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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Gerd Krumeich sieht im Kampf gegen das Trauma des Ersten Weltkriegs den entscheidenden Mobilisierungsfaktor für Hitlers Erfolg
Eine Provokation: Nicht weniger will das Buch von Gerd Krumeich sein. Und der Titel, "Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann", lässt ahnen, wie sie gemeint ist. Krumeich gehört zu den besten Kennern der Geschichte des Ersten Weltkrieges, ein selten produktiver und anregender Historiker, der sich ein Forscherleben lang mit der "Urkatastrophe" des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigt hat. Sein neues Buch bündelt manche dieser Erkenntnisse und spitzt sie in ungewohnter Weise zu. Die These: "Ohne das Versprechen, die Niederlage von 1918, den 'schandhaften' Friedensvertrag von Versailles zu tilgen, Deutschland wieder zu alter und neuer Größe zu führen, die zwei Millionen Gefallenen des Krieges zu ehren und ihrem Tod für das Vaterland einen neuen Sinn zu verleihen, hätte Hitler niemals die Unterstützung gefunden, die dazu führte, dass er 1933 die Macht übertragen bekam."
Man könnte nun sagen, dass diese Sichtweise weder sehr radikal noch sehr neu ist, hat die Forschung doch immer betont, dass der verlorene Krieg das monarchistische, nationalkonservative und rechtsextreme Milieu Weimars zusammenband. Aber Krumeich geht einen Schritt weiter. Er sieht im Kampf gegen das Trauma des Ersten Weltkrieges den unterschätzten Mobilisierungsfaktor des Nationalsozialismus, das propagandistische Schmiermittel der völkischen Bewegung und ihren erinnerungspolitischen Bezugspunkt. Krumeich will nicht nur die Belastung zeigen, die "Versailles" für die Weimarer Republik bedeutete, sondern auch deutlich machen, wie wirkungsmächtig die beständige Propaganda des "Schandfriedens" für die Zerstörung der ersten deutschen Demokratie und schließlich für den Erfolg des Nationalsozialismus nach 1933 war.
Das Buch geht also nicht nur den zeitgenössischen Debatten über die Bedeutung von "Versailles" für die innenpolitischen Konflikte der frühen Weimarer Republik und die Konstruktion unterschiedlicher "Dolchstoßlegenden" nach. Es versucht zugleich auch knapp die Frage zu klären, welche Sogwirkung von der neuen, kriegsspezifischen Gemeinschaftsrhetorik ausging, die man im Begriff der "Frontkameradschaft" ebenso fand wie in der - deutlich älteren - Idee der "Volksgemeinschaft".
Krumeich nimmt sich viel Raum, um Hitlers Reden seit Mitte der Zwanzigerjahre daraufhin zu befragen, welche Rolle hier das "Kriegserlebnis" spielte - und es wundert nicht wirklich, wie häufig sich Passagen über "Frontgeist" und "Kriegsschuld" finden lassen. Hilfreich wäre es indes gewesen, wenn er zudem auch untersucht hätte, wie sich die Bedeutung der Anti-Versailles-Rhetorik veränderte, wie sie sich von der gemäßigten Rechten unterschied und wie sie sich zu anderen zentralen Themen der radikalen Rechten und ihrer Demokratiekritik verhielt. Dann wäre noch deutlicher geworden, wie eng verknüpft die Rede von Krieg, Gewalt und Verrat mit der nationalsozialistischen Kritik am Parlamentarismus war. Krumeichs Perspektive lässt so das Scheitern der Weimarer Republik und den Erfolg des Nationalsozialismus ganz als Folge der "Erblast" des Ersten Weltkrieges erscheinen und verengt den Blick damit doch sehr.
Das ist auch deshalb schade, weil sich manch wichtige und weiterführende Beobachtungen in seiner Darstellung finden, nicht nur in seiner Analyse der Hitler-Reden, sondern auch bei seinem Versuch, den soldatischen Kriegserzählungen im Übergang zum Nationalsozialismus nachzugehen oder die unterschiedlichen Formen des Totengedenkens vor und nach 1933 zu rekonstruieren. Für gegenläufige Tendenzen zu seiner Lesart nimmt sich Krumeich indes deutlich zu wenig Raum. Ein Beispiel: In seinem Kapitel über "Die Nazis als Sachwalter der Ehre des Frontsoldaten" untersucht er, gestützt auf neuere Arbeiten, die Rolle der SA als "Fortsetzung des Frontgeistes" und sieht im Nationalsozialismus einen "Anwalt der Kriegsbeschädigten". Tatsächlich spielten die Kriegsversehrten für die nationalsozialistische Propaganda nach 1933 eine zentrale Rolle. Selbstverständlich war das nicht, denn die Körpergeschädigten des Ersten Weltkrieges entsprachen keineswegs den Anforderungen der öffentlich zur Schau gestellten nationalsozialistischen Leistungspolitik. Zudem war es keineswegs so, dass sich die Weimarer Republik mit ihrer deutlich modernisierten Sozialpolitik um diese Großgruppe der Versehrten nicht gekümmert hatte.
Aber die nationalsozialistische Propaganda lief nach der "Machtergreifung" zur großen Form auf, um mit ihnen und durch sie an das "Schicksal" der Weltkriegssoldaten und die Folgen des Ersten Weltkrieges zu erinnern - und damit an die vielfach beschworene "Opferlast" und "Ehre" des Soldaten. Die symbolische Erhöhung, und davon ist bei Krumeich deutlich weniger zu lesen, war aber keineswegs an eine umfassendere materielle Besserstellung gekoppelt, und jüdische Kriegsversehrte und psychisch kranke Veteranen wurden systematisch ausgegrenzt.
Gegenüber solchen inneren Widersprüchen nationalsozialistischer Politik und Propaganda ist das Buch erstaunlich wenig offen, was womöglich damit zu tun hat, dass sich Krumeich in seiner Analyse viel zu sehr auf die strikte Trennung zwischen "den Nazis" und "den Deutschen" stützt. Er kleidet dies in eine - wohl rhetorische - Frage: "Hat es nicht zumindest in der Zeit von 1933 bis 1938/39 in gewisser Weise 'zwei Kulturen' des NS gegeben? Eine für die überzeugten Nazis und eine andere für die Abermillionen Mitläufer und Menschen, die eigentlich mit der Ideologie des Nationalsozialismus, mit Rasse, Blut und Boden und mit ihrem extremen Antisemitismus wenig zu schaffen hatten? Die aber glaubten, dass Hitlers Vorstellung von 'Volksgemeinschaft' so ziemlich mit dem übereinstimmte, was man selbst schon immer gedacht und gefühlt hatte."
Das liest sich dann schon deutlich weniger innovativ. Denn viel zu lange hat nach 1945 die Deutung dominiert, Nationalsozialisten seien vor allem die Schläger der SA und die enge Führungsclique um Hitler gewesen, die kaum etwas mit dem deutschen Bürgertum, den Akademikern und Angestellten zu tun gehabt hätten. Eine solche scharfe Grenzziehung zwischen "den" Nationalsozialisten und "den" Deutschen ist jedenfalls äußerst trügerisch. Es gehörte zum Wesen des Nationalsozialismus, dass die Begriffe, mit denen er die Welt deutete - Volk, Raum, Rasse, Führer und Gemeinschaft -, unterschiedlich radikale Sichtweisen und Antworten zuließen und gerade in dieser Offenheit attraktiv waren für verschiedene soziale Gruppen, bis hin zu nicht parteipolitisch gebundenen Arbeitern, die sich soziale Sicherheit und Anerkennung ihrer "deutschen Arbeit" und Leistungen versprachen.
Welche Funktion das "Kriegstrauma" für all diese Gruppen besaß, lässt das Buch weitgehend offen. Ebenso wie die Frage, was denn die Erinnerung an den "Ersten Weltkrieg" im Kontext einer Politik bedeutete, die ja keineswegs einzig auf die Revision von "Versailles" zielte, sondern auf die gewaltsame Eroberung von "Lebensraum" im Osten. So geht die weiterführende Idee, die Krumeich formuliert, in seinen Ausführungen zusehends verloren. Etwas provokativ ist das Buch, aber nicht wirklich überzeugend. DIETMAR SÜSS
Gerd Krumeich: "Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann". Die Nazis und die Deutschen 1921-1940.
Herder Verlag, Freiburg 2024.
352 S., Abb., geb., 26,- Euro.
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