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Ein Beobachter ohne Illusionen: Hermann Stresaus Tagebuch aus den Kriegsjahren.
Von Stephan Speicher
Im Mai 1942 besucht das Ehepaar Stresau eine Parteiversammlung. Sie hat dergleichen noch nie erlebt, er verspricht ihr, sie werde "in allen ihren Ansichten bestärkt aus der Sache hervorgehen", solche Treffen seien "eins der Mittel, sich frisch im inneren Widerstand zu halten". Und der Gauredner liefert, was zu erwarten war: Warum führt Deutschland diesen Krieg? "Wir wollen nämlich auch billige Bananen, billigen Kakao, billigen Kaffee (. . .) kaufen können." Doch noch bemerkenswerter als solche Dummheiten ist die schwache Resonanz, die sich beobachten lässt, "wie hierort meistens".
Hermann Stresau (1894 bis 1964), Essayist, Übersetzer, Romancier, ist heute weitgehend vergessen, am ehesten hat sich noch sein Caesar-Roman "Adler über Gallien" im literarischen Gedächtnis behauptet. Aber es war eine ausgezeichnete Idee, sein Tagebuch herauszugeben. Im Frühjahr erschien der erste Band, "Von den Nazis trennt mich eine Welt", über die Jahre 1933 bis 1939, im neuen Band geht es um die Kriegszeit. Stresau war bereits im April 1933 wegen seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus aus den Diensten der städtischen Bibliothek Spandau entlassen worden. In den folgenden zwölf Jahren sollte er keine Anstellung mehr bekommen, er schlug sich durch mit Kritiken, Übersetzungen und Buchprojekten.
Ein Parteimann war er nicht. Im ersten Band las man einen Linken, vorsichtiger: einen Gegner der bürgerlichen Eigentumsordnung, der die sozialistischen Ansprüche des Regimes meist mit höhnischem Interesse notiert. Aber vor allem las man einen unbefangenen Kopf, der mit der Verachtung des Regimes die Frage nach den Gründen seines Erfolgs verband. Wie konnten die Deutschen auf dessen Großsprechereien eingehen? Sein Versuch einer Antwort: Es habe sich nicht um Glauben gehandelt, sondern nur um Kirchlichkeit.
Die Fortführung des Tagebuches im zweiten Band ist womöglich noch ratloser. Stresau macht sich wenig Illusionen. Über die Verbrechen des Nationalsozialismus spricht er als allgemein bekannte Tatsachen, die Ermordung der Geisteskranken wie die "systematischen Judendeportationen mit dem ausgesprochenen Zweck der Vernichtung dieser Unglücklichen", und er fügt hinzu: "Ein Artikel von Goebbels im Reich stellt dies klar." Die Natur des Nationalsozialismus, insofern der mit innerer Bestimmtheit auf die Katastrophe zumarschiert, ist ihm ganz unzweifelhaft. Gerade aus der Verherrlichung des "Kämpferischen" ("ohne Kampf können sie nicht leben") geht für Stresau die Ziel- und Ideenlosigkeit des Nationalsozialismus hervor. Mit diesem Regime, zu dessen Lieblingswörtern die "Kompromisslosigkeit" gehöre, sei kein Frieden möglich, der Krieg werde dauern, solange Hitler lebe.
Wer die Dinge so ansieht, muss sich immer wieder fragen, wie sich die zeitweiligen Triumphe des Nationalsozialismus in all seiner "weltanschaulichen Hilflosigkeit" verstehen lassen. Stresau kommt dabei auf kulturgeschichtliche Überlegungen. Da ist zunächst der Bankrott der alten bürgerlichen Welt festzuhalten, die nur noch in "letzten Fassaden" gegenwärtig ist. Aber mehr noch interessiert den Autor das Ende des Christentums: "Es war nicht viel daran, das ist wahr, aber dieses ,nicht viel' hielt doch viele im Zaum." Dabei ist dem Autor klar, dass eine neue Missionierung völlig unangemessen wäre, er scheint auch selbst kein eifriger Christ gewesen zu sein. Die Deutung des Dritten Reiches als Folge der Säkularisierung ist uns heute fremd, man darf aber nicht vergessen, dass viele Zeitgenossen, auch im Ausland, sie teilten, sie hat die Diskussion nach 1945 stark geprägt.
Am interessantesten aber sind die Beobachtungen zur Stimmung. Sie scheint Stresau durchweg flau, immer wieder schreibt er, dass er kaum jemanden kenne, der den Verheißungen der Führung glaube. Das Volk kämpfe, weil ihm keine andere Wahl bleibe, heißt es im Oktober 1944. Stresau neigt dazu, die Schuld an der Katastrophe Hitler und seiner Entourage zu geben. "Wie die Leute (die Propagandisten des NS) auf den Gemütern, der Stimmung der Masse Klavier spielen, das ist in seiner Art erstaunlich." Aber er hält auch die "Wollust der Selbstausschaltung eigenen Denkens und Lebens" fest, gerade auch bei "ehrlichen und anständigen Deutschen".
Im Frühjahr 1940, als die Wehrmacht "ein Land nach dem anderen einstreicht", fällt ihm in der örtlichen Zeitung, dem Göttinger Tageblatt, die "ordinäre Überheblichkeit dem Besiegten gegenüber" auf, und eine schuljungenhafte Begeisterung über Erfolge der Wehrmacht beobachtet er auch in seiner Umgebung. Aber typischer für die Stimmung scheint ihm, dass am Mittagstisch in der Pension, wo das Ehepaar täglich isst, nicht über Politik gesprochen wird, nicht einmal, wenn große Dinge auf der Tagesordnung stehen. Es ist die Angst vor Denunzianten, aber wenn zwanzig Leute beharrlich über Politik schweigen, dann seien doch wohl fünfzehn von ihnen Antinazis. Selbst im Juli 1942, als eine Reihe militärischer Erfolge gemeldet wird, "spricht kaum ein Mensch davon". Das tägliche Leben empfindet man stärker, "was da draußen vorgeht, das ist sozusagen zu umfangreich".
Stresau, gewiss ein politischer Mensch, ging es nicht anders. Am 8. Dezember 1941, "während sich im Pazifik ein Riesenkampf vorbereitet" - gerade hat Japan den Vereinigten Staaten und Großbritannien den Krieg erklärt -, trifft man sich zu einer Hamlet-Lesung. "Wie dem auch sei, im Augenblick erschien uns dies wichtiger als der totale Weltkrieg und Hamlet um ein vielfaches wirklicher." Doch ist dem Autor nicht ganz wohl dabei. Bei verwandter Gelegenheit, bei Kammermusik, hat er das Gefühl "unter wirklichen Deutschen" zu sein. Aber er nennt es "ein gewissermaßen jungfräuliches Deutschtum: es ist, als fehle die Eheerfahrung mit dem Leben, genauer gesagt: mit der Politik. Und da liegt die Schwäche dieses sonst so sympathischen Typus."
Hermann Stresau: "Als lebe man nur unter Vorbehalt". Tagebücher aus den Kriegsjahren 1939-1945.
Hrsg. von Peter Graf und Ulrich Faure. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 592 S., Abb., geb., 28,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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