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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Entlang des Denk- und Fühlgeländers über die Trittsteine der Sprache: Kurt Drawerts ausuferndes Langgedicht "Alles neigt sich zum Unverständlichen hin" erhebt das mäandernde Selbstgespräch zur großen Kunst.
In seinem Altersgedicht "Dämmrung senkte sich von oben" mit den Zeilen "Alles schwankt ins Ungewisse / Nebel schleichen in die Höh'" verbindet Goethe das Naturbild des sinkenden Tags am spiegelnden See mit dem Eindunkeln des Lebens, den Erinnerungen an Licht und Liebe und der Ahnung von Abschied, von Tod. Nach einem erotischen Anklang des scherzenden Haargezweiges schlanker Weiden über dem Wasser schickt Luna ein zugleich spätes wie frühes "Zauberlicht". Das Gedicht endet: "Und durchs Auge schleicht die Kühle / Sänftigend ins Herz hinein". Das Langgedicht "Alles neigt sich zum Unverständlichen hin" von Kurt Drawert (Jahrgang 1956) ist in seiner Tonalität denkbar weit von Goethes Erlebnislyrik entfernt, und doch berührt es sich mit den Versen des Weimarer Weltbewohners.
Beiden geht es um eine Lyrik der Erfahrung, die heilend, zumindest helfend sein kann. Themen sind der Augenblick und die Endlichkeit eines Menschenlebens, die Erinnerung an Liebesbegegnungen, das Bewusstsein des nahenden Todes. Dazu kommen bei Drawert politische Reflexionen und Impressionen (zwischen Moorsoldaten und Corona und cancel culture), Erinnerungen an die DDR, die Euphorie der Jugend. Und Drawert ist latent und explizit phallushaltig. (Obwohl, Goethe konnte das auch, "gespannt mein Feuerrohr", und dann reimte er "Meister Iste" auf "Christe".)
Dem in Paragraphen, wie ein Lebensgesetzbuch, gegliederten Epos sind Schwarz-Weiß-Fotos beigegeben; sie lassen sich als poetologische Kommentare lesen. Da ist etwa der Fenster-Doppelblick: im Vordergrund der Bildschirm des PC mit gerade dem Text, der auch im Buch zu lesen ist, dahinter das beregnete Scheibenglas, das die unscharfe Sicht auf das Draußen freigibt. Drawert steht nicht mehr wie Goethe am See, sondern er bewegt sich in einem Zwischenbereich der Wechselwirkungen von Kunst und Literatur. Erzieherinnen wissen von Kindern, die keine Blutorangen essen, weil sie Vegetarier sind. Wer sich für das fluide Verhältnis von Wort und Ding, Signifikant und Signifikat genauer interessiert, der wird bei Saussure nachlesen, bei Derrida und bei Lacan, den Drawert unermüdlich zitiert, ja, der ihm Denk- und Fühlgeländer ist.
Es gibt Menschen, die im Akt des Schreibens überleben. Das prägt ihre Texte. Sie sind dann nicht unbedingt glatt ausgearbeitet, sondern bewahren das Raue, das Frische, das Zufällige des Entwurfs. Drawerts Gedicht ist auch Tagebuch, oft nah an der écriture automatique, in das die Stimmungen der Stunden eingehen. "Jetzt bin ich // schon wieder zehn Minuten älter als zehn Minuten vorher, als / ich noch eine Strophe weiter oben war". Sein Schreiben nimmt Anlauf zur Sprache, um sich ihr zu verweigern. Das führt zu einer paradoxen Bewegung zwischen Abwehr und Begehren; dann greift er nach dem Wort wie ein Ertrinkender. "Wir sollten nicht mehr weiterschreiben", und auf derselben Seite: "Ich sollte nicht mehr weiterschreiben. Jeder Satz / lügt. Auch dieser", und ein wenig tiefer: "Ich sollte aufhören zu schreiben."
Aber Schreiben ist Atmen, ist ein wildes sauerstoffschnappendes Umsichschlagen nach - ja nach was? Nach Verständnis, Liebe, Daseinsberechtigung, Gehörtwerden (finanzielle Dauerkrise, versagender Körper, Ekel in Amerika). Es ist Wut und Weltempörung (nicht immer kalauerresistent). Und Wehmut nach der verlorenen Jugend, also nach der Zukunft, die im zwanzigsten Jahrhundert eine andere war. Schreiben ist ein Gefäß für die Depression. "Früh, also mittags, kein Gefühl von einem Gefühl (mehr), wie / taubes, flaues Gestein, wenn es in einem Teich versinkt. Ich bin // das Gegenteil meiner selbst, am Rande der Sprache, vom Realen / erschöpft. [...] Heute ist der 14. September." Oder sehr schlicht: "Wieviele Jahre, Herr, muss ich noch // leben?"
Ich schreibe, also bin ich. Bin ich? "Übrigens ist Ich nicht = ich. Das Text-Ich gehört nicht / zur somatischen, sondern zur symbolischen Ordnung. Es ist aus // Sprache gemacht u. in Sprache wird es zerfallen. Darum reden / wir. Um uns zu erschaffen".
Tatsächlich ist vieles in Drawerts Gedicht nicht verständlich. Und auch darum geht es. Um das "Schwadronieren", um die mäandernden Selbstgespräche. "DIE LAGE // IST SCHEISSE. Wirklich alles am Abhang. Das Klima. Das / Klimakterium. Die Beschneidung der Klitoris. Nichts wendet / sich zum Gegenteil seiner negativen Grundfunktion. Und was / haben wir nicht alles gedacht + geschrieben, gesagt + gesehen d. // letzten Jahrtausende hindurch." Doch "und er schreibt und er schreibt und er schreibt; dann bricht/ die Nacht // ins güldene Tal". Und wie ein Wanderer, der einen Fluss mit Schwemmhölzern, Geröll überqueren muss, springt der Leser (nein, mit Drawert gendert die Kritikerin nicht, auch das ist Thema) auf Steine, die Halt versprechen, auf einfache Sätze, die tragen.
Man wird kaum sagen können, dass Kurt Drawert demütig sei. Aber muss ein Autor das sein, bescheiden, sozial? Rilke war auch nicht demütig, sondern ein muttergeschädigter Narzisst. "Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen ?" Bei Drawert klingt das Echo so: "Wie oft noch, dieselbe Verrichtung, der gleiche Weg, Herr. // Natürlich antwortet keiner. Wäre ja noch schöner." Oder: "Wann liegt so ein Leben so komplett neben sich? Weiß das einer / aus der Engel Ordnungen? Vielleicht schreibt man dafür die / Bücher u. Bücher für wen und so weiter - nur um zu wissen, / wer man nicht ist."
Und auch die Mutter wird immer wieder angerufen, ("Was gibt es noch / Mutter. Es regnet sich ein, hier, im Odenwald") und durchklingt den Text wie ein Basso Continuo der gesuchten, verhinderten (?) Identität. Und Frau Müller grüßt, die Reinigungsfachfrau, die "plötzlich meinungsrelevant" ist, "wenn die Gruppe sich quer stellt // und bei ALDI am Parkplatz aber auch alles auseinandernimmt". Ist das die chauvinistische Zunge aus der "old school of old white men"? Und wir wollen nicht Klara vergessen. (Wie Frau Müller ist sie Drawert-Lesern bereits bekannt aus "Der Körper der Zeit", 2016.) Die verlorene Geliebte, deren Erscheinung hier nun wehmütig-schöne Verse gewidmet sind, bevor durch das Auge die Kühle schleicht: "Dann auch stehst du wieder / da, in der Mitte des Raumes, wie einmal, als wir noch nichts / von uns wussten - und ich kann es dir endlich, endlich sagen." ANGELIKA OVERATH
Kurt Drawert: "Alles neigt sich zum Unverständlichen hin". Gedicht.
Verlag C. H. Beck, München 2024. 176 S., Abb., geb., 24,- Euro.
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Deutschlandfunk Büchermarkt, Christian Metz
"Den Strom dieser überwältigenden Dichtung kann und soll man also nicht bremsen. Es gibt beim Lesen nur eine Option: absolute Hingabe!"
Frankfurter Rundschau, Björn Hayer
"'Alles neigt sich zum Unverständlichen hin' erhebt das mäandernde Selbstgespräch zur großen Kunst."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Angelika Overath
"In Kurt Drawerts famosen Band 'Alles neigt sich zum Unverständlichen hin', dokumentiert er den Abgrund, in den wir alltäglich schauen."
Büchermagazin, Björn Hayer