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Marie Malcovati erzählt von drei Frauen
Der Titel des zweiten Romans von Marie Malcovati (Jahrgang 1982, in Freiburg aufgewachsen) ist schräg, die Figuren sind es ebenfalls. Drei Frauen stehen im Mittelpunkt: Iona, Tine, Karolin - alle drei treffen sich in einem Dorf im Schwarzwald, sie kennen einander nicht, aber es gibt einen gemeinsamen Bezugspunkt, den Finnen Tahvo, der dort ein verwunschenes Haus bezogen hat. Wie die drei Frauen zueinander und zu diesem Mann stehen, das schält sich erst langsam und windungsreich im Verlauf des Romans heraus. Alle sind sich fremd und doch auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft. Ihr Leben spielt sich zwischen Wildnis und Zivilisation ab. Alle haben ihr bürgerliches Leben abgelegt und leben nach eigener Façon, chacune à son goût.
Als Erste tritt Iona auf den Plan, sie gelangt an ein einsames Haus: "Drinnen brannte kein Licht. Der Regen kroch an ihren Beinen hoch, ihre Hose war bis zu den Kniekehlen vollgesogen, die Schuhe durchlöchert von der langen Reise, von den vielen Abschnitten zu Fuß. Sie zitterte vor Kälte und trotzdem zögerte sie noch." Iona ist hochschwanger, von London aus hat sie sich auf den Weg gemacht, den Erzeuger des Kindes hat sie verlassen, sie will ihren Vater finden, um von ihm Geld zu borgen, und dann weiterziehen, wohin auch immer. Den Vater kennt sie nur aus Erzählungen der Mutter; warum sie ihn gerade im Dorf Luchsberg, wo sich ihr leiblicher Vater tatsächlich in einem Haus verkrochen hat, sucht, bleibt ein Rätsel.
Es gibt keine geradlinigen Lebensläufe. Der gesuchte Vater ist längst ausgeflogen, keiner weiß wohin, das Haus ist unwirtlich und verkommen. Dies ist auch das Lebensmuster aller drei Frauen, sie ziehen wie Nomadinnen durch die Welt, sich selbst und dem Leben abhandengekommen. Dem Vogel baut keiner ein Nest, aber auch diese Frauen irren heimatlos umher, sie können sich nicht selbst einen heimatlichen Ort bauen.
Im Dunkel bleibt Tahvo. Er ist wie ein Gespenst, das im Leben aller drei Frauen ruhelos eine Rolle gespielt hat, er ist gekommen und gegangen. Er ist der Vater von Iona in Finnland, von deren Existenz er aber nichts weiß; er war der Geliebte von Karolin in Berlin, mit der er ein Kind zeugt, das mit vier Jahren tödlich verunglückt; in Luchsberg, wohin sich Karolin als Erbin einer Gastwirtschaft zurückgezogen hat, liegt der gemeinsame Sohn Jonathan begraben; ob Tahvo deswegen das Schwarzwalddorf aufsucht, bleibt ungewiss. Dort lernt er Tine kennen aus dem Haus gegenüber, es kommt zu einer Beziehung.
Jede der Frauen trägt ein eigenwilliges Bündel Schicksal; ihr Dreh- und Angelpunkt, Tahvo, ist und bleibt verschwunden, ist geflüchtet, vor wem oder was auch immer. Marie Malcovati zeichnet eine zerborstene Welt, keiner findet Halt oder Trost. Dabei verzichtet die Autorin auf jede Psychologisierung, es ist, wie es ist. Desto mehr fragt man sich, warum sich die drei Frauen auf den Weg machen, um Tahvo in Lappland aufzuspüren. Sie nehmen eine lange, beschwerliche Reise gen Norden auf sich, noch dazu mit der Hochschwangeren, die nie klagt. Was die Frauen verbindet, bleibt im Dunklen, sie sind sich nicht besonders sympathisch, sie erzählen sich nichts aus ihrem Leben, und warum Tahvo der leuchtende Stern an ihrem Himmel ist, auch dies weiß nur der liebe Gott. Ihr Ziel: "Wir suchen Tahvo wie drei orientierungslose Erinnyen." Warum Erinnyen? "Weil wir alle ein Huhn mit ihm zu rupfen haben. Oder vielleicht auch: drei verschiedene Hühner."
Erstaunlich und verwunderlich ist, dass sie ans Ziel kommen, in einer verschneiten Ferienkolonie für Aussteiger, die Tahvo einst mitaufgebaut hat. Vom Meister finden sie nichts, nur Teile seiner Kleidung im Schnee, er wollte in der ewigen Kälte sterben, ganz für sich alleine. In einer Sauna wird Ionas Sohn geboren, aber auch dieses Ereignis ist kein Lichtblick. Will Tine das Kind übernehmen? Die Autorin lässt alle Fragen offen, wie das Leben weitergehen soll.
Manchmal mutet der Roman wie ein Märchen an, dann wieder glaubt man sich in einem Gruselkabinett. Dennoch ist der Erzählton ganz realistisch, nüchtern. In einer klaren, unaufgeregten Sprache passiert eine Absonderlichkeit nach der anderen. Darin besteht das Raffinement des Romans. LERKE VON SAALFELD Marie Malcovati: "Als hätte jemals ein Vogel verlangt, dass man ihm ein Haus baut". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2022.
219 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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