoll. Diese hat sich auf ortsspezifische oder dokumentarische Produktionen mit Laien spezialisiert, die als "Experten des Alltags" sich selbst und ihre Biographien darstellen. Fiktion und Realität, private und allgemeine Zusammenhänge überschneiden sich, um im besten Fall ein neues erweitertes Bild eines Klassikers (Schillers "Wallenstein") oder eines Rimini-Konzepts ("Situation Rooms") zu ergeben.
Dieser Methode entspricht nun mit "All right. Good night." auch das erste Buch von Helgard Haug, das als "Roman" auf den Markt kommt, allerdings eines ihrer Theaterstücke ist, das unter gleichem Titel 2021 in Berlin uraufgeführt wurde. Haug verwebt darin auf dramaturgisch höchst subtile Weise die Demenzerkrankung ihres Vaters, dessen Persönlichkeit sich vor ihren Augen zersetzt, mit dem mysteriösen Verschwinden der Boeing MH 370 der Malaysian Airline, die 2014 in Kuala Lumpur startete, doch den Zielort Peking nie erreichte - und bis heute nicht gefunden wurde.
Beide Ereignisse haben nicht das Geringste miteinander zu tun, aber die gestandene Theaterfrau weiß die Geschichten dennoch raffiniert miteinander zu verknüpfen: "Die Boeing hat über 53.400 Betriebsstunden und 7526 Flüge absolviert. Der Vater ist im Frühjahr 2014 76 Jahre alt. Ich frage mich, wie viele Betriebsstunden er absolviert hat. 76×365×24. Rechnet man so? Hochtourig." Immer wieder gelingen Helgard Haug verblüffende Analogien, die sich um die Schlüsselbegriffe Verschwinden und Verlust drehen. Wo ist der Vater mit seiner Vergangenheit geblieben? Wo ist die Maschine mit ihren Passagieren geblieben? Wie ergeht es den Angehörigen? Wie konkret lässt sich die Wirklichkeit eines Lebens und die des Flugs MH 370 rekonstruieren?
Gegliedert nach Jahren, schildert Haug ihre individuelle Trauer über den Verfall des Vaters und spiegelt sie im kollektiven Leid jener Angehörigen, die nicht wissen, was aus ihren Verwandten im Flugzeug geworden ist. Die suchen schon lange nicht mehr nach Passagieren, sondern nach Antworten, heißt es einmal. Akribisch hat Helgard Haug Materialien studiert und Kontakte aufgebaut, sie zitiert aus unzähligen Berichten etwa von professionellen Wracksuchern, von Journalisten, Buchautoren und Verschwörungstheoretikern. Es handelt sich schließlich um eines der größten Rätsel der Luftfahrt, das hier zu einem spektakulären Wahrnehmungsphänomen wird: Wie kann sich ein voll besetztes Flugzeug in einem weiträumig überwachten Luftraum in nichts auflösen? Wie kann aus einem materiellen Etwas so rigoros ein unspezifisches Nichts werden?
Demgegenüber bleibt auch vom Vater nur wenig übrig. Er erkennt irgendwann weder sich selbst mehr noch seine Familie. Man merkt den Kummer und die Verunsicherung der Autorin, die dabei empathisch und genau beschreibt, wie der alte Herr zunehmend Orientierung und Halt verliert. Problematisch ist freilich, dass er mit ein paar Klicks im Internet zu eruieren ist. Der Preis für diese Trauerarbeit ist hoch. Das Buch hingegen ist einfühlsam und in Bezug auf MH 370 unglaublich spannend. Die Erzählstränge schaukeln sich in ihrer Unvereinbarkeit zu suggestiver Eindringlichkeit auf, verbinden sich in der Frage, was Realität ist und sich als solche beweisen lässt. Während Wittgenstein einst postulieren konnte, dass die Welt alles ist, was der Fall ist, resümiert Helgard Haug über ihren Vater: "Du bist hier, vielleicht aber auch fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier." Diese Unklarheit zwischen den Aggregatszuständen des Bewusstseins sind schwer zu ertragen.
Manchmal unangenehm in seiner Indiskretion, entwickelt "All right. Good night." trotzdem einen narrativen Sog, in dem sämtliche Bedenken verschwinden und der beim Lesen eine verzweifelte Hoffnung auf Antworten in diesem diffusen Entrückungsprozess evoziert. Vergebens, denn ob im Flugzeug über dem Indischen Ozean oder beim Spaziergang im deutschen Wald - nichts und niemand kann sich seiner sicher sein. Das teilt uns das Buch so packend wie lapidar mit: wie einen Appell, um bei allem Schmerz das Unabänderliche zu ertragen. IRENE BAZINGER
Helgard Haug: "All right. Good night". Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main