Wir haben es satt: Landwirtschaft und Ernährung werden heute heiß in der breiten Öffentlichkeit diskutiert, denn in naher Zukunft leben 10 Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Kann die Menschheit mit biologischer Landwirtschaft ernährt werden? Ist das Essen von Tieren ein Sündenfall? Zerstört eine auf Hightech basierte industrielle Landwirtschaft die ländlichen Räume, verbraucht die natürlichen Ressourcen und vertreibt die Menschen in die Städte? Der Autor Urs Niggli versucht, Lösungen aufzuzeigen. Dass diese nicht einfach sind, davor sei gewarnt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2021Nachhaltigkeit statt ideologischer Reinheit
Urs Niggli plädiert für die Verknüpfung von biologischer Landwirtschaft und avancierten Technologien
Die Landwirtschaft ist ein Bereich von Gesellschaft und Wirtschaft, der sich seit dem späten neunzehnten Jahrhundert durch Wissenschaft und Technik so sehr geändert hat wie kaum ein anderer. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lag der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten noch bei 38 Prozent, während es einhundert Jahre später nur noch gut zwei Prozent sind. Diese Zahlen spiegeln eine enorme technische Entwicklung im Agrarbereich wider, Agrarchemie und Pflanzenzüchtung machten atemraubende Fortschritte und erlaubten eine extreme Effizienzsteigerung in den industrialisierten Ländern.
Doch alles hat seinen Preis, die moderne Landwirtschaft ist auch verantwortlich für einen beträchtlichen Teil der Umweltzerstörung, die im vergangenen Jahrhundert geschehen ist: Bodenerosion, Artenschwund, die Anreicherung von Pestiziden in Nahrungsketten und die Freisetzung von klimawirksamen Gasen. Darüber hinaus gibt es Zweifel, ob die industrialisierte Landwirtschaft wirklich den oft behaupteten großen Beitrag zur Nahrungsmittelsicherheit der Weltbevölkerung leistet. Einige Untersuchungen zeigen, dass landwirtschaftliche Kleinbetriebe, die weltweit immer noch die große Mehrheit darstellen, höhere Erträge pro Flächeneinheit erreichen als Großbetriebe und außerdem mehr biologische Vielfalt beherbergen.
Wie soll die Landwirtschaft der Zukunft aussehen, die sowohl die wachsende Weltbevölkerung ernähren können als auch die natürlichen Lebensgrundlagen schützen soll? Der Schweizer Agrarwissenschaftler Urs Niggli, einer der einflussreichsten Akteure in der modernen biologischen Landwirtschaft, versucht in seinem neuen Buch eine Vision für die Zukunft der Landwirtschaft zu entwickeln, die ökologisches Denken zur Grundlage hat, sich aber Innovationen nicht verschließt.
Die Debatten um die Zukunft der Landwirtschaft sind in der Regel von einem epistemischen Tribalismus geprägt, der eine Verständigung oft unmöglich macht. Auf der einen Seite stehen Denkweisen, die auf biotechnologische Lösungen setzen. Ihre Vertreter haben mit neuen Technologien zur gezielten Genomveränderung Morgenluft gewittert und behaupten, die Ernährung der Menschheit lasse sich nur durch Anwendung dieser Technologien garantieren. Auf der anderen Seite stehen der Biolandbau und die Agrarökologie, die die Einbettung des landwirtschaftlichen Handelns in ökologische Prozesse betonen und darüber hinaus auch soziale und ökonomische Effekte berücksichtigen.
Urs Niggli versucht sich als Brückenbauer zwischen diesen beiden Denkweisen. In Anbetracht einer immer schneller schwindenden Artenvielfalt und des Abbaus von Ökosystemen ist es nicht zu verantworten, die konventionelle Landwirtschaft einfach weiter zu betreiben wie bisher. Die bescheidenen Schritte in Richtung "greening" der Agrarförderung sind zweifellos unzureichend und nicht mehr als ein Lippenbekenntnis zu mehr Nachhaltigkeit.
Die Vertreter der biologischen Landwirtschaft müssen, so Niggli, allerdings auch einiges von ihrem missionarischen Eifer ablegen. Ideologische Reinheit solle nicht im Vordergrund stehen, sondern die Verpflichtung, für die Ernährung der Weltbevölkerung auf nachhaltige Weise zu sorgen. Niggli setzt nachdrücklich auf soziale und ökonomische Innovationen - kooperatives Handeln von Kleinbauern, kurze und widerstandsfähige Liefer- und Wertschöpfungsketten oder lokale Lebensmittelverarbeitung. Dies mag zunächst wie reine Nostalgie klingen. Doch Niggli möchte solches Handeln von technologischen Innovationen unterstützt und begleitet sehen: Digitalisierung, Präzisionslandwirtschaft und sogar gezielte Genomveränderungen sollten kein Tabu in der biologischen Landwirtschaft sein. Es sei ein Irrtum zu glauben, kleinbäuerliche oder biologische Landwirtschaft könne nicht wissensintensiv sein, sondern sei nur rückwärtsgewandt. Niggli betont, dass nur eine sehr produktive Landwirtschaft verhindern kann, dass noch mehr an natürlichen Lebensgrundlagen zerstört wird. Angst vor neuen Technologien ist dabei wenig hilfreich.
THOMAS WEBER.
Urs Niggli: "Alle satt?". Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen. Residenz Verlag, Salzburg 2021. 158 S., br., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Urs Niggli plädiert für die Verknüpfung von biologischer Landwirtschaft und avancierten Technologien
Die Landwirtschaft ist ein Bereich von Gesellschaft und Wirtschaft, der sich seit dem späten neunzehnten Jahrhundert durch Wissenschaft und Technik so sehr geändert hat wie kaum ein anderer. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts lag der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten noch bei 38 Prozent, während es einhundert Jahre später nur noch gut zwei Prozent sind. Diese Zahlen spiegeln eine enorme technische Entwicklung im Agrarbereich wider, Agrarchemie und Pflanzenzüchtung machten atemraubende Fortschritte und erlaubten eine extreme Effizienzsteigerung in den industrialisierten Ländern.
Doch alles hat seinen Preis, die moderne Landwirtschaft ist auch verantwortlich für einen beträchtlichen Teil der Umweltzerstörung, die im vergangenen Jahrhundert geschehen ist: Bodenerosion, Artenschwund, die Anreicherung von Pestiziden in Nahrungsketten und die Freisetzung von klimawirksamen Gasen. Darüber hinaus gibt es Zweifel, ob die industrialisierte Landwirtschaft wirklich den oft behaupteten großen Beitrag zur Nahrungsmittelsicherheit der Weltbevölkerung leistet. Einige Untersuchungen zeigen, dass landwirtschaftliche Kleinbetriebe, die weltweit immer noch die große Mehrheit darstellen, höhere Erträge pro Flächeneinheit erreichen als Großbetriebe und außerdem mehr biologische Vielfalt beherbergen.
Wie soll die Landwirtschaft der Zukunft aussehen, die sowohl die wachsende Weltbevölkerung ernähren können als auch die natürlichen Lebensgrundlagen schützen soll? Der Schweizer Agrarwissenschaftler Urs Niggli, einer der einflussreichsten Akteure in der modernen biologischen Landwirtschaft, versucht in seinem neuen Buch eine Vision für die Zukunft der Landwirtschaft zu entwickeln, die ökologisches Denken zur Grundlage hat, sich aber Innovationen nicht verschließt.
Die Debatten um die Zukunft der Landwirtschaft sind in der Regel von einem epistemischen Tribalismus geprägt, der eine Verständigung oft unmöglich macht. Auf der einen Seite stehen Denkweisen, die auf biotechnologische Lösungen setzen. Ihre Vertreter haben mit neuen Technologien zur gezielten Genomveränderung Morgenluft gewittert und behaupten, die Ernährung der Menschheit lasse sich nur durch Anwendung dieser Technologien garantieren. Auf der anderen Seite stehen der Biolandbau und die Agrarökologie, die die Einbettung des landwirtschaftlichen Handelns in ökologische Prozesse betonen und darüber hinaus auch soziale und ökonomische Effekte berücksichtigen.
Urs Niggli versucht sich als Brückenbauer zwischen diesen beiden Denkweisen. In Anbetracht einer immer schneller schwindenden Artenvielfalt und des Abbaus von Ökosystemen ist es nicht zu verantworten, die konventionelle Landwirtschaft einfach weiter zu betreiben wie bisher. Die bescheidenen Schritte in Richtung "greening" der Agrarförderung sind zweifellos unzureichend und nicht mehr als ein Lippenbekenntnis zu mehr Nachhaltigkeit.
Die Vertreter der biologischen Landwirtschaft müssen, so Niggli, allerdings auch einiges von ihrem missionarischen Eifer ablegen. Ideologische Reinheit solle nicht im Vordergrund stehen, sondern die Verpflichtung, für die Ernährung der Weltbevölkerung auf nachhaltige Weise zu sorgen. Niggli setzt nachdrücklich auf soziale und ökonomische Innovationen - kooperatives Handeln von Kleinbauern, kurze und widerstandsfähige Liefer- und Wertschöpfungsketten oder lokale Lebensmittelverarbeitung. Dies mag zunächst wie reine Nostalgie klingen. Doch Niggli möchte solches Handeln von technologischen Innovationen unterstützt und begleitet sehen: Digitalisierung, Präzisionslandwirtschaft und sogar gezielte Genomveränderungen sollten kein Tabu in der biologischen Landwirtschaft sein. Es sei ein Irrtum zu glauben, kleinbäuerliche oder biologische Landwirtschaft könne nicht wissensintensiv sein, sondern sei nur rückwärtsgewandt. Niggli betont, dass nur eine sehr produktive Landwirtschaft verhindern kann, dass noch mehr an natürlichen Lebensgrundlagen zerstört wird. Angst vor neuen Technologien ist dabei wenig hilfreich.
THOMAS WEBER.
Urs Niggli: "Alle satt?". Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen. Residenz Verlag, Salzburg 2021. 158 S., br., 19,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Thomas Weber empfiehlt das Buch des Schweizer Agrarwissenschaftlers Urs Niggli für eine dialektische Sicht auf die Landwirtschaft der Zukunft. Weder rein ökologisch im orthodoxen Sinne noch konventionell und unter Einbeziehung von Gentechnologie denkt sich der Autor Landwirtschaft, erklärt Weber. Vielmehr versteht er sich als Brückenbauer, der ein bisschen an der ökologischen Purität knabbert. Herauskommt bei Niggli laut Rezensent eine soziale, ökonomisch wie technologisch innovative Landwirtschaft, die vor allem eines ist und sein muss: produktiv.
© Perlentaucher Medien GmbH
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