Von Brücken und Straßen bis zu Datennetzen: Warum in der Moderne alles fließen muss - eine globale Geschichte der Infrastrukturen Sie sind die Lebensadern unserer Zivilisation: Datenautobahnen, Stromversorgung, Kanäle und Satelliten. In einem großen Überblick erzählt der Historiker Dirk van Laak elegant und anekdotenreich, wie diese Netze, Infrastruktur genannt, in den letzten 200 Jahren die Welt und den Alltag verändert haben. Ohne sie wären weder der moderne Haushalt noch TV, Internet und Smartphones, weder Kolonialismus noch Globalisierung möglich gewesen. Doch ob Wasser, Güter oder Verkehr: Alles muss fließen, sonst geht gar nichts mehr. Dabei sind die Infrastrukturen von Anfang an stetig ausgebaut worden - immer mehr, immer schneller ist bis heute die Devise. Dirk van Laak zeigt nicht nur, wie zentral diese oft unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle liegenden Strukturen heute sind. Er führt auch vor Augen, wie wichtig es ist, für die Zukunft Konzepte zu entwickeln, um sie zu betreiben und zu erhalten - und fragt, ob ein Innehalten nicht manchmal klüger wäre als der permanente Ausbau.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2018Unser Leben in Fließräumen
Erst wenn der Strom ausfällt oder es kein Netz gibt, merkt der moderne Mensch, wie sehr seine Lebensweise von funktionierender Infrastruktur abhängt. Dirk van Laak kennt deren Geschichte und Gegenwart - und ihre Schwachstellen.
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Vermutlich schalten Sie bei der morgendlichen Lektüre das Licht an. Vielleicht haben Sie zur Vorbereitung Kaffee oder Tee gekocht und dafür fließendes Wasser verwendet. Nutzen Sie das "E-Paper" oder greifen auf "faz.net" zu, benötigen Sie eine stabile Internetverbindung. Selbst wenn man die Arbeit der Zeitungsredaktion komplett ausblendet, darf man über diesen Lektüreaugenblick staunen, der von einer Errungenschaft der Moderne unabsehbar profitiert: der Einrichtung von Infrastrukturen.
1952 stieß ein Reporter dieser Zeitung bei einer Nato-Tagung auf dieses irritierende Wort und meinte, es klinge "für deutsche Ohren bizarr und unverständlich". Er warnte vor der gedankenlosen Verwendung des Begriffs und riet dringend dazu, diesen stets "ins Deutsche zu übersetzen". Mittlerweile zählt die Rede von "Infrastrukturen" zum festen Repertoire der Beschreibung unserer Gegenwart. Was begründet diese bemerkenswerte Wort- und Begriffskarriere? Der Leipziger Historiker Dirk van Laak zählt zu den Pionieren der Infrastrukturforschung und hat nun eine komprimierte Studie über die "Lebensadern unserer Gesellschaft" vorgelegt.
Er versteht unter Infrastrukturen "alles Stabile, das notwendig ist, um Mobilität und einen Austausch von Menschen, Gütern und Ideen zu ermöglichen", also etwa Straßen, Kanäle, Brücken, Schienen oder Leitungen. Es handelt sich insofern um ein modernes Phänomen, als infrastruktureller "Austausch" der Idee nach alle oder zumindest eine Mehrzahl von Menschen eines bestimmten Gebiets erreichen und vernetzen soll. Damit wird die Vorstellung einer in gewissen Hinsichten homogenen Bevölkerung sowie gleichmäßig regierbarer Herrschaftsräume vorausgesetzt. Entsprechende Konzepte von Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft haben sich seit dem achtzehnten Jahrhundert angedeutet, im neunzehnten verdichtet und gelten seit dem zwanzigsten als Normalfall.
Diese Normalitätsunterstellung beruht auf einem tiefgreifenden Irrtum, für den wiederum die Einrichtung von Infrastrukturen verantwortlich ist. Diese sorgen nämlich überhaupt erst dafür, dass wir einen gewöhnlichen Alltag erwarten dürfen. "Infrastruktur", so van Laaks Beobachtung, "erzeugt Fließräume, in die wir uns im Bedarfsfall einklinken, indem wir das Leitungswasser laufen lassen, den Strom anschalten, die Bahn besteigen oder ins Internet gehen". Wenn das Wasser wegen Leitungsarbeiten für einen Vormittag abgestellt oder die Mülltonne zweimal nicht geleert wird, wenn die Internetverbindung für einen Augenblick gestört ist oder der Strom ausfällt, wird deutlich, wie instabil und außergewöhnlich unsere Alltäglichkeit ist, wie notdürftig der Zivilisationsfirnis unsere "gute Ordnung" beschirmt und wie schnell wir die Contenance verlieren, die den geschmeidigen Umgang in einer extrem dicht vernetzten Gesellschaft garantiert.
Die lokalen Besonderheiten der infrastrukturellen Moderne demgegenüber traten erst allmählich ins Bewusstsein. So rechnete etwa die "Entwicklungspolitik" lange Zeit damit, dass Infrastrukturen mehr oder weniger umstandslos exportiert werden können und zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse führen. Die Erfahrungen widerlegten dieses soziopolitische Kalkül: Häufig scheiterten Infrastrukturprojekte oder führten "Entwicklungsländer" in die Abhängigkeit von ausländischen Experten. Technik verhält sich sozial und kulturell nicht neutral.
Wenn Angebot und Bedarf divergieren und Infrastrukturen nicht gewohnheitsmäßig gebraucht werden, weil die Vorteile ihrer Nutzung nicht einleuchten, dann veröden Netzwerke so schnell, wie sie aufgebaut wurden. Van Laak verweist mithin auf die Verbindung von Infrastrukturen und Lebensstilen, insbesondere auf die Bezüge zu einem großstädtischen Habitus, der "möglichst gefahrenarme und reibungslose Begegnung, Information oder Fortbewegung" bevorzugt.
Wenn jedoch bestimmte Wechselwirkungen einsetzen, dann entfalten Infrastrukturen eine gewaltige Eigendynamik, weil eine Entwicklung eine andere notwendig erscheinen lässt. Zu den großen Familienereignissen der Nachkriegszeit zählte etwa die Anschaffung eines Kühlschranks. Nun erschienen Großeinkäufe mit dem Auto naheliegend. Wie viele andere Haushaltsgeräte setzt auch dieses Utensil globale Waren- und Kühlketten voraus, die auf geeigneten Wasser-, Abwasser-, Elektrizitäts-, Verkehrs- und Kommunikationssystemen beruhen. Haushalte koppelten dadurch ihr Essverhalten von regionalen und saisonalen Angeboten ab; innerhalb der Familien konnte man vereinzelt und nach Belieben auf die Vorräte zugreifen, so dass gemeinsame Mahlzeiten fast schon besondere Ereignisse darstellen.
Infrastrukturen machten "neue Kreisläufe des Konsums" möglich, und umgekehrt legitimierten neue und nun immer stärker individualisierte Konsumbedürfnisse den Ausbau von Infrastrukturen. Beides dirigiert den Alltag ebenso nachhaltig wie untergründig - aber eben nur für einen ganz bestimmten Teil der Welt. Für die 1,3 Milliarden Menschen ohne Strom ist die Bestückung des Kühlschranks ebenso wenig ein Problem wie die Entscheidung, ob der Gas- oder Elektroherd kulinarisch zu bevorzugen sei, für jene 2,6 Milliarden, die ausschließlich mit Holz oder mit Dung kochen.
Die Geschichte der Infrastruktur verläuft ohne große Helden, Zäsuren und Jahrestage. In ihrem Zentrum stehen "moderne Durchschnittsmenschen in ihrer wiederkehrenden Bedürfnissphäre". Die infrastrukturellen Grundlagen ihres Lebens lassen sich nicht aus konsistenten Plänen erklären, sondern resultieren aus "einem Geflecht sehr unterschiedlicher und sehr widersprüchlicher Interessen". Dirk van Laak verfügt über einen großen Schatz an Anekdoten, zugleich über einen beeindruckenden Weitblick. Er verbindet erhellende und sehr unterhaltsam erzählte Episoden mit einem souveränen Wissen über Strukturen.
Auf der einen Seite führt dies zu einem unaufgeregten Blick auf aktuelle Entwicklungen. Im Reich der Infrastrukturen herrschen nicht die radikalen Innovationen, sondern Modifikationen, Renovierungen, Wiederholungen, Um- und Überbauten, Erweiterungen, Ergänzungen und Nachnutzungen. Weil es um Entwicklungen von langer Dauer geht, liegt vieles "unterhalb der alltäglichen Aufmerksamkeitsschwelle". Darin besteht zugleich die unbarmherzige Gewalt von Infrastrukturen als "Machtspeichern". Proteste gegen Verkehrsgroßprojekte wie "Stuttgart 21" bieten immer auch eine gute Gelegenheit zum symbolischen Widerstand gegen die zunehmende Abhängigkeit von Netzwerken, die das Leben durchwuchern. Dass für den zivilgesellschaftlichen Protest alle vorhandenen Infrastrukturen genutzt werden, versteht sich von selbst.
Im Smartphone schließlich verdichtet sich eine zweihundertjährige Infrastrukturgeschichte. Das Allerweltsgerät sorgt für Unabhängigkeit von räumlichen und sozialen Begrenzungen und gewährt Anschluss an die globalen Daten- und Informationsströme. Zugleich setzt es die Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, permanent Entscheidungen zu treffen und die Nutzung ständig neuer digitaler Angebote einzuüben. "In aller Regel", so van Laaks frustrierender Befund, "wird die Zeit, die wir durch schnellere Wege oder bessere Organisation gewinnen, sogleich wieder für Aktivitäten verausgabt, die zuvor nicht auf der Agenda standen".
Statt für Selbstverständlichkeit und Verlässlichkeit zu sorgen, steigt der Druck. Wenn Infrastrukturen moderne Gesellschaften auf einen gleichmäßigen, gemeinsamen Takt eingeschworen haben, wird zudem deutlich, was auf dem Spiel steht, sobald das zunehmend differenzierte und diverse digitale Angebot das "Ideal der Gleichbehandlung" in Frage stellt.
STEFFEN MARTUS
Dirk van Laak: "Alles im Fluss". Die Lebensadern unserer Gesellschaft - Geschichte und Zukunft der Infrastruktur.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 368 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erst wenn der Strom ausfällt oder es kein Netz gibt, merkt der moderne Mensch, wie sehr seine Lebensweise von funktionierender Infrastruktur abhängt. Dirk van Laak kennt deren Geschichte und Gegenwart - und ihre Schwachstellen.
Wie ist es möglich, dass Sie diesen Artikel gerade lesen? Falls Sie die Print-Version der "Frankfurter Allgemeinen" in den Händen halten, verdanken Sie dies der Papier- und Druckindustrie, einem komplexen Geflecht von materiellen, menschlichen und technischen Ressourcen, das Tag für Tag Millionen von Zeitungsseiten produziert. Als Abonnent profitieren Sie von einem verlässlichen Verkehrssystem, so dass Sie spätestens ab sechs Uhr mit einer neuen Zeitung im Briefkasten rechnen können.
Vermutlich schalten Sie bei der morgendlichen Lektüre das Licht an. Vielleicht haben Sie zur Vorbereitung Kaffee oder Tee gekocht und dafür fließendes Wasser verwendet. Nutzen Sie das "E-Paper" oder greifen auf "faz.net" zu, benötigen Sie eine stabile Internetverbindung. Selbst wenn man die Arbeit der Zeitungsredaktion komplett ausblendet, darf man über diesen Lektüreaugenblick staunen, der von einer Errungenschaft der Moderne unabsehbar profitiert: der Einrichtung von Infrastrukturen.
1952 stieß ein Reporter dieser Zeitung bei einer Nato-Tagung auf dieses irritierende Wort und meinte, es klinge "für deutsche Ohren bizarr und unverständlich". Er warnte vor der gedankenlosen Verwendung des Begriffs und riet dringend dazu, diesen stets "ins Deutsche zu übersetzen". Mittlerweile zählt die Rede von "Infrastrukturen" zum festen Repertoire der Beschreibung unserer Gegenwart. Was begründet diese bemerkenswerte Wort- und Begriffskarriere? Der Leipziger Historiker Dirk van Laak zählt zu den Pionieren der Infrastrukturforschung und hat nun eine komprimierte Studie über die "Lebensadern unserer Gesellschaft" vorgelegt.
Er versteht unter Infrastrukturen "alles Stabile, das notwendig ist, um Mobilität und einen Austausch von Menschen, Gütern und Ideen zu ermöglichen", also etwa Straßen, Kanäle, Brücken, Schienen oder Leitungen. Es handelt sich insofern um ein modernes Phänomen, als infrastruktureller "Austausch" der Idee nach alle oder zumindest eine Mehrzahl von Menschen eines bestimmten Gebiets erreichen und vernetzen soll. Damit wird die Vorstellung einer in gewissen Hinsichten homogenen Bevölkerung sowie gleichmäßig regierbarer Herrschaftsräume vorausgesetzt. Entsprechende Konzepte von Gesellschaft, Politik oder Wirtschaft haben sich seit dem achtzehnten Jahrhundert angedeutet, im neunzehnten verdichtet und gelten seit dem zwanzigsten als Normalfall.
Diese Normalitätsunterstellung beruht auf einem tiefgreifenden Irrtum, für den wiederum die Einrichtung von Infrastrukturen verantwortlich ist. Diese sorgen nämlich überhaupt erst dafür, dass wir einen gewöhnlichen Alltag erwarten dürfen. "Infrastruktur", so van Laaks Beobachtung, "erzeugt Fließräume, in die wir uns im Bedarfsfall einklinken, indem wir das Leitungswasser laufen lassen, den Strom anschalten, die Bahn besteigen oder ins Internet gehen". Wenn das Wasser wegen Leitungsarbeiten für einen Vormittag abgestellt oder die Mülltonne zweimal nicht geleert wird, wenn die Internetverbindung für einen Augenblick gestört ist oder der Strom ausfällt, wird deutlich, wie instabil und außergewöhnlich unsere Alltäglichkeit ist, wie notdürftig der Zivilisationsfirnis unsere "gute Ordnung" beschirmt und wie schnell wir die Contenance verlieren, die den geschmeidigen Umgang in einer extrem dicht vernetzten Gesellschaft garantiert.
Die lokalen Besonderheiten der infrastrukturellen Moderne demgegenüber traten erst allmählich ins Bewusstsein. So rechnete etwa die "Entwicklungspolitik" lange Zeit damit, dass Infrastrukturen mehr oder weniger umstandslos exportiert werden können und zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse führen. Die Erfahrungen widerlegten dieses soziopolitische Kalkül: Häufig scheiterten Infrastrukturprojekte oder führten "Entwicklungsländer" in die Abhängigkeit von ausländischen Experten. Technik verhält sich sozial und kulturell nicht neutral.
Wenn Angebot und Bedarf divergieren und Infrastrukturen nicht gewohnheitsmäßig gebraucht werden, weil die Vorteile ihrer Nutzung nicht einleuchten, dann veröden Netzwerke so schnell, wie sie aufgebaut wurden. Van Laak verweist mithin auf die Verbindung von Infrastrukturen und Lebensstilen, insbesondere auf die Bezüge zu einem großstädtischen Habitus, der "möglichst gefahrenarme und reibungslose Begegnung, Information oder Fortbewegung" bevorzugt.
Wenn jedoch bestimmte Wechselwirkungen einsetzen, dann entfalten Infrastrukturen eine gewaltige Eigendynamik, weil eine Entwicklung eine andere notwendig erscheinen lässt. Zu den großen Familienereignissen der Nachkriegszeit zählte etwa die Anschaffung eines Kühlschranks. Nun erschienen Großeinkäufe mit dem Auto naheliegend. Wie viele andere Haushaltsgeräte setzt auch dieses Utensil globale Waren- und Kühlketten voraus, die auf geeigneten Wasser-, Abwasser-, Elektrizitäts-, Verkehrs- und Kommunikationssystemen beruhen. Haushalte koppelten dadurch ihr Essverhalten von regionalen und saisonalen Angeboten ab; innerhalb der Familien konnte man vereinzelt und nach Belieben auf die Vorräte zugreifen, so dass gemeinsame Mahlzeiten fast schon besondere Ereignisse darstellen.
Infrastrukturen machten "neue Kreisläufe des Konsums" möglich, und umgekehrt legitimierten neue und nun immer stärker individualisierte Konsumbedürfnisse den Ausbau von Infrastrukturen. Beides dirigiert den Alltag ebenso nachhaltig wie untergründig - aber eben nur für einen ganz bestimmten Teil der Welt. Für die 1,3 Milliarden Menschen ohne Strom ist die Bestückung des Kühlschranks ebenso wenig ein Problem wie die Entscheidung, ob der Gas- oder Elektroherd kulinarisch zu bevorzugen sei, für jene 2,6 Milliarden, die ausschließlich mit Holz oder mit Dung kochen.
Die Geschichte der Infrastruktur verläuft ohne große Helden, Zäsuren und Jahrestage. In ihrem Zentrum stehen "moderne Durchschnittsmenschen in ihrer wiederkehrenden Bedürfnissphäre". Die infrastrukturellen Grundlagen ihres Lebens lassen sich nicht aus konsistenten Plänen erklären, sondern resultieren aus "einem Geflecht sehr unterschiedlicher und sehr widersprüchlicher Interessen". Dirk van Laak verfügt über einen großen Schatz an Anekdoten, zugleich über einen beeindruckenden Weitblick. Er verbindet erhellende und sehr unterhaltsam erzählte Episoden mit einem souveränen Wissen über Strukturen.
Auf der einen Seite führt dies zu einem unaufgeregten Blick auf aktuelle Entwicklungen. Im Reich der Infrastrukturen herrschen nicht die radikalen Innovationen, sondern Modifikationen, Renovierungen, Wiederholungen, Um- und Überbauten, Erweiterungen, Ergänzungen und Nachnutzungen. Weil es um Entwicklungen von langer Dauer geht, liegt vieles "unterhalb der alltäglichen Aufmerksamkeitsschwelle". Darin besteht zugleich die unbarmherzige Gewalt von Infrastrukturen als "Machtspeichern". Proteste gegen Verkehrsgroßprojekte wie "Stuttgart 21" bieten immer auch eine gute Gelegenheit zum symbolischen Widerstand gegen die zunehmende Abhängigkeit von Netzwerken, die das Leben durchwuchern. Dass für den zivilgesellschaftlichen Protest alle vorhandenen Infrastrukturen genutzt werden, versteht sich von selbst.
Im Smartphone schließlich verdichtet sich eine zweihundertjährige Infrastrukturgeschichte. Das Allerweltsgerät sorgt für Unabhängigkeit von räumlichen und sozialen Begrenzungen und gewährt Anschluss an die globalen Daten- und Informationsströme. Zugleich setzt es die Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, permanent Entscheidungen zu treffen und die Nutzung ständig neuer digitaler Angebote einzuüben. "In aller Regel", so van Laaks frustrierender Befund, "wird die Zeit, die wir durch schnellere Wege oder bessere Organisation gewinnen, sogleich wieder für Aktivitäten verausgabt, die zuvor nicht auf der Agenda standen".
Statt für Selbstverständlichkeit und Verlässlichkeit zu sorgen, steigt der Druck. Wenn Infrastrukturen moderne Gesellschaften auf einen gleichmäßigen, gemeinsamen Takt eingeschworen haben, wird zudem deutlich, was auf dem Spiel steht, sobald das zunehmend differenzierte und diverse digitale Angebot das "Ideal der Gleichbehandlung" in Frage stellt.
STEFFEN MARTUS
Dirk van Laak: "Alles im Fluss". Die Lebensadern unserer Gesellschaft - Geschichte und Zukunft der Infrastruktur.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 368 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dirk van Laak verfügt über einen großen Schatz an Anekdoten, zugleich über einen beeindruckenden Weitblick. Steffen Martus Frankfurter Allgemeine Zeitung 20180814