Ein vergessenes Meisterwerk, das es zu entdecken gilt, ein einmaliges Zeitzeugnis: »Als die Zeit stillstand«, das bewegende Tagebuch des großen Schriftstellers und Journalisten Léon Werth aus dem besetzten Frankreich zur Zeit des Vichy-Regimes der Jahre 1940 bis 1944. Im Sommer 1940 besetzen die Deutschen Paris. Der französische Publizist und Kritiker Léon Werth, jüdischer Herkunft, Pazifist und Antikolonialist, flieht und versteckt sich in einem Dorf im Jura. Flüchtlinge und Dorfbewohner leben hier zusammen, begierig auf Nachrichten, abgekapselt und doch ganz nah am Geschehen. Frankreich ist im Innersten gespalten, Republik und Demokratie sind bedroht, Nationalisten begrüßen den deutschen Sieg. Léon Werth schildert diesen Kosmos in seinem einzigartigen Tagebuch. Eine Welt zwischen Angst und Hoffnung, in der die Menschen ihren Weg suchen, sich aufgeben, kollaborieren oder an einer Zivilisation festhalten, die zutiefst bedroht ist. Werths zeitlose Einsichten in menschliches Denken und Handeln in einer verstörenden Zeit sind ein Meisterwerk der Literatur und ein visionäres Vermächtnis. Mit einem Vorwort von Georges-Arthur Goldschmidt, der herausstreicht, wie aktuell Léon Werths Gedanken immer noch sind: Denn wie damals stellt sich auch heute wieder die Frage, wie man sich als Mensch in einem Land verhalten kann, in dem Freiheit und Demokratie gefährdet sind. »Ein bewundernswertes historisches Dokument. Ich kenne keines, das wertvoller wäre.« Lucien Febvre
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Ihre Demütigung ist meine Demütigung
Beobachtungen eines Unbestechlichen: Léon Werths Tagebuch aus dem Alltag unter deutscher Besatzung zeigt, wie Frankreich in schwerer Zeit lebte.
Von Helmut Mayer
Am 13. Juni 1940 erreichen deutsche Soldaten Paris. Erst einen Tag zuvor war die Metropole zur freien, also kampflos dem Gegner überlassenen Stadt erklärt worden. Viel zu spät, um der Massenflucht aus der Hauptstadt zuvorzukommen. Unter den Flüchtenden, die auf den verstopften Straßen bald kaum mehr weiterkommen, ist auch der Schriftsteller und Kunstkritiker Léon Werth, damals bereits über sechzig Jahre alt, mit seiner Frau Suzanne. Über einen Monat wird das Ehepaar brauchen, um sein Landhaus im französischen Jura zu erreichen.
Dort angekommen, schreibt Léon Werth zuerst nieder, was ihm während dieser Tage des "Exodus" begegnete. Ein Bericht, dessen deutsche Übersetzung 1996 zum ersten Mal auf Deutsch erschien und voriges Jahr, ergänzt um ein in der Zwischenzeit aufgetauchtes Vorwort, das Werths enger Freund Antoine de Saint-Exupéry für eine ins Auge gefasste amerikanische Ausgabe verfasst hatte, neu aufgelegt wurde (F.A.Z. vom 5. Juli 2016).
Aber dieser Bericht der "33 Tage" ist nur der schmale Auftakt für ein weit größeres Unterfangen. Denn Léon Werth schrieb weiter, während dreieinhalb Jahren im Jura - im Landhaus bei Saint-Amour und im nicht weit entfernten Bourg-en-Bresse, der Hauptstadt des Departements -, bevor er Anfang 1944, als die Niederlage Hitlerdeutschlands sich bereits abzeichnet, nach Paris zurückkehrte. Von Ende Juli 1940 bis zum 26. August 1944, als Charles de Gaulle im befreiten Paris die Champs-Elysées hinabschreitet, reichen schließlich seine Aufzeichnungen.
Als sie 1946 unter dem Titel "Déposition" - also in etwa "Zeugenaussage" - erschienen, blieben sie weitgehend unbeachtet. Man war wenig geneigt, sich mit Zeugnissen zu beschäftigen, die den Rückblick auf das Vichy-Frankreich weder mit leicht erkennbaren politischen Aussichten verknüpften noch der von de Gaulle abgesegneten nationalen Erzählung vom wahren, im Kern widerständigen Frankreich zuarbeiteten. Tatsächlich brauchte es dann mehr als vier Jahrzehnte, bis eine neue französische Ausgabe der Aufzeichnungen erschien, Anstoß auch für Neuauflagen einiger anderer Bücher des wiederentdeckten Autors Léon Werth.
Und nun liegt tatsächlich eine deutsche Ausgabe dieser in mancher Hinsicht unter den Zeugnissen der "dunklen Jahre" hervorstechenden Betrachtungen vor. Für die Publikation waren sie wohl von Anfang an bestimmt, doch glaubt man diesem Autor, dass er die vielen hundert Seiten für die Drucklegung nicht überarbeitete, sondern so abgab, wie sie Woche für Woche entstanden waren.
Der Intellektuelle Werth, der die Bezeichung "Intellektueller" verabscheute - und nicht ohne Stolz vermerkte, wie ein Bauer der Bresse reden zu können -, stand links, ohne allerdings in Gefahr zu kommen, sich in Parteidoktrinen samt Anhimmelung Stalins zu verheddern. Die "nationale Revolution" unter Marschall Pétain war ihm von Anfang an Gegenstand des Spotts, eine Annäherung an Kollaborations-Kreise, welchen Grades auch immer, kam für ihn nicht in Frage, und de Gaulles Mission verfolgte er mit Bewunderung, doch ohne darüber mit Blick auf das Nachkriegsfrankreich zum Gaullisten zu werden.
Aber das sind nur die groben und abstrakten politischen Koordinaten. Der Reiz von Werths Schilderungen und Betrachtungen ist gerade, abstrakte Zuordnungen hinter sich zu lassen und erst einmal zu beschreiben: was Werth sieht und hört, was die Leute - ob nun die Bauern der umliegenden Gehöfte, Händler, Groß- und Kleinbürger - ihm erzählen, wie "man" sich die neuesten Nachrichten und kursierenden Gerüchte zurechtlegt, was im Radio ("Feindsender" eingeschlossen) berichtet wird und was in den Zeitungen zu lesen steht.
Es schreibt da ein im Beobachten geschulter Autor. Und ein Autor, der sich selbst sehr genau in den Blick nimmt und sein Schreibpensum in der ungewohnten, oft lastenden Einsamkeit als Selbstbefragung versteht: Welches Frankreich ist es nun, das er verteidigen möchte? An welchen Traditionen und Üblichkeiten hängt sein von der katastrophalen Niederlage getroffener Patriotismus? Und glaubt er wirklich (noch) an ein "Volk", das sich mit ihm verknüpfen lässt? Der direkte Weg zu großen Gesten wäre da leicht zu finden. Aber ihn schlägt Werth durchaus nicht ein. Keine Spur davon, Vichys "Abituraufsatzplattitüden" und "Pastoralidyllen" rund um "Vaterland, Arbeit, Familie", emphatische Beschwörungen der Republik oder Nation entgegenzuhalten, deren Kolonialgeschichte in Indochina er aus eigener Anschauung kennt.
Bescheidener und gleichzeitig näher am Alltag setzt er an: "Mir liegt an der Zivilisation, an Frankreich. Ich habe nichts anderes, um mich anzuziehen. Ich kann nicht nackt ausgehen." Und wenn er doch in die Geschichte zurückgeht, klingt das einmal so: "Um dieses Frankreich zu schaffen, an dem ich so hänge, mussten an den bretonischen Landstraßen jene Gehenkten baumeln, von denen Madame de Sevigné schrieb." Um gleich darauf seinen historischen Ausflug ironisch zu kommentieren: "Endlich ein wenig Weisheit, ein wenig Dahingleiten. Über die Gipfel, über die Zeiten."
Doch um die Niederungen des Alltags geht es, der zäh gemachten Geschichte, in der die Arbeit der Bauern und das Leben in einem Provinzstädtchen überlagert werden von den Nachrichten in den Blättern, die Werth zitiert, kommentiert, mit einer knappen Sentenz aufspießt. Was sich da herausbildet aus einer unübersichtlichen politisch-gesellschaftlichen Gemengelage, das ist lange Zeit nicht klar, könnte vielleicht auf eine Form "komfortabler Bestialität" unter deutscher Oberherrschaft hinauslaufen. Wofür ihm jene, die explizit auf die deutsche Karte setzen, mit oder ohne Vichy, der Beleg sind, insbesondere die "Bourgeoises", die einem Europa unter Hitler noch den Vorzug geben vor der "bolschewistischen" Gefahr von links. Das waren freilich nicht nur "bourgeoise" Franzosen.
Und immer wieder scharf umrissene Evokationen der Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten, von Tieren auch. Gleich darauf kann eine Collage von im Städtchen Gehörten folgen; oder eine Passage aus Stendhal, den er wie andere Autoren, die er aus der Klassikerbibliothek zieht, zwanglos auf die Gegenwart anwendet; oder deutliche Worte von katholischen Zeitgenossen wie Maritain und Mauriac, die dem religiös Unbewegten Achtung abnötigen (Bernanos ohnehin); oder Gespräche mit dem Annales-Historiker Lucien Febvre, Nachbar Werths in Saint-Amour; oder eine Reflexion darüber, warum aus den Kategorien der Rechten und der Linken in Frankreich einfach nicht auszubrechen ist.
Gelegentlich stößt man auf eine der "Grübeleien", wie er sie selbst nennt. Etwa darüber, was es denn mit Gefühlen gegenüber den berichteten Hinrichtungen von Geiseln und den (spärlich) berichteten Untaten im Warschauer Getto auf sich habe. Empörung, schreibt er, sei doch beinahe noch ein Pharisäergefühl, das es erlaube, sich von aller Mitschuld reinzuwaschen: Ihm sei nur der lieb, der angesichts von Verbrechen "ein Gefühl der Scham, ein Gefühl der Schuld empfindet. Es genügt ihm nicht, dass das Verbrechen bestraft wird. Er muss sich von seiner Scham befreien. Und das führt dazu, dass er die Welt verändern will, in der das Verbrechen möglich ist."
Von dieser Passage aus dem Mai 1943 lässt sich ein Bogen zu den letzten Seiten schlagen, geschrieben im gerade befreiten Paris. Werth ist überwältigt, aber berauscht ist er nicht. Er sieht die Kolonnen der gefangenen Deutschen, "diese Karyatiden in verblichenen Uniformen, in der Haltung Verdammter". Die Demütigung dieser Männer sei "notwendig, ja sie entspricht der Gerechtigkeit. Ich billige sie, sie befriedigt mich, sie erleichtert mich, aber ich kann mich nicht darüber freuen."
Ob er denn vergessen habe, was diese Männer taten, hätten ihn alle gefragt, denen er dieses Gefühl gestand. Nein, er vergesse nichts, aber "wenn ein Mensch gedemütigt wird, ist seine Demütigung in mir". Und im ganz knappen letzten Eintrag vom 26. August 1944 steht dann eine Beobachtung der begonnenen "Säuberungen" und Racheaktionen: "Die kahlen Schädel dieser Frauen (...). Eine von ihnen hatte das fahle Gesicht und die geweiteten Augen, die ich bei einem zum Tode Verurteilten gesehen habe, der zum Schafott geführt wurde." Dann erst geht Charles de Gaulle, während sich die Rufe aus der Menge zu einer einzigen Woge vereinen, die Champs-Elysées hinab.
Léon Werth: "Als die Zeit stillstand". Tagebuch 1940-1944.
Vorwort Georges-Arthur Goldschmidt. Aus dem Französischen von B. Heber-Schärer und T. Scheffel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017. 944 S., geb., 36,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beobachtungen eines Unbestechlichen: Léon Werths Tagebuch aus dem Alltag unter deutscher Besatzung zeigt, wie Frankreich in schwerer Zeit lebte.
Von Helmut Mayer
Am 13. Juni 1940 erreichen deutsche Soldaten Paris. Erst einen Tag zuvor war die Metropole zur freien, also kampflos dem Gegner überlassenen Stadt erklärt worden. Viel zu spät, um der Massenflucht aus der Hauptstadt zuvorzukommen. Unter den Flüchtenden, die auf den verstopften Straßen bald kaum mehr weiterkommen, ist auch der Schriftsteller und Kunstkritiker Léon Werth, damals bereits über sechzig Jahre alt, mit seiner Frau Suzanne. Über einen Monat wird das Ehepaar brauchen, um sein Landhaus im französischen Jura zu erreichen.
Dort angekommen, schreibt Léon Werth zuerst nieder, was ihm während dieser Tage des "Exodus" begegnete. Ein Bericht, dessen deutsche Übersetzung 1996 zum ersten Mal auf Deutsch erschien und voriges Jahr, ergänzt um ein in der Zwischenzeit aufgetauchtes Vorwort, das Werths enger Freund Antoine de Saint-Exupéry für eine ins Auge gefasste amerikanische Ausgabe verfasst hatte, neu aufgelegt wurde (F.A.Z. vom 5. Juli 2016).
Aber dieser Bericht der "33 Tage" ist nur der schmale Auftakt für ein weit größeres Unterfangen. Denn Léon Werth schrieb weiter, während dreieinhalb Jahren im Jura - im Landhaus bei Saint-Amour und im nicht weit entfernten Bourg-en-Bresse, der Hauptstadt des Departements -, bevor er Anfang 1944, als die Niederlage Hitlerdeutschlands sich bereits abzeichnet, nach Paris zurückkehrte. Von Ende Juli 1940 bis zum 26. August 1944, als Charles de Gaulle im befreiten Paris die Champs-Elysées hinabschreitet, reichen schließlich seine Aufzeichnungen.
Als sie 1946 unter dem Titel "Déposition" - also in etwa "Zeugenaussage" - erschienen, blieben sie weitgehend unbeachtet. Man war wenig geneigt, sich mit Zeugnissen zu beschäftigen, die den Rückblick auf das Vichy-Frankreich weder mit leicht erkennbaren politischen Aussichten verknüpften noch der von de Gaulle abgesegneten nationalen Erzählung vom wahren, im Kern widerständigen Frankreich zuarbeiteten. Tatsächlich brauchte es dann mehr als vier Jahrzehnte, bis eine neue französische Ausgabe der Aufzeichnungen erschien, Anstoß auch für Neuauflagen einiger anderer Bücher des wiederentdeckten Autors Léon Werth.
Und nun liegt tatsächlich eine deutsche Ausgabe dieser in mancher Hinsicht unter den Zeugnissen der "dunklen Jahre" hervorstechenden Betrachtungen vor. Für die Publikation waren sie wohl von Anfang an bestimmt, doch glaubt man diesem Autor, dass er die vielen hundert Seiten für die Drucklegung nicht überarbeitete, sondern so abgab, wie sie Woche für Woche entstanden waren.
Der Intellektuelle Werth, der die Bezeichung "Intellektueller" verabscheute - und nicht ohne Stolz vermerkte, wie ein Bauer der Bresse reden zu können -, stand links, ohne allerdings in Gefahr zu kommen, sich in Parteidoktrinen samt Anhimmelung Stalins zu verheddern. Die "nationale Revolution" unter Marschall Pétain war ihm von Anfang an Gegenstand des Spotts, eine Annäherung an Kollaborations-Kreise, welchen Grades auch immer, kam für ihn nicht in Frage, und de Gaulles Mission verfolgte er mit Bewunderung, doch ohne darüber mit Blick auf das Nachkriegsfrankreich zum Gaullisten zu werden.
Aber das sind nur die groben und abstrakten politischen Koordinaten. Der Reiz von Werths Schilderungen und Betrachtungen ist gerade, abstrakte Zuordnungen hinter sich zu lassen und erst einmal zu beschreiben: was Werth sieht und hört, was die Leute - ob nun die Bauern der umliegenden Gehöfte, Händler, Groß- und Kleinbürger - ihm erzählen, wie "man" sich die neuesten Nachrichten und kursierenden Gerüchte zurechtlegt, was im Radio ("Feindsender" eingeschlossen) berichtet wird und was in den Zeitungen zu lesen steht.
Es schreibt da ein im Beobachten geschulter Autor. Und ein Autor, der sich selbst sehr genau in den Blick nimmt und sein Schreibpensum in der ungewohnten, oft lastenden Einsamkeit als Selbstbefragung versteht: Welches Frankreich ist es nun, das er verteidigen möchte? An welchen Traditionen und Üblichkeiten hängt sein von der katastrophalen Niederlage getroffener Patriotismus? Und glaubt er wirklich (noch) an ein "Volk", das sich mit ihm verknüpfen lässt? Der direkte Weg zu großen Gesten wäre da leicht zu finden. Aber ihn schlägt Werth durchaus nicht ein. Keine Spur davon, Vichys "Abituraufsatzplattitüden" und "Pastoralidyllen" rund um "Vaterland, Arbeit, Familie", emphatische Beschwörungen der Republik oder Nation entgegenzuhalten, deren Kolonialgeschichte in Indochina er aus eigener Anschauung kennt.
Bescheidener und gleichzeitig näher am Alltag setzt er an: "Mir liegt an der Zivilisation, an Frankreich. Ich habe nichts anderes, um mich anzuziehen. Ich kann nicht nackt ausgehen." Und wenn er doch in die Geschichte zurückgeht, klingt das einmal so: "Um dieses Frankreich zu schaffen, an dem ich so hänge, mussten an den bretonischen Landstraßen jene Gehenkten baumeln, von denen Madame de Sevigné schrieb." Um gleich darauf seinen historischen Ausflug ironisch zu kommentieren: "Endlich ein wenig Weisheit, ein wenig Dahingleiten. Über die Gipfel, über die Zeiten."
Doch um die Niederungen des Alltags geht es, der zäh gemachten Geschichte, in der die Arbeit der Bauern und das Leben in einem Provinzstädtchen überlagert werden von den Nachrichten in den Blättern, die Werth zitiert, kommentiert, mit einer knappen Sentenz aufspießt. Was sich da herausbildet aus einer unübersichtlichen politisch-gesellschaftlichen Gemengelage, das ist lange Zeit nicht klar, könnte vielleicht auf eine Form "komfortabler Bestialität" unter deutscher Oberherrschaft hinauslaufen. Wofür ihm jene, die explizit auf die deutsche Karte setzen, mit oder ohne Vichy, der Beleg sind, insbesondere die "Bourgeoises", die einem Europa unter Hitler noch den Vorzug geben vor der "bolschewistischen" Gefahr von links. Das waren freilich nicht nur "bourgeoise" Franzosen.
Und immer wieder scharf umrissene Evokationen der Landschaft im Wechsel der Jahreszeiten, von Tieren auch. Gleich darauf kann eine Collage von im Städtchen Gehörten folgen; oder eine Passage aus Stendhal, den er wie andere Autoren, die er aus der Klassikerbibliothek zieht, zwanglos auf die Gegenwart anwendet; oder deutliche Worte von katholischen Zeitgenossen wie Maritain und Mauriac, die dem religiös Unbewegten Achtung abnötigen (Bernanos ohnehin); oder Gespräche mit dem Annales-Historiker Lucien Febvre, Nachbar Werths in Saint-Amour; oder eine Reflexion darüber, warum aus den Kategorien der Rechten und der Linken in Frankreich einfach nicht auszubrechen ist.
Gelegentlich stößt man auf eine der "Grübeleien", wie er sie selbst nennt. Etwa darüber, was es denn mit Gefühlen gegenüber den berichteten Hinrichtungen von Geiseln und den (spärlich) berichteten Untaten im Warschauer Getto auf sich habe. Empörung, schreibt er, sei doch beinahe noch ein Pharisäergefühl, das es erlaube, sich von aller Mitschuld reinzuwaschen: Ihm sei nur der lieb, der angesichts von Verbrechen "ein Gefühl der Scham, ein Gefühl der Schuld empfindet. Es genügt ihm nicht, dass das Verbrechen bestraft wird. Er muss sich von seiner Scham befreien. Und das führt dazu, dass er die Welt verändern will, in der das Verbrechen möglich ist."
Von dieser Passage aus dem Mai 1943 lässt sich ein Bogen zu den letzten Seiten schlagen, geschrieben im gerade befreiten Paris. Werth ist überwältigt, aber berauscht ist er nicht. Er sieht die Kolonnen der gefangenen Deutschen, "diese Karyatiden in verblichenen Uniformen, in der Haltung Verdammter". Die Demütigung dieser Männer sei "notwendig, ja sie entspricht der Gerechtigkeit. Ich billige sie, sie befriedigt mich, sie erleichtert mich, aber ich kann mich nicht darüber freuen."
Ob er denn vergessen habe, was diese Männer taten, hätten ihn alle gefragt, denen er dieses Gefühl gestand. Nein, er vergesse nichts, aber "wenn ein Mensch gedemütigt wird, ist seine Demütigung in mir". Und im ganz knappen letzten Eintrag vom 26. August 1944 steht dann eine Beobachtung der begonnenen "Säuberungen" und Racheaktionen: "Die kahlen Schädel dieser Frauen (...). Eine von ihnen hatte das fahle Gesicht und die geweiteten Augen, die ich bei einem zum Tode Verurteilten gesehen habe, der zum Schafott geführt wurde." Dann erst geht Charles de Gaulle, während sich die Rufe aus der Menge zu einer einzigen Woge vereinen, die Champs-Elysées hinab.
Léon Werth: "Als die Zeit stillstand". Tagebuch 1940-1944.
Vorwort Georges-Arthur Goldschmidt. Aus dem Französischen von B. Heber-Schärer und T. Scheffel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017. 944 S., geb., 36,- [Euro].
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Was für ein faszinierendes Buch! Das Tagebuch von Léon Werth [...] gehört zu den großartigen Entdeckungen in diesem Bücherherbst. Wolf Scheller Saarbrücker Zeitung 20171212