Karl Popper, einer der einflußreichsten Denker dieses Jahrhunderts, hat an diesem Buch bis zu seinem Tod gearbeitet. In den 16 Texten dieser Auswahl kommen noch einmal die großen Themen zur Sprache, die sein Lebenswerk beherrscht haben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.1995Fanatische Nüchternheit
Karl Poppers letztes Buch zeigt ihn dogmatischer und eifernder, als er zu sein glaubte
Wenn man in einem Buch mit festem Einband und dementsprechend hohem Anspruch auf Weltverbesserungsrezepte stößt, die sich im Wunsch nach Frieden und im Ruf nach einer Erziehung zur Gewaltlosigkeit erschöpfen; wenn man zur Kenntnis nehmen muß, was der Autor über "den" Hitler, "den" Haider und "den" Honecker an Allerweltsweisheiten beizusteuern hat; wenn man erfährt, daß der Verfasser Angst hat vor den menschenfressenden Mikroben und seinen Mitmenschen zuruft: "Das kann sehr schnell gehen. Jederzeit. Aber bis dahin können auch noch viele Jahrtausende vergehen" - wenn man so etwas liest oder lesen muß, wird man sich wahrscheinlich an Stammtischgespräche erinnert fühlen und von der Seriosität des Autors keine hohe Meinung haben.
Leider darf man es sich in diesem Fall so leicht nicht machen. Denn der Autor heißt Sir Karl Popper und das Buch, um das es geht, wird vom Verlag als sein Opus postumum ausgegeben. Popper ist im Herbst des vergangenen Jahres gestorben. Er gilt als einer der einflußreichsten Philosophen unserer Zeit und als ein "Partisan der Wahrheit", dessen Ansichten und Einsichten auch die praktische Politik gründlich verändert hätten. Fast alle deutschen Parteien haben sich, mehr oder weniger ausdrücklich, zu Poppers Lehren bekannt, besonders häufig und energisch tat dies Helmut Schmidt.
Das alles macht die Rezension nicht gerade leicht. Man muß außerdem auch noch mit der unendlich großen Schar von guten Menschen rechnen, die sich von Poppers liebenswerten Eigenschaften, seiner Bescheidenheit, seinem Gerechtigkeitsgefühl und seinem demonstrativen Optimismus, beeindrucken ließen. Sie stellen das Heer der sogenannten Popperianer, die überall und jederzeit dazu bereit sind, für ihr Idol ins Feld zu ziehen. Die alte und bewährte Regel, über Verstorbene nur freundlich, zumindest aber schonend zu sprechen, kommt hinzu und macht ein Urteil über Poppers letztes Werk aus vielen Gründen heikel.
Doch Popper war nicht irgendwer, und er hat sein letztes Buch, eine Sammlung von Vorträgen, Interviews und Diskussionsbeiträgen, in dieser Form gewollt. Wie er selbst im Vorwort schreibt, hat er bis zum Schluß an dem Text gearbeitet, der nun vielleicht wie sein Vermächtnis um die Welt gehen wird. Und das sogar zu Recht, denn es enthält tatsächlich so etwas wie eine populäre Summe aus Poppers Lebensthemen; wenn auch in einer Gestalt, die das Nachlassen der Kräfte im hohen Alter nicht verbergen kann.
Synopse also, aber nicht viel Neues. Im Kern ist Poppers Lehre ja auch gut bekannt, er selbst und seine große Gemeinde haben sie überall verbreitet. Sie handelt von der Vorläufigkeit des Wissens. Daß es mit der Erkenntnis weitergeht und es so etwas wie den Fortschritt wirklich gibt, ist eine Folge der genuin menschlichen Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Niemand weiß, ob er den richtigen Weg gefunden hat; er kann jedoch vermeiden, den falschen weiter zu verfolgen. Falsifikation statt Verifikation, das war und ist die Botschaft Poppers. Und, daraus abgeleitet, die ständige Mahnung zur Vorsicht, zum Augenmaß und zur Bescheidenheit.
Popper war immer stolz darauf, seine eigenen Regeln zu beachten. Nicht ohne intellektuelle Koketterie fordert er seine Hörer und Leser auf, ihm bloß nichts zu glauben. Er tut das allerdings nur so lange, wie er seine Paradepferde reitet, sich also über Wissenschaftsgeschichte, Erkenntniskritik und die theoretischen Vorzüge der offenen Gesellschaft auslassen kann. Sobald der Alltag ins Spiel kommt und es um handfeste Konsequenzen geht, ist es mit seiner Demut vorbei. Dann fällt er in die Rolle des Dogmatikers. Er weiß dann, daß wir in der besten aller denkbaren Welten leben, und er ruft auf zum Feldzug gegen die Ungläubigen, die Lügner, Sünder und Verbrecher - das sind tatsächlich seine Worte -, die den Menschen einreden, der Fortschritt sei gar nicht so groß, wie er ausschaut. Sie müssen bekehrt und bekämpft, vielleicht sogar bestraft werden.
Es gab schon immer Indizien dafür, daß Popper keineswegs so konziliant und großmütig war, wie er sich gab. Es war jedoch sein Unglück, so lange geredet und geschrieben zu haben, bis jeder das merken konnte. Mag sein, daß es der Sache dient, wenn er über die Feinde der offenen Gesellschaft ganze Kaskaden von Schimpfworten niedergehen läßt; Hegel wurde von Popper schon früher als frecher Clown bezeichnet. Man fragt sich aber, was es denn bringen soll, wenn er absatzweise über die schlimmen Menschen jammert, deren verruchte Ideologie aus dem armen Andrej Sacharow eine "wahnwitzige Bestie"gemacht habe, vorübergehend jedenfalls. Denn als Sacharow Stalin und dessen Nachfolgern Atombomben in die Hände gab, tat er nichts anderes als das, was andere Wissenschaftler in anderen Ländern ebenfalls getan hatten. Die fürchterlichen Verwendungspläne zum Gebrauch der neuen Waffe, über die sich Popper so sehr erregt, sind auch anderswo entworfen und empfohlen worden. Als es mit der amerikanischen Bombenentwicklung nicht ganz so schnell voranging wie erhofft, kam Enrico Fermi auf den Einfall, durch den Abwurf von Spaltprodukten, wahrscheinlich Strontium 90, die deutsche Zivilbevölkerung radioaktiv zu vergiften. Fermi, einer aus Poppers Heldengalerie, hielt diesen Plan für so vielversprechend, daß er ihn seinem Kollegen Oppenheimer vortrug. Der allerdings riet zum Abwarten, denn lohnen, meinte Oppenheimer, würde sich die Sache erst, wenn mit einer halben Million Todesopfern zu rechnen sei. Und so weit war man seinerzeit noch nicht.
Soviel zur Humanität der Forschung und zum "Lob der Technik als Kulturfaktor", dem Popper viel Platz einräumt. Es ist dies eines seiner großen Themen. Das andere Thema ist die Macht. Wie Jacob Burckhardt hält Popper sie für böse, aber anders als Burckhardt analysiert er sie nicht, sondern prangert sie nur an. Er stellt sie dar als Gegenpol zur guten Kraft der Wissenschaft. Deswegen gibt es bei ihm lange Ausführungen über die Machtgeschichte, die Popper als eine endlose Kette von Verbrechen und Massenmorden schildert, aber nicht ein einziges Wort über die Macht der Wissenschaft. Und das, obwohl die Gleichsetzung von Wissen und Macht doch schon seit Bacons Zeiten zum Programm gehört. Heute ist jeder durchschnittliche Politiker darauf angewiesen, sich auch bei kleinen Schritten "wissenschaftlich" abzusichern, und die angeblich Mächtigen sind in Abhängigkeit geraten von einer anderen Macht, die von niemandem beauftragt wurde und keinem verantwortlich ist.
Bei Popper findet sich von alledem nichts. Nichts als ein paar larmoyante Ausfälle gegen die Dunkelmänner, die von den Segnungen der Technik nichts hören wollen und ihren Zeitgenossen weismachen, sie lebten gar nicht dort, wo sie, wie Popper weiß, doch wirklich und wahrhaftig leben, im Paradies nämlich. In einer seiner früheren Sentenzen hatte er selbst bemerkt, daß es die Pfade in den Himmel an sich haben, geradewegs in der Hölle zu enden. Warum nur ist er nie auf den Gedanken gekommen, diese Vermutung auch auf das anzuwenden, was er selbst vorzutragen hatte?
Vielleicht ist er ein Opfer seines Erfolgs geworden. Seine Behauptung von der alles entscheidenden Bedeutung der Fehlerkorrektur ist immer wieder zitiert, aber kaum je überprüft worden. Denn andernfalls hätte man ja merken müssen, daß es mit der Möglichkeit, eine mißliebige Regierung ohne Blutvergießen loszuwerden, keineswegs getan ist. Die Kehrseite von Machtbegrenzung und Machtablösung ist die Machtbegründung. Die Weimarer Verfassung wußte, wie man eine Regierung los wird, stand aber ziemlich ratlos vor der Frage, wie man eine bildet, und landete deshalb bei der Notverordnung. Ein Glück, daß die Verfasser des Grundgesetzes keine Popperianer waren und die von ihm als belanglos abgetane Frage, wer herrschen solle, ernst genommen haben. Das konstruktive Mißtrauensvotum, einen ihrer besten Einfälle, hätte es sonst wohl nicht gegeben.
Mit diesem Buch hat Popper sich selbst keinen Gefallen getan, der Verlag schon gar nicht. Der Erzkritiker erscheint als ein Zelot, der zwar bescheiden auftritt, aber es gar nicht ist. Auch Sokrates, auf den er sich so gern beruft, hat nie beansprucht, etwas zu wissen. Aber Sokrates fragte, während Popper doziert, endlos und immerzu dasselbe. Irgendwo zitiert er dabei auch Hugo von Hofmannsthal: "Die Philosophie ist die Richterin eines Zeitalters; es steht schlimm, wenn sie statt dessen sein Ausdruck ist." Poppers Philosophie ist der perfekte Ausdruck ihrer Zeit. Und diese Zeit geht offenbar zu Ende. KONRAD ADAM
Karl R. Popper: "Alles Leben ist Problemlösen". Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. Piper Verlag, München 1994. 336 S., geb., 39,80 DM.
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Karl Poppers letztes Buch zeigt ihn dogmatischer und eifernder, als er zu sein glaubte
Wenn man in einem Buch mit festem Einband und dementsprechend hohem Anspruch auf Weltverbesserungsrezepte stößt, die sich im Wunsch nach Frieden und im Ruf nach einer Erziehung zur Gewaltlosigkeit erschöpfen; wenn man zur Kenntnis nehmen muß, was der Autor über "den" Hitler, "den" Haider und "den" Honecker an Allerweltsweisheiten beizusteuern hat; wenn man erfährt, daß der Verfasser Angst hat vor den menschenfressenden Mikroben und seinen Mitmenschen zuruft: "Das kann sehr schnell gehen. Jederzeit. Aber bis dahin können auch noch viele Jahrtausende vergehen" - wenn man so etwas liest oder lesen muß, wird man sich wahrscheinlich an Stammtischgespräche erinnert fühlen und von der Seriosität des Autors keine hohe Meinung haben.
Leider darf man es sich in diesem Fall so leicht nicht machen. Denn der Autor heißt Sir Karl Popper und das Buch, um das es geht, wird vom Verlag als sein Opus postumum ausgegeben. Popper ist im Herbst des vergangenen Jahres gestorben. Er gilt als einer der einflußreichsten Philosophen unserer Zeit und als ein "Partisan der Wahrheit", dessen Ansichten und Einsichten auch die praktische Politik gründlich verändert hätten. Fast alle deutschen Parteien haben sich, mehr oder weniger ausdrücklich, zu Poppers Lehren bekannt, besonders häufig und energisch tat dies Helmut Schmidt.
Das alles macht die Rezension nicht gerade leicht. Man muß außerdem auch noch mit der unendlich großen Schar von guten Menschen rechnen, die sich von Poppers liebenswerten Eigenschaften, seiner Bescheidenheit, seinem Gerechtigkeitsgefühl und seinem demonstrativen Optimismus, beeindrucken ließen. Sie stellen das Heer der sogenannten Popperianer, die überall und jederzeit dazu bereit sind, für ihr Idol ins Feld zu ziehen. Die alte und bewährte Regel, über Verstorbene nur freundlich, zumindest aber schonend zu sprechen, kommt hinzu und macht ein Urteil über Poppers letztes Werk aus vielen Gründen heikel.
Doch Popper war nicht irgendwer, und er hat sein letztes Buch, eine Sammlung von Vorträgen, Interviews und Diskussionsbeiträgen, in dieser Form gewollt. Wie er selbst im Vorwort schreibt, hat er bis zum Schluß an dem Text gearbeitet, der nun vielleicht wie sein Vermächtnis um die Welt gehen wird. Und das sogar zu Recht, denn es enthält tatsächlich so etwas wie eine populäre Summe aus Poppers Lebensthemen; wenn auch in einer Gestalt, die das Nachlassen der Kräfte im hohen Alter nicht verbergen kann.
Synopse also, aber nicht viel Neues. Im Kern ist Poppers Lehre ja auch gut bekannt, er selbst und seine große Gemeinde haben sie überall verbreitet. Sie handelt von der Vorläufigkeit des Wissens. Daß es mit der Erkenntnis weitergeht und es so etwas wie den Fortschritt wirklich gibt, ist eine Folge der genuin menschlichen Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Niemand weiß, ob er den richtigen Weg gefunden hat; er kann jedoch vermeiden, den falschen weiter zu verfolgen. Falsifikation statt Verifikation, das war und ist die Botschaft Poppers. Und, daraus abgeleitet, die ständige Mahnung zur Vorsicht, zum Augenmaß und zur Bescheidenheit.
Popper war immer stolz darauf, seine eigenen Regeln zu beachten. Nicht ohne intellektuelle Koketterie fordert er seine Hörer und Leser auf, ihm bloß nichts zu glauben. Er tut das allerdings nur so lange, wie er seine Paradepferde reitet, sich also über Wissenschaftsgeschichte, Erkenntniskritik und die theoretischen Vorzüge der offenen Gesellschaft auslassen kann. Sobald der Alltag ins Spiel kommt und es um handfeste Konsequenzen geht, ist es mit seiner Demut vorbei. Dann fällt er in die Rolle des Dogmatikers. Er weiß dann, daß wir in der besten aller denkbaren Welten leben, und er ruft auf zum Feldzug gegen die Ungläubigen, die Lügner, Sünder und Verbrecher - das sind tatsächlich seine Worte -, die den Menschen einreden, der Fortschritt sei gar nicht so groß, wie er ausschaut. Sie müssen bekehrt und bekämpft, vielleicht sogar bestraft werden.
Es gab schon immer Indizien dafür, daß Popper keineswegs so konziliant und großmütig war, wie er sich gab. Es war jedoch sein Unglück, so lange geredet und geschrieben zu haben, bis jeder das merken konnte. Mag sein, daß es der Sache dient, wenn er über die Feinde der offenen Gesellschaft ganze Kaskaden von Schimpfworten niedergehen läßt; Hegel wurde von Popper schon früher als frecher Clown bezeichnet. Man fragt sich aber, was es denn bringen soll, wenn er absatzweise über die schlimmen Menschen jammert, deren verruchte Ideologie aus dem armen Andrej Sacharow eine "wahnwitzige Bestie"gemacht habe, vorübergehend jedenfalls. Denn als Sacharow Stalin und dessen Nachfolgern Atombomben in die Hände gab, tat er nichts anderes als das, was andere Wissenschaftler in anderen Ländern ebenfalls getan hatten. Die fürchterlichen Verwendungspläne zum Gebrauch der neuen Waffe, über die sich Popper so sehr erregt, sind auch anderswo entworfen und empfohlen worden. Als es mit der amerikanischen Bombenentwicklung nicht ganz so schnell voranging wie erhofft, kam Enrico Fermi auf den Einfall, durch den Abwurf von Spaltprodukten, wahrscheinlich Strontium 90, die deutsche Zivilbevölkerung radioaktiv zu vergiften. Fermi, einer aus Poppers Heldengalerie, hielt diesen Plan für so vielversprechend, daß er ihn seinem Kollegen Oppenheimer vortrug. Der allerdings riet zum Abwarten, denn lohnen, meinte Oppenheimer, würde sich die Sache erst, wenn mit einer halben Million Todesopfern zu rechnen sei. Und so weit war man seinerzeit noch nicht.
Soviel zur Humanität der Forschung und zum "Lob der Technik als Kulturfaktor", dem Popper viel Platz einräumt. Es ist dies eines seiner großen Themen. Das andere Thema ist die Macht. Wie Jacob Burckhardt hält Popper sie für böse, aber anders als Burckhardt analysiert er sie nicht, sondern prangert sie nur an. Er stellt sie dar als Gegenpol zur guten Kraft der Wissenschaft. Deswegen gibt es bei ihm lange Ausführungen über die Machtgeschichte, die Popper als eine endlose Kette von Verbrechen und Massenmorden schildert, aber nicht ein einziges Wort über die Macht der Wissenschaft. Und das, obwohl die Gleichsetzung von Wissen und Macht doch schon seit Bacons Zeiten zum Programm gehört. Heute ist jeder durchschnittliche Politiker darauf angewiesen, sich auch bei kleinen Schritten "wissenschaftlich" abzusichern, und die angeblich Mächtigen sind in Abhängigkeit geraten von einer anderen Macht, die von niemandem beauftragt wurde und keinem verantwortlich ist.
Bei Popper findet sich von alledem nichts. Nichts als ein paar larmoyante Ausfälle gegen die Dunkelmänner, die von den Segnungen der Technik nichts hören wollen und ihren Zeitgenossen weismachen, sie lebten gar nicht dort, wo sie, wie Popper weiß, doch wirklich und wahrhaftig leben, im Paradies nämlich. In einer seiner früheren Sentenzen hatte er selbst bemerkt, daß es die Pfade in den Himmel an sich haben, geradewegs in der Hölle zu enden. Warum nur ist er nie auf den Gedanken gekommen, diese Vermutung auch auf das anzuwenden, was er selbst vorzutragen hatte?
Vielleicht ist er ein Opfer seines Erfolgs geworden. Seine Behauptung von der alles entscheidenden Bedeutung der Fehlerkorrektur ist immer wieder zitiert, aber kaum je überprüft worden. Denn andernfalls hätte man ja merken müssen, daß es mit der Möglichkeit, eine mißliebige Regierung ohne Blutvergießen loszuwerden, keineswegs getan ist. Die Kehrseite von Machtbegrenzung und Machtablösung ist die Machtbegründung. Die Weimarer Verfassung wußte, wie man eine Regierung los wird, stand aber ziemlich ratlos vor der Frage, wie man eine bildet, und landete deshalb bei der Notverordnung. Ein Glück, daß die Verfasser des Grundgesetzes keine Popperianer waren und die von ihm als belanglos abgetane Frage, wer herrschen solle, ernst genommen haben. Das konstruktive Mißtrauensvotum, einen ihrer besten Einfälle, hätte es sonst wohl nicht gegeben.
Mit diesem Buch hat Popper sich selbst keinen Gefallen getan, der Verlag schon gar nicht. Der Erzkritiker erscheint als ein Zelot, der zwar bescheiden auftritt, aber es gar nicht ist. Auch Sokrates, auf den er sich so gern beruft, hat nie beansprucht, etwas zu wissen. Aber Sokrates fragte, während Popper doziert, endlos und immerzu dasselbe. Irgendwo zitiert er dabei auch Hugo von Hofmannsthal: "Die Philosophie ist die Richterin eines Zeitalters; es steht schlimm, wenn sie statt dessen sein Ausdruck ist." Poppers Philosophie ist der perfekte Ausdruck ihrer Zeit. Und diese Zeit geht offenbar zu Ende. KONRAD ADAM
Karl R. Popper: "Alles Leben ist Problemlösen". Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. Piper Verlag, München 1994. 336 S., geb., 39,80 DM.
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