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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Bruno Preisendörfers erstaunliche Einblicke in eine Zeit, über die wir scheinbar alles wussten: "Als Deutschland noch nicht Deutschland war"
Als "eine Epoche, die so bald nicht wiederkehrt", charakterisierte der alte Goethe seine eigene Zeit, vom "Ende der Kunstperiode" sprach Heinrich Heine. Selten dürfte Zeitgenossen die Epochalität nicht eines einzelnen Ereignisses, sondern einer ganzen Zeitspanne so bewusst gewesen sein wie am Ende der "Goethezeit", auch wenn der Begriff selbst erst sehr viel später seine gültige Ausprägung erfahren hat. Er steht noch immer für eine einzigartige Blüte deutscher Literatur, für Spätaufklärung, Sturm und Drang, Klassik und Romantik, die mehr neben- als nacheinander mit einer Phalanx bedeutender Dichter und Werke aufwartet. Kann man dieser Zeit wirklich noch eine neue Perspektive abgewinnen?
Preisendörfer versucht es, indem er den Leser auf eine imaginäre Zeitreise gut zweihundert Jahre zurück einlädt. Harmlos geht es dabei nicht zu, wie er gleich zu Beginn hervorhebt: Goethezeit ist Chaoszeit, nicht beschauliche Ruhe und Ordnung. Auch wenn Bruno Preisendörfer meint, dass man hier seinesgleichen begegnen könnte, überwiegen bei der Lektüre die Alteritätserfahrungen. Nein, die Goethezeit war denn doch eine völlig andere und ist durch eine untrennbare Kluft namens Moderne und technischer Fortschritt von der unseren geschieden.
Bruno Preisendörfer, 1957 in Kleinostheim geboren, der als Autor sowohl Sachbücher wie auch Romane schreibt, betreibt in "Als Deutschland noch nicht Deutschland war" weder klassische Sozialgeschichte noch eine sozialgeschichtlich fundierte Literaturgeschichtsschreibung. Stattdessen lässt er durch eine Vielzahl von Zitaten aus literarischen Texten, aber auch aus Briefen und Sachbüchern der Zeit weite Bereiche des Lebenskosmos um 1800 lebendig werden. Von den Beschwernissen der Reisen erfährt man, vom Leben auf dem Land oder in der Stadt, von Alltagshandlungen, Kleidern oder der Rolle des Todes. Die stete Anschaulichkeit der Quellen und die oft originelle Auswahl oder Perspektivierung schaffen immer wieder überraschende Einblicke in eine Zeit, über die man scheinbar alles weiß.
Dichter aus der zweiten Reihe laufen hierbei zur Hochform auf. Mit wie viel Gewinn wird etwa ein ums andere Mal aus dem rührenden Briefwechsel zwischen Heinrich Christian Boie, dem Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs, und seiner späteren Frau Luise Mejer zitiert, vom Einrichten eines gemeinsamen Haushaltes über das Essen und Trinken bis hin zum Umgang mit Wunderheilern. Unter dem Stichwort Geburt folgt dann aber, nach einem schauderhaften Bericht über einen geglückten Kaiserschnitt, der sich wie ein Schlachtbericht liest, die briefliche Mitteilung Boies über den Tod seiner Frau samt ihres Kindes - er selbst blieb nur Ohrenzeuge, hineingelassen hat ihn der Arzt nicht.
Ein Schwerpunkt der Dokumente liegt bei den Spätaufklärern, bei Moritz, Knigge oder Seume etwa, während die Romantiker etwas schwach vertreten sind - so erdenfern waren ihre Texte und Briefe aber gar nicht. Bekannte Zitate vermisst man, so bei den Ausführungen zu Universitäten und den Studenten einen Hinweis zum Atheismusstreit um Fichte oder so beim Stichwort Kaffee etwa Goethes beckmesserische Kritik am Kaffeekonsum von Charlotte von Stein. Im Sinne der Originalität von Preisendörfers Zugriff kommt dies aber eher einem Lob gleich, denn wie viel neues oder neu gewichtetes Material bekommt man stattdessen vorgeführt. Der akribische Anhang belegt hier auch den Segen der Digitalisierung alter Konvolute - vor einigen Jahren hätte ein solches Werk noch viele Monate in Handschriftenlesesälen mit sich gebracht.
Geerdet wird die Goethezeit allemal. Über mangelnde Hygiene oder die laienhaften Medizinkenntnisse um 1800 wurde inzwischen ja viel geschrieben, frappierend ist dann aber doch, wie oft Bruno Preisendörfer auf geradezu zynische Widersprüche eines scheinbar aufgeklärten Zeitalters stößt, und das weit bis in die Zeit nach 1800 hinein, vom Umgang mit Dienstboten über Körper- und Todesstrafen bis hin zur "Therapie" von Geisteskranken. Allen Ernstes berichtet der Pädagoge Peter Villaume in seinem "Lesebuch für Bürgerschulen" aus dem Jahr 1801 etwa affirmativ von Schulen, in denen die Kinder nicht müßig sitzen, sondern während des Unterrichts arbeiten: "Die Kinder alle spinnen, stricken, flechten Körbe, machen allerlei Arbeit in Draht, in Holz, in Stroh und Schilf; auch nähen die Mädchen." Am Ende reist der Leser mit Preisendörfer dankbar und beglückt zurück in die Gegenwart und hält es zumindest unter nichtliterarischen Gesichtspunkten für verschmerzbar, dass diese Epoche so bald nicht wiederkehrt.
THOMAS MEISSNER
Bruno Preisendörfer: "Als Deutschland noch nicht Deutschland war". Reise in die Goethezeit.
Verlag Galiani Berlin, Köln 2015. 518 S., geb., 24,99 [Euro].
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