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Er beherrscht das Spiel mit Kolonialklischees: Matthias Polityckis begeisternder Abenteuerroman "Alles wird gut"
Wann hat man eigentlich zuletzt einen Roman gelesen, dem Landkarten beigegeben waren? Dass wir den "Herrn der Ringe" oder die "Schatzinsel" gelesen haben, liegt schon ziemlich lange zurück. Seither sind solche geographischen Orientierungshilfen zur Lektüre eher selten anzutreffen, zumal in deutscher Gegenwartsliteratur. Die spielt meistens in Milieus, ob urban oder ländlich, die uns ohnehin vage vertraut anmuten, und wenn sie Abenteuerliches zu erzählen hat, dann handelt es sich meistens um Affären oder sonstige Beziehungsabenteuer, wie sie sich im Alltag eben zutragen.
Das ist bei Matthias Politycki anders. Nach Gegenwartsromanen, die beispielsweise auf Kuba, in Usbekistan oder am Kilimandscharo spielen, führt uns sein aktuelles Buch abermals in eine Welt, die vorsätzlich als unbekannt und unnahbar gezeichnet wird, eine Welt der Fremde, dunkel lockend, faszinierend und gefährlich. "Dizi", "Mursi", "Suri", "Omo", "Karo" oder "Hamar" lesen wir auf der Landkarte in den Buchinnendeckeln. Und während wir noch rätseln, ob wir davon jemals gehört haben, sind wir schon mitten im Gemenge aus Reiseschilderungen, Schicksalsgeschichten, Ethnofiktionen, Aufbruchsphantasien sowie Kolonialklischees, in das uns der Roman entführt: ein risikobereites Abenteuerstück der alten Schule, das von einer Fahrt ins Innere mit Reiseleiter, Übersetzer und Chauffeur erzählt.
Äthiopien, Anfang 2020. Der Friedensschluss mit Eritrea nach jahrzehntelangem Krieg hat Premierminister Ahmed den Friedensnobelpreis eingebracht. Doch der nächste blutige Konflikt, diesmal ein Bürgerkrieg um die nördliche Region Tigray, bahnt sich im Vielvölkerstaat schon an. Zugleich erreichen erste Nachrichten von einem bislang unbekannten Lungenvirus, das die Europäer einschleppen, das Land und heizen die gespannte Lage weiter an. Da ist ein kleiner Wissenschaftsskandal, der sich bei einem deutsch-äthiopischen Ausgrabungsprojekt zuträgt, unbedeutend: Fundstücke wurden verscherbelt, Gelder veruntreut, Berichte gefälscht. Der Grabungsleiter Trattner wird fristlos entlassen, doch auch das spielt keine Rolle. Trattner ist Wiener in der Midlife-Crisis, ein Lebens- und Performancekünstler, der mit dem verkrachten Studium ohnehin für seine Stellung nie qualifiziert war und den Job wie den Magistertitel nur seinen guten österreichischen Verbindungen verdankt. Jetzt, da er gehen muss, will er zum Abschied eine Reise unternehmen in die Grenzregion zum Südsudan, wo in unwegsamen Flusstälern und urtümlichen Landschaften die Menschen fernab zivilisatorischer Gepflogenheiten leben sollen: das echte Afrika, wie es ihm sein lokaler Dienstleister und Reisechef, ein vielsprachiger Tausendsassa mit Handy und Händchen fürs Geschäftliche, verheißt.
Tatsächlich wird Trattner nicht enttäuscht. In der Region zwischen dem Kibish und dem Omo-Fluss - hier halten wir uns dankbar an die Karte - stößt er auf allerhand Einschlägiges, wie Europäer es von Afrika erwarten: Stockkämpfe, Lippenteller, Blut- und Schwellenrituale, Opferhandlungen und Stierschlachtungen, auch wenn vieles davon offenkundig längst touristischer Vermarktung unterliegt. Und Trattner stößt auf eine Frau, die ihm sofort zum Inbegriff des Rätselhaften wird, mit dem ihn das Land in den Bann schlägt. Er wird Zeuge schrecklicher Gewalt, die ihr geschieht und doch nichts anzuhaben scheint. Das eigentliche Abenteuer nimmt seinen Lauf, als diese Frau sich überraschend in Trattners Auto wiederfindet, offenkundig auf der Flucht vor ihrer repressiven Dorfgemeinschaft, die sie dennoch, wie sich zeigt, nie hinter sich lassen kann.
Um diese schöne Afrikanerin - Rebellin und Kämpferin, Tänzerin und Täterin wiewohl zugleich auch Opfer - dreht sich die Geschichte. Trattner atmet ihren Körpergeruch, verbringt die Nächte schlaflos neben ihr, kann sie ganz unbefangen nackt betrachten, aber nie berühren. Ob Frauen, die seit jungen Jahren Lippenteller tragen müssen, Küsse mögen oder überhaupt je kennen, überlegt er sich zu spät. Denn eines Morgens ist sie fort. Ihm bleiben Ungewissheit und Begehren: "Ihre Fremdheit war ihm ein Zauber. Aber wann würde sie aufhören, ihn zu faszinieren, und interessant werden? Um schließlich nurmehr beschwerlich zu sein? Und die Liebe? Ach, die Liebe. Wer wollte wissen, wie sie im Herzen Afrikas geregelt war."
Solche Sätze zeigen, wie rückhaltlos sich der Roman in die Nachfolge modernistischer Kolonialfiktionen stellt, die von Joseph Conrads "Herz der Finsternis" ausgehen und Europäer in der Sinnkrise, gern mit erotischen Verwicklungen, vor der Kulisse des sogenannten dunklen Kontinents in Szene setzen. Das ist ebenso bemerkens- wie bedenkenswert. Doch wer Politycki bloße Klischeekolportage vorwirft, greift zu kurz und verkennt das Raffinement seiner Erzählregie. Denn ganz überwiegend sind wir bei ihm den Beobachtungen oder Mutmaßungen eines zweifelhaften Außenseiterhelden ausgeliefert, der selbst kaum je versteht, was eigentlich geschieht, und sich mit den zitierten - oft wirklich schwer erträglichen - Stereotypen behelfsmäßig nur einen Reim auf das Erlebte machen will.
Hinzu kommt die Präsenz der Dolmetscher, die den gesamten Roman prägt und ihn zu einem Abenteuer des Verständigens in unbekannten Sprachen macht. Außer der Amtssprache Englisch, die immer wieder kenntlich wird, kann Trattner keine der zahlreichen Landessprachen und bleibt daher durchweg auf die Dienste hilfreicher Dolmetscher angewiesen, die ihm alles - auch die Lebensgeschichte der schönen Unbekannten - übermitteln. Doch zunehmend gibt es Anlass, auch für uns, an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln. Was übersetzt und was erfunden, was erlogen und was schlicht phantasiert sein mag, wird immer undurchdringlicher. Zum Ende hin verfängt der Held sich ganz in dem Geflecht aus Geschichten und Gerüchten, das auch uns immer gewaltiger umgarnt.
Denn für all das findet Politycki eine packende Erzählsprache, die nahezu alle Dialoge virtuos in indirekter Rede wiedergibt und oftmals nebensächliche Details der Lebenswelt - die Aluminiumeimer vor den Rundhütten, das Apple-Logo auf dem Spülkasten, die Plastikwasserflaschen als Blumenbeetbegrenzung - scharf stellt, während das Zentrum des Geschehens irritierend unklar bleibt. Und dann wieder liest man starke Sätze wie die folgenden: "Als sie die Kneipe betraten, war die Sonne untergegangen, ein Streifen geronnenes Licht lag noch zart überm Horizont. Die Geräusche des Tages waren verebbt, die Geräusche der Nacht noch nicht erwacht, als ob die Welt für ein paar Sekunden den Atem anhielte." Wann hat man eigentlich zuletzt bei der Lektüre von Gegenwartsliteratur derart den Atem angehalten? TOBIAS DÖRING
Matthias Politycki: "Alles wird gut". Chronik eines vermeidbaren Todes. Roman.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2023. 400 S., geb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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