Rassismuskritik ist allgegenwärtig. Aber was geschieht, wenn Vorwürfe systematisch überzogen und alltägliche Banalitäten mit der gleichen Verve beanstandet werden wie rassistisch motivierte Straftaten? Verliert dann nicht die Kritik ihre Wirkung und das Phänomen seine Konturen? Levent Tezcan legt eine pointierte Polemik gegen eine aufgeregte Debatte vor, die die Gemüter in Dauerschleife erhitzt. Alles Rassismus geht der Frage nach, warum rassische Unterscheidungen auch jenseits von fremdenfeindlichen Diskursen Konjunktur haben. Die medialisierte Rassismuskritik bietet sich derzeit als neue Großerzählung an, in der sich Subjekte als Marginalisierte gegenüber den Privilegierten in Stellung bringen und die Hautfarbe zum neuen Referenzpunkt wird. Tezcan stellt den zunehmenden Gebrauch von rassischen Unterscheidungen in den Zusammenhang der Affektökonomie westlicher Gesellschaften, in der eine Verschiebung von Stärke und Schwäche stattfindet. Gerecht sind nun die Vulnerablen, denen zur Sichtbarkeit verholfen werden soll, nicht zuletzt durch die Forderung nach Migrantenquoten. Gefördert wird aber tatsächlich, so die provokante These des Buches, vor allem das Ressentiment – und zwar bei den Minderheiten wie bei der Mehrheit. Die eigentliche Gefahr für die demokratisch verfassten Gesellschaften geht aber nicht vom »alltäglichen Rassismus« und seinen Mikroaggressionen aus, sondern von einer rassistischen Politik, die in Europa wieder auf dem Vormarsch ist.
»Ein Appell an das kollektive Verantwortungsgefühl für eine solidarische Gesellschaft ohne Hautfarbenfetisch.« (Katharina Teutsch, DLF Kultur Lesart, 22.08.2024)
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Der "provokante" Ton von Levent Tezcans Kritik an den rassismuskritischen Diskursen der Gegenwart hat Rezensentin Katharina Teutsch beeindruckt. Tezcan, von Haus aus Soziologe, beklagt laut Teutsch die Leichtigkeit, mit der heute Fragen oder Gesten als "rassistisch" bezeichnet würden. Insbesondere das Abstellen auf die Hautfarbe stört Tezcan, denn damit werde Identität umgehend wieder "rassifiziert", während andere Merkmale, wie soziale Stellung oder unterschiedliche Migrationsgeschichten ignoriert würden, referiert die Kritikerin. Bei all den beklagten Mikroaggressionen fällt der echte Rassismus oft genug unter den Tisch, fürchtet Tezcan. Da mag die Rezensentin nicht widersprechen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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