In seinem neuen Buch erzählt Uwe Timm von seinen Lehrjahren als Kürschner im Hamburg der Fünfzigerjahre. Von kuriosen Erlebnissen im Beruf und der Welt der Mode, von besonderen Freundschaften und den Büchern, die sein Leben verändert haben. Hamburg 1955 - der noch 14-jährige Uwe wird von seinem Vater, dem Inhaber eines Pelzgeschäfts, in die Kürschnerlehre gegeben. Im Takt der Stechuhren lernt der junge Mann die kreative Präzision, die das heute fast ausgestorbene Handwerk erfordert, schult den Blick für das Material, die Kundinnen, die Tücken und Geheimnisse dieser Kunst. Er lauscht den Geschichten der Kollegen, schließt Freundschaften, bekommt Bücher empfohlen, entdeckt die Stadt und den Jazz. Der Lehrling, der vom Schreiben träumt, liest heimlich im Sortierzimmer Salinger und Camus, begleitet den »roten Erik« auf die Reeperbahn, erkundet mit dem Kollegen Johnny-Look, reichlich schüchtern noch, die Liebe, wird von Meister Kruse politisch initiiert und streitet sich nun umso intensiver mit dem Vater über die NS-Zeit. Inzwischen ist auf dem Pelzmarkt ein Preiskampf ausgebrochen, das Kürschnergeschäft der Familie floriert nicht mehr, und als der Vater plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt, muss der 18-Jährige ein völlig überschuldetes Geschäft sanieren. Die harte Arbeit und die großen Sorgen bringen ihn nicht ab von der Vorstellung eines ganz anderen Lebens. Ein großartiges Buch der Erinnerungen und des Aufbruchs, präzise und poetisch. Ein sprechendes Zeitbild, ein Initiationsroman der Liebe, des Lesens, des Arbeitens und Träumens.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Nicht abschrecken lassen sollte man sich von dem auf den ersten Blick wenig glamourösen Setting dieses Erinnerungsbuchs Uwe Timms, meint Rezensent Florian Eichel. Denn es gelingt Timm, so erläutert Eichel, die 1950er Jahre, in der der spätere Schriftsteller zunächst das Handwerk des Kürschners erlernte, aufregend darzustellen. Timm schreibt darüber, erfahren wir, wie er bei einem Pelzhändler in die Lehre ging, nebenbei die Widersprüche seines Wohnorts Hamburg kennenlernt und vor allem zur Literatur findet, der er sich dann zu Beginn der 1960er endgültig zuwendet. Es geht also, führt Eichel aus, um prägende Leseerfahrungen von Kafka bis Henry Miller, aber auch darum, wie die Arbeit mit Pelzen auf Timms spätere Arbeit an Texten verweist. Das alles ist hervorragend montiert und bereitet beim Lesen viel Freude, schließt der äußerst angetane Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2023Wie kompliziert das damals war
Hier machte er seine Kürschnerlehre: Ein Spaziergang mit dem Schriftsteller Uwe Timm durch Hamburg.
Von Anna Vollmer
Uwe Timm hat unsere Verabredung vergessen. Deshalb kommt er etwas zu spät in die Lobby seines Hotels in Hamburg und ist aufrichtig bestürzt über dieses Versehen: Er sei doch "preußisch erzogen worden"! Allerdings ist der Terminkalender im Moment wohl ziemlich voll. Im September ist Timms neues Buch "Alle meine Geister" erschienen, die Lesereise hat gerade begonnen. Außerdem ist der 83-Jährige an diesem Tag noch mit seinem ältesten Freund verabredet, sie kennen sich seit Kindertagen. Unseren geplanten Spaziergang lässt er trotzdem nicht ausfallen: "Das ist jetzt unsere Geschichte!" Der Freund hat zum Glück auch später noch Zeit. Wir laufen also los, Richtung Jungfernstieg.
Hamburg ist Timms Heimatstadt. Das ist daran zu merken, dass man ihm den Norden plötzlich anhört, obwohl er schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier wohnt: "Das ist ganz eigentümlich, dass diese Sprache, dieser Tonfall sich so eingeprägt haben." Anfang der Sechzigerjahre war Timm froh, die Stadt hinter sich zu lassen: "Dieser Moment, nach Braunschweig zu gehen und ein wirklich anderes Leben anzufangen, war so eine Befreiung." Und natürlich klingt das etwas seltsam, dass Hamburg, die große Hafenstadt, für ihn mit einer Enge verbunden ist, der er in Braunschweig entkommen wollte. Wer aber "Alle meine Geister" liest, wird schnell begreifen, was er damit meint. Denn dieses Buch, das man, wäre es nicht autobiographisch, wahrscheinlich einen Bildungsroman nennen würde, erzählt von der mitunter verstaubten, auch verdrucksten Atmosphäre der Hamburger Nachkriegsjahre. Von Timms Lehre als Kürschner, während der er davon träumte, etwas ganz anderes zu werden - Schriftsteller natürlich.
In der Chronologie ist "Alle meine Geister" zwischen zwei anderen Büchern Timms angesiedelt. In "Am Beispiel meines Bruders" hatte er die Geschichte seines älteren Bruders erzählt, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete und 1943 im Krieg fiel. Timm selbst war damals drei Jahre alt. In "Der Freund und der Fremde" beschrieb er seine Jahre am Braunschweig-Kolleg, wo er sein Abitur nachholte und sich mit seinem Mitschüler Benno Ohnesorg anfreundete. In "Alle meine Geister" widmet Timm sich nun seiner Jugend, den ersten Leseerfahrungen, den ersten Lieben. Es ist auch das Porträt einer lange vergangenen Zeit und eine melancholische Liebeserklärung an einen inzwischen fast ausgestorbenen Beruf. Zwar gab Timm diesen freiwillig auf und teilt die Kritik, die Tierschützer daran haben. Trotzdem möchte er dieses Handwerk, diese Kunst, deren Vorgehen fast an Timms collagenartige Erzähltechnik erinnert, zumindest in der Sprache bewahren: "Wegen seines Schutzes vor der Kälte ist der Pelzmantel ein schlichter Gebrauchsgegenstand, erst wenn die verschiedenen Farbtöne, die Haarlängen geordnet, also stimmig gemacht, oder im Gegenteil gekontert werden, entsteht aus dem natürlich Gewachsenen ein Künstliches, ein noch nie Gesehenes." Ein besonders talentierter Kürschnerkollege zeichnet seine Entwürfe, "als ginge es darum, Kathedralen zu bauen". Vom Alltag in einer Kürschnerwerkstatt, den verschiedenen Handgriffen erzählen - wer könnte das sonst noch? Timm hält beides fest, diese so sinnliche Tätigkeit und das soziale Gefüge, das sie umgibt.
Es ist eine Welt, von der man selten liest. Nicht nur weil sie, wie im Fall der Kürschnerei, nicht mehr existiert. Sondern auch weil es Bereiche des Lebens gibt, die in der Literatur wenig Platz finden. Viele Romane, sagt Timm, seien heute Beziehungsromane. Er habe beim Schreiben dagegen an einen Text von Isaac Singer gedacht, der den Alltag in einer Schneiderei schildert. Wir laufen an einem Nagelstudio vorbei, das unweit von Timms alter Werkstatt liegt. Auch ein Ort, von dem die Literatur selten spricht. Was für Geschichten gäbe es aus dieser Welt zu erzählen? Es fallen einem die Menschen aus "Alle meine Geister" ein, die damals in der Werkstatt zusammenkamen und den jugendlichen Timm auf so unterschiedliche Weise prägten. Viele mag man deshalb, weil Timm mit so viel aufmerksamem Wohlwollen von ihnen erzählt. Diese Haltung gegenüber anderen ist auch bei unserem Treffen zu bemerken. Ständig muss man aufpassen, schnell seine Fragen zu stellen, weil Timm einem sonst zuvorkommt. Was man in der Schule gelesen, was man studiert habe. Er sei, sagt er, eben ein neugieriger Mensch.
Timm schaut nach oben, zu einem großen Haus in der Bergstraße. Früher die Adresse von Levermann, seiner Lehrwerkstatt. Auf einem Balkon, den es jetzt nicht mehr gibt, saß er mit einer jungen Kollegin, in die er schüchtern verliebt war. Denn selbstverständlich gehörten zum Alltag in der Werkstatt auch Liebschaften, die bloß erträumten und die gelebten. Und die Ängste der Kolleginnen vor ungewollten Schwangerschaften, das Unglück, wenn es doch passierte. Sich aufeinander einzulassen sei deshalb immer "eine unglaubliche Entscheidung" gewesen, besonders für die Frauen, sagt Timm. Und erzählt, wie schwierig eine Annäherung gewesen sei. Heute, da man sich auf Apps wie Tinder mit relativ wenig Aufwand zum Sex verabreden kann, scheinen die Formalitäten eines Tanztees in maximaler Ferne zu liegen. Kommt ihm das alles im Rückblick nicht auch surreal vor? "Absolut, ja! Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie kompliziert, wie kodifiziert das damals war." Dieses Buch sei auch eine "education sentimentale". Wenn Timm selbst kaum glauben kann, wie sehr sich die Welt seit alldem verändert hat, sagt er bekräftigend: "Wirklich wahr!"
Ein anderes Thema, das "Alle meine Geister" prägt, ohne dabei direkt im Vordergrund zu stehen, ist der Krieg, der hier noch nicht lange vorbei ist. Mal im Gespräch mit dem Kürschner Walther Kruse, Sozialdemokrat und überzeugter Antifaschist. Mal fast nebenbei in einem einzigen Satz: "Er kam nach München, ein großer, massiger, gar nicht pompös auftretender Mann, dessen Biographie am leeren linken Jackenärmel abzulesen war", schreibt Timm etwa über sein Treffen mit dem Schriftsteller und Literaturredakteur Helmut Heißenbüttel. In der Kürschnerwerkstatt bringt der Krieg die Hierarchien durcheinander.
Da sind Lehrlinge, die älter sind als die anderen und denen mit größerem Respekt begegnet wird, weil sie im Krieg ranghohe Offiziere waren. Timm beschreibt seine Auseinandersetzung mit dem Vater, die eine Frage, die so viele ihren Eltern und Großeltern schon gestellt haben: Warum habt ihr nichts gemacht? Was wusstet ihr? Ein Held zu sein, ein Held des Widerstands, das könne man nicht erwarten, sagt Timm. Aber: "Da sind ja diese kleinen Dinge, diese Handlungsmöglichkeiten, die man hat." Etwas zu wissen und nicht zu melden. In der Straße, in der Timm wohnte, lebte zwölf Jahre versteckt ein Junge mit Downsyndrom, Karlchen. Hatten ihn die direkten Nachbarn nie spielen gehört? Es sind Fragen wie diese, die Timm sich in "Alle meine Geister" stellt.
Eine Frage, die man selbst hat, wenn man, viel jünger, mehr als vierzig Jahre nach dem Krieg geboren ist: Wie war das, dieser Alltag mit Menschen, die aus dem Krieg kamen und gemordet hatten? "Das waren ja fast alles Täter, die wenigsten waren es nicht. Das war die Normalität." Je mehr Zeit vergehe, desto grausamer komme ihm das alles vor. Damals sei das "sozusagen im Alltäglichen aufgelöst worden". Und erst jetzt sehe man, wie unglaublich fürchterlich und unverständlich das sei.
"Ganz normale Männer", ein Buch des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning, habe ihn vor einigen Jahren "richtig durchgeschüttelt". Es ist eine Formulierung, der man anhört, das prägende Leseerfahrungen für Timm nicht allein der Jugend vorbehalten sind. Er macht sie noch heute. Erst kürzlich, im Urlaub, sei er wieder "versunken" in einem Buch. "Lord Jim", von Josef Conrad. "Ihr bestraft euch selbst, wenn ihr so ein Buch nicht lest!"
Wenn Timm von den Büchern erzählt, die ihn geprägt haben, wenn er in "Alle meine Geister" darüber schreibt, dann gehören zu dieser Erzählung immer auch Menschen. Die Begeisterung für Literatur sei durch keinen Kanon in der Schule geweckt worden, nicht durch Pflicht, sondern durch Empfehlungen, sagt Timm. Auch durch Kollegen wie Walther Kruse. Ein anderer Kürschner machte Timm damals mit der Jazzmusik vertraut. "In der Zeit war es so, dass in den Volksschulklassen jeweils mindestens zehn Kinder saßen, die locker das Gymnasium geschafft hätten", sagt Timm.
Sein Beruf sei, auch weil er etwas Edles an sich hatte, sehr intellektualisiert gewesen. Die Kollegen lasen, sie erzählten. Wenn er über diese Begegnungen, Empfehlungen und Entdeckungen spricht, sagt Timm oft, sie seien ihm "geschenkt" worden. Wie "Der Fremde" von Camus, im wörtlichen und übertragenen Sinn, "doppelt geschenkt" also. Ein Freund kaufte es ihm, weil Timm kein Geld hatte. Der schrieb später seine Doktorarbeit darüber.
Schriftsteller, sagt Timm, der in der Schule eine Rechtschreibschwäche hatte und deshalb eine Lehre begann, statt weiter zur Schule zu gehen, habe er schon immer werden wollen. Dass ihm die Buchstabenkombinationen für die Dinge der Welt willkürlich vorkamen (warum schreibt man, überlegt der junge Timm, den Schwan mit einem a, wenn er doch zwei Flügel hat?), hielt ihn vom Erzählen und Lesen nicht ab. Damals sei die Literatur für ihn eine Gegenwelt zum ruppigen Alltag der Werkstatt gewesen. Eine Gegenwelt zum Kloschüsselputzen und Felle sortieren, den Dingen, die Lehrlinge machen müssen, wenn sie noch am Anfang ihrer Ausbildung stehen. Dass aus diesem Alltag, dem er durch das Lesen entfloh, nun selbst Literatur geworden ist, dass Timm uns diese Geschichten nun geschenkt hat, gehört zu seiner erstaunlichen Biographie.
Uwe Timm, "Alle meine Geister". Kiepenheuer und Witsch, 288 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier machte er seine Kürschnerlehre: Ein Spaziergang mit dem Schriftsteller Uwe Timm durch Hamburg.
Von Anna Vollmer
Uwe Timm hat unsere Verabredung vergessen. Deshalb kommt er etwas zu spät in die Lobby seines Hotels in Hamburg und ist aufrichtig bestürzt über dieses Versehen: Er sei doch "preußisch erzogen worden"! Allerdings ist der Terminkalender im Moment wohl ziemlich voll. Im September ist Timms neues Buch "Alle meine Geister" erschienen, die Lesereise hat gerade begonnen. Außerdem ist der 83-Jährige an diesem Tag noch mit seinem ältesten Freund verabredet, sie kennen sich seit Kindertagen. Unseren geplanten Spaziergang lässt er trotzdem nicht ausfallen: "Das ist jetzt unsere Geschichte!" Der Freund hat zum Glück auch später noch Zeit. Wir laufen also los, Richtung Jungfernstieg.
Hamburg ist Timms Heimatstadt. Das ist daran zu merken, dass man ihm den Norden plötzlich anhört, obwohl er schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier wohnt: "Das ist ganz eigentümlich, dass diese Sprache, dieser Tonfall sich so eingeprägt haben." Anfang der Sechzigerjahre war Timm froh, die Stadt hinter sich zu lassen: "Dieser Moment, nach Braunschweig zu gehen und ein wirklich anderes Leben anzufangen, war so eine Befreiung." Und natürlich klingt das etwas seltsam, dass Hamburg, die große Hafenstadt, für ihn mit einer Enge verbunden ist, der er in Braunschweig entkommen wollte. Wer aber "Alle meine Geister" liest, wird schnell begreifen, was er damit meint. Denn dieses Buch, das man, wäre es nicht autobiographisch, wahrscheinlich einen Bildungsroman nennen würde, erzählt von der mitunter verstaubten, auch verdrucksten Atmosphäre der Hamburger Nachkriegsjahre. Von Timms Lehre als Kürschner, während der er davon träumte, etwas ganz anderes zu werden - Schriftsteller natürlich.
In der Chronologie ist "Alle meine Geister" zwischen zwei anderen Büchern Timms angesiedelt. In "Am Beispiel meines Bruders" hatte er die Geschichte seines älteren Bruders erzählt, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete und 1943 im Krieg fiel. Timm selbst war damals drei Jahre alt. In "Der Freund und der Fremde" beschrieb er seine Jahre am Braunschweig-Kolleg, wo er sein Abitur nachholte und sich mit seinem Mitschüler Benno Ohnesorg anfreundete. In "Alle meine Geister" widmet Timm sich nun seiner Jugend, den ersten Leseerfahrungen, den ersten Lieben. Es ist auch das Porträt einer lange vergangenen Zeit und eine melancholische Liebeserklärung an einen inzwischen fast ausgestorbenen Beruf. Zwar gab Timm diesen freiwillig auf und teilt die Kritik, die Tierschützer daran haben. Trotzdem möchte er dieses Handwerk, diese Kunst, deren Vorgehen fast an Timms collagenartige Erzähltechnik erinnert, zumindest in der Sprache bewahren: "Wegen seines Schutzes vor der Kälte ist der Pelzmantel ein schlichter Gebrauchsgegenstand, erst wenn die verschiedenen Farbtöne, die Haarlängen geordnet, also stimmig gemacht, oder im Gegenteil gekontert werden, entsteht aus dem natürlich Gewachsenen ein Künstliches, ein noch nie Gesehenes." Ein besonders talentierter Kürschnerkollege zeichnet seine Entwürfe, "als ginge es darum, Kathedralen zu bauen". Vom Alltag in einer Kürschnerwerkstatt, den verschiedenen Handgriffen erzählen - wer könnte das sonst noch? Timm hält beides fest, diese so sinnliche Tätigkeit und das soziale Gefüge, das sie umgibt.
Es ist eine Welt, von der man selten liest. Nicht nur weil sie, wie im Fall der Kürschnerei, nicht mehr existiert. Sondern auch weil es Bereiche des Lebens gibt, die in der Literatur wenig Platz finden. Viele Romane, sagt Timm, seien heute Beziehungsromane. Er habe beim Schreiben dagegen an einen Text von Isaac Singer gedacht, der den Alltag in einer Schneiderei schildert. Wir laufen an einem Nagelstudio vorbei, das unweit von Timms alter Werkstatt liegt. Auch ein Ort, von dem die Literatur selten spricht. Was für Geschichten gäbe es aus dieser Welt zu erzählen? Es fallen einem die Menschen aus "Alle meine Geister" ein, die damals in der Werkstatt zusammenkamen und den jugendlichen Timm auf so unterschiedliche Weise prägten. Viele mag man deshalb, weil Timm mit so viel aufmerksamem Wohlwollen von ihnen erzählt. Diese Haltung gegenüber anderen ist auch bei unserem Treffen zu bemerken. Ständig muss man aufpassen, schnell seine Fragen zu stellen, weil Timm einem sonst zuvorkommt. Was man in der Schule gelesen, was man studiert habe. Er sei, sagt er, eben ein neugieriger Mensch.
Timm schaut nach oben, zu einem großen Haus in der Bergstraße. Früher die Adresse von Levermann, seiner Lehrwerkstatt. Auf einem Balkon, den es jetzt nicht mehr gibt, saß er mit einer jungen Kollegin, in die er schüchtern verliebt war. Denn selbstverständlich gehörten zum Alltag in der Werkstatt auch Liebschaften, die bloß erträumten und die gelebten. Und die Ängste der Kolleginnen vor ungewollten Schwangerschaften, das Unglück, wenn es doch passierte. Sich aufeinander einzulassen sei deshalb immer "eine unglaubliche Entscheidung" gewesen, besonders für die Frauen, sagt Timm. Und erzählt, wie schwierig eine Annäherung gewesen sei. Heute, da man sich auf Apps wie Tinder mit relativ wenig Aufwand zum Sex verabreden kann, scheinen die Formalitäten eines Tanztees in maximaler Ferne zu liegen. Kommt ihm das alles im Rückblick nicht auch surreal vor? "Absolut, ja! Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie kompliziert, wie kodifiziert das damals war." Dieses Buch sei auch eine "education sentimentale". Wenn Timm selbst kaum glauben kann, wie sehr sich die Welt seit alldem verändert hat, sagt er bekräftigend: "Wirklich wahr!"
Ein anderes Thema, das "Alle meine Geister" prägt, ohne dabei direkt im Vordergrund zu stehen, ist der Krieg, der hier noch nicht lange vorbei ist. Mal im Gespräch mit dem Kürschner Walther Kruse, Sozialdemokrat und überzeugter Antifaschist. Mal fast nebenbei in einem einzigen Satz: "Er kam nach München, ein großer, massiger, gar nicht pompös auftretender Mann, dessen Biographie am leeren linken Jackenärmel abzulesen war", schreibt Timm etwa über sein Treffen mit dem Schriftsteller und Literaturredakteur Helmut Heißenbüttel. In der Kürschnerwerkstatt bringt der Krieg die Hierarchien durcheinander.
Da sind Lehrlinge, die älter sind als die anderen und denen mit größerem Respekt begegnet wird, weil sie im Krieg ranghohe Offiziere waren. Timm beschreibt seine Auseinandersetzung mit dem Vater, die eine Frage, die so viele ihren Eltern und Großeltern schon gestellt haben: Warum habt ihr nichts gemacht? Was wusstet ihr? Ein Held zu sein, ein Held des Widerstands, das könne man nicht erwarten, sagt Timm. Aber: "Da sind ja diese kleinen Dinge, diese Handlungsmöglichkeiten, die man hat." Etwas zu wissen und nicht zu melden. In der Straße, in der Timm wohnte, lebte zwölf Jahre versteckt ein Junge mit Downsyndrom, Karlchen. Hatten ihn die direkten Nachbarn nie spielen gehört? Es sind Fragen wie diese, die Timm sich in "Alle meine Geister" stellt.
Eine Frage, die man selbst hat, wenn man, viel jünger, mehr als vierzig Jahre nach dem Krieg geboren ist: Wie war das, dieser Alltag mit Menschen, die aus dem Krieg kamen und gemordet hatten? "Das waren ja fast alles Täter, die wenigsten waren es nicht. Das war die Normalität." Je mehr Zeit vergehe, desto grausamer komme ihm das alles vor. Damals sei das "sozusagen im Alltäglichen aufgelöst worden". Und erst jetzt sehe man, wie unglaublich fürchterlich und unverständlich das sei.
"Ganz normale Männer", ein Buch des amerikanischen Historikers Christopher R. Browning, habe ihn vor einigen Jahren "richtig durchgeschüttelt". Es ist eine Formulierung, der man anhört, das prägende Leseerfahrungen für Timm nicht allein der Jugend vorbehalten sind. Er macht sie noch heute. Erst kürzlich, im Urlaub, sei er wieder "versunken" in einem Buch. "Lord Jim", von Josef Conrad. "Ihr bestraft euch selbst, wenn ihr so ein Buch nicht lest!"
Wenn Timm von den Büchern erzählt, die ihn geprägt haben, wenn er in "Alle meine Geister" darüber schreibt, dann gehören zu dieser Erzählung immer auch Menschen. Die Begeisterung für Literatur sei durch keinen Kanon in der Schule geweckt worden, nicht durch Pflicht, sondern durch Empfehlungen, sagt Timm. Auch durch Kollegen wie Walther Kruse. Ein anderer Kürschner machte Timm damals mit der Jazzmusik vertraut. "In der Zeit war es so, dass in den Volksschulklassen jeweils mindestens zehn Kinder saßen, die locker das Gymnasium geschafft hätten", sagt Timm.
Sein Beruf sei, auch weil er etwas Edles an sich hatte, sehr intellektualisiert gewesen. Die Kollegen lasen, sie erzählten. Wenn er über diese Begegnungen, Empfehlungen und Entdeckungen spricht, sagt Timm oft, sie seien ihm "geschenkt" worden. Wie "Der Fremde" von Camus, im wörtlichen und übertragenen Sinn, "doppelt geschenkt" also. Ein Freund kaufte es ihm, weil Timm kein Geld hatte. Der schrieb später seine Doktorarbeit darüber.
Schriftsteller, sagt Timm, der in der Schule eine Rechtschreibschwäche hatte und deshalb eine Lehre begann, statt weiter zur Schule zu gehen, habe er schon immer werden wollen. Dass ihm die Buchstabenkombinationen für die Dinge der Welt willkürlich vorkamen (warum schreibt man, überlegt der junge Timm, den Schwan mit einem a, wenn er doch zwei Flügel hat?), hielt ihn vom Erzählen und Lesen nicht ab. Damals sei die Literatur für ihn eine Gegenwelt zum ruppigen Alltag der Werkstatt gewesen. Eine Gegenwelt zum Kloschüsselputzen und Felle sortieren, den Dingen, die Lehrlinge machen müssen, wenn sie noch am Anfang ihrer Ausbildung stehen. Dass aus diesem Alltag, dem er durch das Lesen entfloh, nun selbst Literatur geworden ist, dass Timm uns diese Geschichten nun geschenkt hat, gehört zu seiner erstaunlichen Biographie.
Uwe Timm, "Alle meine Geister". Kiepenheuer und Witsch, 288 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.09.2023Nerz beiseite
Der große Bewahrer Uwe Timm greift für sein neues Buch auch zurück auf die
eigenen Erfahrungen im Fach- und Familiengeschäft „Pelze Timm“
Dass der große deutsche Autor Uwe Timm gelernter Kürschner ist, kann man bei Wikipedia nicht nur nachlesen, sondern auch überprüfen. Faksimiles von Timms Zeugnissen sind dort abgelegt, der „Gesellenprüfungsausschuss der Kürschner-, Handschuh- und Mützenmacher-Innung Hamburg“ bescheinigt Timm, sein Handwerk zu beherrschen, und zwar aus dem Effeff, wenn nicht sogar summa cum laude. Praktische Leistungen: sehr gut. Theoretische Leistungen: sehr gut. Und so erzählt Timm in seinem neuen Buch „Alle meine Geister“ über die Nachkriegszeit, über das Hamburg der Fünfzigerjahre und seine dort beim Pelz- und Modehaus Levermann absolvierte Kürschnerlehre. Die Stelle hatte ihm sein Vater verschafft, auch er Kürschner, Gründer und Inhaber des Fachgeschäfts Pelze Timm.
Das Handwerk eines Kürschners besteht darin, Gegensätzliches miteinander in Verbindung zu bringen, Tod und Leben, Animalisches und Menschliches, er macht aus Tierfellen Pelzbekleidung, veredelt Rohstoff zu etwas Kostbarem. Timm beschreibt dieses aussterbende Gewerbe mit der für ihn kennzeichnenden Liebe zum sinnlichen Detail, man sieht diese Hermelin-, Fuchs-, Nerz- und Biberfelle und die hellen, nach Holz riechenden Polarfuchsfelle übereinanderliegend vor sich und auch das Winterkostüm des Eichhörnchens, genannt Feh. Feh? Die Kürschnerwelt ist eine Welt voll wundersamer und vergessener Begriffe, die Timm ans Licht zurückholt. Pumpf zum Beispiel: das dichte Hinterteil eines Fells, vor dem Schweif, entgegengesetzt der Kopfpartie. So viele Tiere, so viele Pelze: „Persianerfelle wurden nach Haardichte, Lockenform, Farbe und Glanz sortiert, ein Hin- und Herschieben, ein Austauschen, abermaliges Suchen nach dem geringst sichtbaren Übergang von Fell zu Fell.“
Für einen Mann des Jahrgangs 1940, geboren im Krieg, ist auch der Tod ein bestimmendes Motiv seines Erzählens. In der Kürschner-Werkstatt allerdings war der Tod weit weg. Umgebracht und gehäutet wurden die Tiere schließlich woanders, die Gerber erledigten diese Drecksarbeit, sie verarbeiteten die Tierhäute und mussten deshalb ihr Leben draußen vor der Stadt fristen, „zu nahe waren sie mit ihrer Tätigkeit dem Tod und dem Gestank“.
Draußen vor den Städten schrien die Nerze, denen das Fell über die Ohren gezogen wurde, bei Levermann in der Hamburger Innenstadt dagegen hörte man das leise Surren der Pelznähmaschinen, das sich beim Nähen verstärkte. Die Felle wurden mit Stoffscheren und feinen Markier-Rädchen bearbeitet. „All das Werkzeug und Material hatte mich lange nicht an den Tod der Tiere denken lassen.“ Wenn sie ältere, getragene Pelzmäntel zum Ausbessern in die Werkstatt reinbekamen, konnten sie am Abrieb etwas über diejenigen erfahren, denen diese Mäntel gehörten. Ob sie Uhren am Handgelenk trugen, Linkshänder waren, ihre Schalkragen regelmäßig hochschlugen, all das hinterließ in der getragenen Kleidung Spuren.
Uwe Timm hat die deutsche Literatur, als Erinnerer und Erzähler, geprägt („Am Beispiel meines Bruders“, „Der Freund und der Fremde“, „Ikarien“). Als man ihn, vor Jahren, für eine Geschichte über den Wahlkampf in Hamburg traf, kam das Gespräch natürlich bald auf den Krieg. Timm war 1943 in der Gomorrha-Nacht noch ein Kleinkind, aber er glaubt, sich genau an die Bilder erinnern zu können, als die Baumkronen in Hamburg an den Straßenrändern loderten, „wie riesige Fackeln“. Sie haben sich ihm eingebrannt: In der Luft schwebten Flammen, „das waren brennende Gardinen, die durch den Luftdruck aus den Fenstern gerissen worden waren“. Mit seiner Mutter wurde er evakuiert, nach Coburg, später kamen sie zurück ins gezeichnete Hamburg. Aber 1955, als er in die Lehre beim Kürschner gegeben wurde, war der Krieg schon ein Stück weg, und das Geordnete und Aufgeräumte im Lehrbetrieb war die Gegenwelt zu den Kriegszeiten, als Hamburg eine Trümmerstadt gewesen war: „Schuttberge. Geruch nach feuchtem Mörtel.“ Jetzt, bei Levermann, gab es, wie als Zeichen der wiedergefundenen Ordnung, sogar Räume, die Sortierzimmer genannt wurden.
Timm erzählt vom Aufbruch im Wirtschaftswunderland, aber immer auch von damals, gar nicht lange her, als auch die Kürschner sich am Verbrechen beteiligten, auf ihre Art. „Im Russlandkrieg wurden Kürschner und Kürschnerinnen gebraucht. Allerdings reichte der wärmende Schutz in der Nazizeit nur für diejenigen, deren Pass kein eingestempeltes J zeigte.“
Wenn Timm „Alle meine Geister“ beschwört, beschwört er auch die Geister der Tiere, die gestorben sind für all die Pelzmäntel, die er genäht hat. Tote Tiere umtanzten schon lange die Familie Timm. Der Vater hatte vor seiner Kürschnerkarriere als Tierpräparator gearbeitet. Ein von ihm ausgestopfter Gorilla – Timm-Fans wissen Bescheid – schaffte es ins Naturkundemuseum von Chicago. Als der unglückliche Geschäftsmann Timm 1958 an einem Herzinfarkt starb, stand der 18-jährige Sohn Uwe allein da, mit einem hoch verschuldeten Betrieb. Pelze Timm lief nicht mehr gut. Erst nach Sanierung des Geschäfts besuchte er das Braunschweig-Kolleg und machte 1963 das Abitur.
Uwe Timms Verhältnis zu Tieren hat sich entwickelt und verändert, anfangs lieferten sie ihm das Material, das er behandelte. Für eine Prüfung in der Modeschule schneiderte er eine Stola aus hellbraunen Wildnerzen, die waren schwerer zu verarbeiten als Zuchtnerze, die Wildnerze sicherten ihm die Bestnote.
Nähergebracht wurden ihm die Tiere in der Berufsschule, wo das Fach Pelztierkunde auf dem Stundenplan stand und ein Berufsschullehrer vor die Klasse trat. Dieser Lehrer tat etwas, was in Timms Lehrzeit viele anderen Kollegen und Meister auch taten, sie empfahlen ihm Bücher. Und Timm („Keine Zigaretten, kein Alkohol, ich war süchtig nach Worten“) las, wann immer er lesen konnte, samstags war ideal, die Arbeit war samstags schon frühnachmittags erledigt. „Um 13:30 Uhr war Feierabend. Was für ein schönes Wort, dachte ich. Ja, man konnte feiern – konnte lesen.“
Der Berufsschullehrer „empfahl uns, die wir mit Fellen vertraut waren, dringlich die Lektüre von Brehms Tierleben, damit wir auch die Fellträger kennenlernten“. Und Timm las. Die kleine Ausgabe von Brehm stand eh zu Hause im Bücherschrank. Er las, und während er las, bekamen die Tiere eine Identität, waren nicht länger ein zugeschnittenes Stück Fell. Später besuchten Tiere ihn in bösen Träumen. „Ich zeichnete die Schablone zum Einschneiden, als mit einem Stöhnen die aneinandergenähten Fellstreifen über den Tisch krochen, Haare verloren und eine dunkle Spur auf der weißen Papierschablone hinterließen.“
Er las, was Brehm über den Biber schrieb, dessen Kunstfertigkeit beim Bauen der Biberburg. „Einige Knüppel liegen waagerecht, andere schief, andere senkrecht, einzelne ragen mit dem einen Ende weit über die Wandungen der Burg vor, andere sind gänzlich mit Erde überdeckt; es wird auch fortwährend geändert, vergrößert, verbessert.“ Und er, Timm, erkannte sich in dem so charakterisierten Biber wieder. „Das zumindest, das fortwährende Verändern, Verbessern, ist der Arbeit des Schriftstellers, jedenfalls meiner, durchaus vergleichbar.“
„Alle meine Geister“ ist eine Einführung ins Kürschnerwesen (wollte man selbst einer werden, wäre man nach der Lektüre dieses Grundlagenwerks jedenfalls gut auf die ersten Prüfungen vorbereitet). Es ist auch das Protokoll einer Reise durch die deutsche Geschichte, die immer auch Timms eigene Geschichte ist. Ein Lesebuch und vor allem eine Werbung fürs Lesen. Die Wirkungen der Lektüre von Brehms Tierleben und Alexander von Humboldts Naturbeschreibungen sind nur zwei Beispiele dafür, wie sich – durch Lesen – Timms Blick weitete. Und wenn sich schon der Blick auf Biber durch Lesen weitet, weitet sich durch Lesen auch der Blick auf die Welt.
Man kann „Alle meine Geister“ als Kontrastprogramm zur massiven Verblödung lesen, mit der man gerade zugeballert wird. Zu viele Leute verplempern ihre Energie mit dem Verfassen von Tweets, dem Abgreifen von Klicks. Als wäre das billige Gehetze und Gefetze im Internet tatsächlich eine Debatte. Das kurzatmig gewordene Publikum ist auf schnelle Reize getrimmt und traut sich das Lesen eines Werkes nicht mehr zu. Vor allem weigert es sich, sich vom Wissen anderer bereichern zu lassen. Alles ist Oberfläche, nirgendwo Tiefe. Jeder kreist um sich selbst, keiner kommt mehr zur Ruhe. Überall stehen Plapperkästen und Hitzekammern, wo Sortierzimmer stehen sollten.
Uwe Timm, ein Junge mit Leseschwäche, ist über sich hinausgewachsen, denn er hat sein Leben lang gelesen. Und manchmal hätte er – immer auf der Suche nicht nach dem klingenden Wort, sondern nach dem treffenden – sich ein strengeres Lektorat gewünscht, oder einen aufmerksameren Übersetzer. Henry Miller zum Beispiel schreibt im „Wendekreis des Krebses“ vom „Gurren der Tauben, den wie durch Zauber verschwindenden Krumen, von denen nur ein dumpfes Kullern in den hohlen Eingeweiden übrigbleibt“. Die Sequenz lässt ihn, Timm, noch immer stutzen, auch beim Wieder- und Wiederlesen, und er fragt sich: „Können Eingeweide hohl sein? Und Kullern – müsste es nicht, auf das Geräusch bezogen, Kollern heißen?“
Er las Salinger und Camus, las „Die Eroberung des Südpols“ von Roald Amundsen. Las Hemingways „Old Man and the Sea“ mithilfe eines danebenliegenden Wörterbuchs. Las Kogons „Der SS-Staat“ und stritt danach umso heftiger mit seinem Vater über das Schweigen in der Nazizeit. Las „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, las Brehm, las Benn, las Dostojewski, „Schuld und Sühne“, „Der Spieler“, „Die Brüder Karamasow“. Las „Der Idiot“, die Geschichte des guten Menschen in einer verrohten Gesellschaft.
Die Lektüre von „Der Idiot“ wird bei ihm begleitet von einer Erinnerung an die Geschichte eines Kindes, Timm erzählt sie in dem Buch, unverkennbarer Timm-Style, unprätentiös und gerade deshalb berührend. „Karlchen, ein Junge, der von seinen Eltern zwölf Jahre lang in einer Wohnung im vierten Stockwerk eines Mietshauses im Eppendorfer Weg versteckt worden war, ein Kind mit Downsyndrom, das herangewachsen war, leise auf Socken gehend, damit die darunter Wohnenden nicht hörten, dass über ihnen nicht zwei, sondern drei Menschen lebten. Haben sich die Eltern Schuhe mit kräftigen Absätzen angezogen, um ihren Tritt deutlicher werden zu lassen? Wussten einige der Mitbewohner von dem Versteckten und haben geschwiegen? Hätten sie geschwiegen, wäre es ein jüdisches Kind gewesen? Karlchen wurde vor den Mördern und den grauen Vergasungsbussen gerettet.
Karlchen kam am 4. Mai, einen Tag nachdem das britische Militär Hamburg besetzt hatte, auf die Straße, stand da, als wäre er eben vom Himmel gefallen. Niemand hatte ihn je zuvor gesehen, ein dreizehnjähriger Junge, kräftig, der eigentümliche Schreie ausstieß und einen Baum umarmte. Aus dem Fenster zur Straßenseite, wo die Kastanien standen, hatte er nicht hinausschauen dürfen. Man hätte ihn von den gegenüberliegenden Häusern aus sehen können. Fast zwölf Jahre blickte er auf den asphaltierten Hof der Batterien-Fabrik Habafa.“
Uwe Timm schreibt, wie er schreibt, weil er lesend lebt und immer gelebt hat. Das eine funktioniert nicht ohne das andere. Wer nicht liest, kann nicht schreiben.
Dass er in „Alle meine Geister“ die Arbeit des Kürschners so detailliert ausmalt, hat Gründe. Es geht schließlich ums Bewahren. „Das muss, da der Beruf ausstirbt oder in seiner exklusiven Feinheit bereits ausgestorben ist, so ausführlich beschrieben werden. Mit ihm gehen seine Kenntnisse, seine Handreichungen, Fertigkeiten und auch jahrhundertalte Geheimnisse verloren.“
Was für den Autor genauso gilt. Schon jetzt ist täglich spürbar, was der Welt fehlen wird, wenn sie nicht mehr von einem wie Uwe Timm lesend und schreibend sortiert wird.
HOLGER GERTZ
Als er las, bekamen die Tiere
eine Identität, waren nicht mehr
ein zugeschnittenes Stück Fell
Uwe Timm schreibt,
wie er schreibt, weil er lesend lebt
und immer gelebt hat
Uwe Timm, deutscher Schriftsteller, gelernter Kürschner.
Foto: Gerhard Leber/imago
Uwe Timm: Alle meine Geister. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
288 Seiten, 25 Euro.
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Der große Bewahrer Uwe Timm greift für sein neues Buch auch zurück auf die
eigenen Erfahrungen im Fach- und Familiengeschäft „Pelze Timm“
Dass der große deutsche Autor Uwe Timm gelernter Kürschner ist, kann man bei Wikipedia nicht nur nachlesen, sondern auch überprüfen. Faksimiles von Timms Zeugnissen sind dort abgelegt, der „Gesellenprüfungsausschuss der Kürschner-, Handschuh- und Mützenmacher-Innung Hamburg“ bescheinigt Timm, sein Handwerk zu beherrschen, und zwar aus dem Effeff, wenn nicht sogar summa cum laude. Praktische Leistungen: sehr gut. Theoretische Leistungen: sehr gut. Und so erzählt Timm in seinem neuen Buch „Alle meine Geister“ über die Nachkriegszeit, über das Hamburg der Fünfzigerjahre und seine dort beim Pelz- und Modehaus Levermann absolvierte Kürschnerlehre. Die Stelle hatte ihm sein Vater verschafft, auch er Kürschner, Gründer und Inhaber des Fachgeschäfts Pelze Timm.
Das Handwerk eines Kürschners besteht darin, Gegensätzliches miteinander in Verbindung zu bringen, Tod und Leben, Animalisches und Menschliches, er macht aus Tierfellen Pelzbekleidung, veredelt Rohstoff zu etwas Kostbarem. Timm beschreibt dieses aussterbende Gewerbe mit der für ihn kennzeichnenden Liebe zum sinnlichen Detail, man sieht diese Hermelin-, Fuchs-, Nerz- und Biberfelle und die hellen, nach Holz riechenden Polarfuchsfelle übereinanderliegend vor sich und auch das Winterkostüm des Eichhörnchens, genannt Feh. Feh? Die Kürschnerwelt ist eine Welt voll wundersamer und vergessener Begriffe, die Timm ans Licht zurückholt. Pumpf zum Beispiel: das dichte Hinterteil eines Fells, vor dem Schweif, entgegengesetzt der Kopfpartie. So viele Tiere, so viele Pelze: „Persianerfelle wurden nach Haardichte, Lockenform, Farbe und Glanz sortiert, ein Hin- und Herschieben, ein Austauschen, abermaliges Suchen nach dem geringst sichtbaren Übergang von Fell zu Fell.“
Für einen Mann des Jahrgangs 1940, geboren im Krieg, ist auch der Tod ein bestimmendes Motiv seines Erzählens. In der Kürschner-Werkstatt allerdings war der Tod weit weg. Umgebracht und gehäutet wurden die Tiere schließlich woanders, die Gerber erledigten diese Drecksarbeit, sie verarbeiteten die Tierhäute und mussten deshalb ihr Leben draußen vor der Stadt fristen, „zu nahe waren sie mit ihrer Tätigkeit dem Tod und dem Gestank“.
Draußen vor den Städten schrien die Nerze, denen das Fell über die Ohren gezogen wurde, bei Levermann in der Hamburger Innenstadt dagegen hörte man das leise Surren der Pelznähmaschinen, das sich beim Nähen verstärkte. Die Felle wurden mit Stoffscheren und feinen Markier-Rädchen bearbeitet. „All das Werkzeug und Material hatte mich lange nicht an den Tod der Tiere denken lassen.“ Wenn sie ältere, getragene Pelzmäntel zum Ausbessern in die Werkstatt reinbekamen, konnten sie am Abrieb etwas über diejenigen erfahren, denen diese Mäntel gehörten. Ob sie Uhren am Handgelenk trugen, Linkshänder waren, ihre Schalkragen regelmäßig hochschlugen, all das hinterließ in der getragenen Kleidung Spuren.
Uwe Timm hat die deutsche Literatur, als Erinnerer und Erzähler, geprägt („Am Beispiel meines Bruders“, „Der Freund und der Fremde“, „Ikarien“). Als man ihn, vor Jahren, für eine Geschichte über den Wahlkampf in Hamburg traf, kam das Gespräch natürlich bald auf den Krieg. Timm war 1943 in der Gomorrha-Nacht noch ein Kleinkind, aber er glaubt, sich genau an die Bilder erinnern zu können, als die Baumkronen in Hamburg an den Straßenrändern loderten, „wie riesige Fackeln“. Sie haben sich ihm eingebrannt: In der Luft schwebten Flammen, „das waren brennende Gardinen, die durch den Luftdruck aus den Fenstern gerissen worden waren“. Mit seiner Mutter wurde er evakuiert, nach Coburg, später kamen sie zurück ins gezeichnete Hamburg. Aber 1955, als er in die Lehre beim Kürschner gegeben wurde, war der Krieg schon ein Stück weg, und das Geordnete und Aufgeräumte im Lehrbetrieb war die Gegenwelt zu den Kriegszeiten, als Hamburg eine Trümmerstadt gewesen war: „Schuttberge. Geruch nach feuchtem Mörtel.“ Jetzt, bei Levermann, gab es, wie als Zeichen der wiedergefundenen Ordnung, sogar Räume, die Sortierzimmer genannt wurden.
Timm erzählt vom Aufbruch im Wirtschaftswunderland, aber immer auch von damals, gar nicht lange her, als auch die Kürschner sich am Verbrechen beteiligten, auf ihre Art. „Im Russlandkrieg wurden Kürschner und Kürschnerinnen gebraucht. Allerdings reichte der wärmende Schutz in der Nazizeit nur für diejenigen, deren Pass kein eingestempeltes J zeigte.“
Wenn Timm „Alle meine Geister“ beschwört, beschwört er auch die Geister der Tiere, die gestorben sind für all die Pelzmäntel, die er genäht hat. Tote Tiere umtanzten schon lange die Familie Timm. Der Vater hatte vor seiner Kürschnerkarriere als Tierpräparator gearbeitet. Ein von ihm ausgestopfter Gorilla – Timm-Fans wissen Bescheid – schaffte es ins Naturkundemuseum von Chicago. Als der unglückliche Geschäftsmann Timm 1958 an einem Herzinfarkt starb, stand der 18-jährige Sohn Uwe allein da, mit einem hoch verschuldeten Betrieb. Pelze Timm lief nicht mehr gut. Erst nach Sanierung des Geschäfts besuchte er das Braunschweig-Kolleg und machte 1963 das Abitur.
Uwe Timms Verhältnis zu Tieren hat sich entwickelt und verändert, anfangs lieferten sie ihm das Material, das er behandelte. Für eine Prüfung in der Modeschule schneiderte er eine Stola aus hellbraunen Wildnerzen, die waren schwerer zu verarbeiten als Zuchtnerze, die Wildnerze sicherten ihm die Bestnote.
Nähergebracht wurden ihm die Tiere in der Berufsschule, wo das Fach Pelztierkunde auf dem Stundenplan stand und ein Berufsschullehrer vor die Klasse trat. Dieser Lehrer tat etwas, was in Timms Lehrzeit viele anderen Kollegen und Meister auch taten, sie empfahlen ihm Bücher. Und Timm („Keine Zigaretten, kein Alkohol, ich war süchtig nach Worten“) las, wann immer er lesen konnte, samstags war ideal, die Arbeit war samstags schon frühnachmittags erledigt. „Um 13:30 Uhr war Feierabend. Was für ein schönes Wort, dachte ich. Ja, man konnte feiern – konnte lesen.“
Der Berufsschullehrer „empfahl uns, die wir mit Fellen vertraut waren, dringlich die Lektüre von Brehms Tierleben, damit wir auch die Fellträger kennenlernten“. Und Timm las. Die kleine Ausgabe von Brehm stand eh zu Hause im Bücherschrank. Er las, und während er las, bekamen die Tiere eine Identität, waren nicht länger ein zugeschnittenes Stück Fell. Später besuchten Tiere ihn in bösen Träumen. „Ich zeichnete die Schablone zum Einschneiden, als mit einem Stöhnen die aneinandergenähten Fellstreifen über den Tisch krochen, Haare verloren und eine dunkle Spur auf der weißen Papierschablone hinterließen.“
Er las, was Brehm über den Biber schrieb, dessen Kunstfertigkeit beim Bauen der Biberburg. „Einige Knüppel liegen waagerecht, andere schief, andere senkrecht, einzelne ragen mit dem einen Ende weit über die Wandungen der Burg vor, andere sind gänzlich mit Erde überdeckt; es wird auch fortwährend geändert, vergrößert, verbessert.“ Und er, Timm, erkannte sich in dem so charakterisierten Biber wieder. „Das zumindest, das fortwährende Verändern, Verbessern, ist der Arbeit des Schriftstellers, jedenfalls meiner, durchaus vergleichbar.“
„Alle meine Geister“ ist eine Einführung ins Kürschnerwesen (wollte man selbst einer werden, wäre man nach der Lektüre dieses Grundlagenwerks jedenfalls gut auf die ersten Prüfungen vorbereitet). Es ist auch das Protokoll einer Reise durch die deutsche Geschichte, die immer auch Timms eigene Geschichte ist. Ein Lesebuch und vor allem eine Werbung fürs Lesen. Die Wirkungen der Lektüre von Brehms Tierleben und Alexander von Humboldts Naturbeschreibungen sind nur zwei Beispiele dafür, wie sich – durch Lesen – Timms Blick weitete. Und wenn sich schon der Blick auf Biber durch Lesen weitet, weitet sich durch Lesen auch der Blick auf die Welt.
Man kann „Alle meine Geister“ als Kontrastprogramm zur massiven Verblödung lesen, mit der man gerade zugeballert wird. Zu viele Leute verplempern ihre Energie mit dem Verfassen von Tweets, dem Abgreifen von Klicks. Als wäre das billige Gehetze und Gefetze im Internet tatsächlich eine Debatte. Das kurzatmig gewordene Publikum ist auf schnelle Reize getrimmt und traut sich das Lesen eines Werkes nicht mehr zu. Vor allem weigert es sich, sich vom Wissen anderer bereichern zu lassen. Alles ist Oberfläche, nirgendwo Tiefe. Jeder kreist um sich selbst, keiner kommt mehr zur Ruhe. Überall stehen Plapperkästen und Hitzekammern, wo Sortierzimmer stehen sollten.
Uwe Timm, ein Junge mit Leseschwäche, ist über sich hinausgewachsen, denn er hat sein Leben lang gelesen. Und manchmal hätte er – immer auf der Suche nicht nach dem klingenden Wort, sondern nach dem treffenden – sich ein strengeres Lektorat gewünscht, oder einen aufmerksameren Übersetzer. Henry Miller zum Beispiel schreibt im „Wendekreis des Krebses“ vom „Gurren der Tauben, den wie durch Zauber verschwindenden Krumen, von denen nur ein dumpfes Kullern in den hohlen Eingeweiden übrigbleibt“. Die Sequenz lässt ihn, Timm, noch immer stutzen, auch beim Wieder- und Wiederlesen, und er fragt sich: „Können Eingeweide hohl sein? Und Kullern – müsste es nicht, auf das Geräusch bezogen, Kollern heißen?“
Er las Salinger und Camus, las „Die Eroberung des Südpols“ von Roald Amundsen. Las Hemingways „Old Man and the Sea“ mithilfe eines danebenliegenden Wörterbuchs. Las Kogons „Der SS-Staat“ und stritt danach umso heftiger mit seinem Vater über das Schweigen in der Nazizeit. Las „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, las Brehm, las Benn, las Dostojewski, „Schuld und Sühne“, „Der Spieler“, „Die Brüder Karamasow“. Las „Der Idiot“, die Geschichte des guten Menschen in einer verrohten Gesellschaft.
Die Lektüre von „Der Idiot“ wird bei ihm begleitet von einer Erinnerung an die Geschichte eines Kindes, Timm erzählt sie in dem Buch, unverkennbarer Timm-Style, unprätentiös und gerade deshalb berührend. „Karlchen, ein Junge, der von seinen Eltern zwölf Jahre lang in einer Wohnung im vierten Stockwerk eines Mietshauses im Eppendorfer Weg versteckt worden war, ein Kind mit Downsyndrom, das herangewachsen war, leise auf Socken gehend, damit die darunter Wohnenden nicht hörten, dass über ihnen nicht zwei, sondern drei Menschen lebten. Haben sich die Eltern Schuhe mit kräftigen Absätzen angezogen, um ihren Tritt deutlicher werden zu lassen? Wussten einige der Mitbewohner von dem Versteckten und haben geschwiegen? Hätten sie geschwiegen, wäre es ein jüdisches Kind gewesen? Karlchen wurde vor den Mördern und den grauen Vergasungsbussen gerettet.
Karlchen kam am 4. Mai, einen Tag nachdem das britische Militär Hamburg besetzt hatte, auf die Straße, stand da, als wäre er eben vom Himmel gefallen. Niemand hatte ihn je zuvor gesehen, ein dreizehnjähriger Junge, kräftig, der eigentümliche Schreie ausstieß und einen Baum umarmte. Aus dem Fenster zur Straßenseite, wo die Kastanien standen, hatte er nicht hinausschauen dürfen. Man hätte ihn von den gegenüberliegenden Häusern aus sehen können. Fast zwölf Jahre blickte er auf den asphaltierten Hof der Batterien-Fabrik Habafa.“
Uwe Timm schreibt, wie er schreibt, weil er lesend lebt und immer gelebt hat. Das eine funktioniert nicht ohne das andere. Wer nicht liest, kann nicht schreiben.
Dass er in „Alle meine Geister“ die Arbeit des Kürschners so detailliert ausmalt, hat Gründe. Es geht schließlich ums Bewahren. „Das muss, da der Beruf ausstirbt oder in seiner exklusiven Feinheit bereits ausgestorben ist, so ausführlich beschrieben werden. Mit ihm gehen seine Kenntnisse, seine Handreichungen, Fertigkeiten und auch jahrhundertalte Geheimnisse verloren.“
Was für den Autor genauso gilt. Schon jetzt ist täglich spürbar, was der Welt fehlen wird, wenn sie nicht mehr von einem wie Uwe Timm lesend und schreibend sortiert wird.
HOLGER GERTZ
Als er las, bekamen die Tiere
eine Identität, waren nicht mehr
ein zugeschnittenes Stück Fell
Uwe Timm schreibt,
wie er schreibt, weil er lesend lebt
und immer gelebt hat
Uwe Timm, deutscher Schriftsteller, gelernter Kürschner.
Foto: Gerhard Leber/imago
Uwe Timm: Alle meine Geister. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
288 Seiten, 25 Euro.
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»Uwe Timm ist ein Spezialist für autobiographische Bücher, die von den Rändern aus operieren, um langsam zum Zentrum vorzudringen [...] Uwe Timms Buch "Alle meine Geister" [ist die] Selbsterfindung eines lesenden Kürschners...ein offenes, atmendes Buch für alle, die vom Lesen nicht lassen können.« Paul Ingendaay FAZ Podcast 20230930