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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Tamar Tandaschwilis Medea zieht gegen ein korruptes Patriarchat in den Kampf
Wie sehr ihr euch auch wundert, die Wahrheit klingt oft seltsamer als die Lüge, lautet das kriminalistische Mantra Medea Chimschiaschwilis. Wenn die resolute Ermittlerin über Höhen, Tiefen und Windungen der Verhörkunst vor dem juristischen Nachwuchs doziert, ist es mucksmäuschenstill im Hörsaal. Ihre eigene Geschichte ist dabei der beste Beweis für einen Superlativ der Unwahrscheinlichkeiten.
Nach einem Autounfall ihrer Tochter zieht sich Medea zunächst in ein orthodoxes Kloster zurück, um später ihre ganze aufgestaute Wut auf die einstigen Vergewaltiger einer Schulkameradin und auf die gesamte männliche Gewaltherrschaft in Georgien in gut geplante Vergeltungstaten zu verwandeln. Nach dortigem Recht war die sexuelle Nötigung längst verjährt. Bewaffnet wie ein römischer Legionär, schlägt sie zum richtigen, was hier bedeutet unwahrscheinlichsten, Zeitpunkt zu.
Die 1973 in Tbilissi geborene Tamar Tandaschwili studierte in den USA, promovierte in Ungarn und kehrte nach Jahren im Ausland in ihre Heimat zurück. Dort arbeitete sie für Frauen- und LGBT-Organisationen als Psychotherapeutin. Dabei wurde ihr das Ausmaß sexueller Unterdrückung im Land bewusst. Sie betreibt einen viel gelesenen Blog und ist als Aktivistin für die Rechte sexueller Minderheiten bekannt. Es sei gut, dass Frauen und Homosexuelle jetzt für ihre Rechte kämpfen, sagte sie 2018 in einem Interview, wobei die in wenigen Jahren aufzuholen versuchen, was im Westen Jahrzehnte brauchte. Der Kampf um Selbstbestimmung beherrsche dann oft ihr ganzes Leben. Zeit zur Reflexion bleibe kaum; wenn man Soldat sei und ständig kämpfe, könne man nicht gleichzeitig Philosoph sein.
Wenn Medea in Selbstjustiz Rache übt, gilt dies drei Mitschülern aus bestem Hause, die das Mädchen jahrelang als Sexsklavin missbraucht hatten. Heute sind sie erfolgreiche Geschäftsmänner, Politiker oder, und das ist ein Knackpunkt, Ex-Mann der Ermittlerin selbst. Doch bis es zum Racheakt kommt, schickt die Autorin ihre Leser auf einen ordentlichen Gewaltgalopp durch die patriarchalische Gesellschaft ihrer kaukasischen Heimat, wobei kaum jemand ungeschoren davonkommt. Ihrem einstigen Dozenten für Vernehmungstechnik treibt es Angstschweiß auf die Stirn, als er Medeas Fallstudie über eine ehemalige Nachbarin liest, die durch häusliche Gewalt und familiäre Ächtung qualvoll zugrunde gerichtet wurde. Polizei und selbst die eigene Verwandtschaft inklusive der Eltern waren auf allen Ohren taub geblieben, bis der jähzornige, impotente Ehemann seine Frau eines Tages in alkoholisierten Zustand aus dem Fenster stieß. Die Ärzte diagnostizierten zur Tarnung einen Infarkt, obwohl der Sterbenden das Gehirn, das, wie es im Buch heißt, Männer den Frauen in Georgien ohnehin absprechen, aus dem zertrümmerten Schädel auf den Asphalt rinnt. Dem Mörder wird kein Haar gekrümmt, kein Nachbar wollte etwas bemerkt haben.
Eine besonders giftige Prise Verachtung gilt dem Klerus des Landes. Korrupt, bigott und offen homophob hält dieser seine schützenden Hände über männliche Straftäter und heizt die gefährliche Stimmung mit der Beschwörung vermeintlich christlich-orthodoxer Werte an, die es gegenüber denen des pervers-libertären Westens zu verteidigen gilt. Getarnt als Nonne Barbare, vernimmt Medea in den klösterlichen Gottesdiensten die Namen ihr bekannter Verbrecher und korrupter Staatsdiener, die hier als wohltätige Spender und frömmelnde Beichtende auftauchen, eine scheinheilige Allianz aus kriminellen Machenschaften in einer von unterdrückten Begierden verkrüppelten Gesellschaft. Dass der Klerus auch allzu schwesterliche Liebe zwischen Nonnen ächtet, versteht sich da schon von selbst.
Am Ende erhalten die Täter ihre blutige Strafe, und die Nonne mit magischer Kraft kehrt als Ermittlerin Medea erhobenen Hauptes ins weltliche Leben zurück, reaktiviert nach der Trennung von ihrem Mann die Liebe zu einer Journalistin, die durch die Krisengebiete dieser Welt jettet, adoptiert die Pflegerin ihrer Tochter, eine Transsexuelle, die von den eigenen Eltern verstoßen wurde, und baut auf ihrer Datsche Biogemüse an. Überhaupt fügt sich am Ende alles in ein ausgesprochen unwahrscheinlich klingendes Happy End. Den verflossenen Gatten ereilt nebenbei bemerkt zur rechten Zeit der Tod beim Yogakurs!
Das Buch ist ein Krimi, ein gesellschaftskritischer Genderroman und eine bitterböse karnevaleske Groteske zugleich und liest sich ziemlich flott und amüsant. Bei der Lektüre ist das angefügte Personenregister hilfreich, denn nicht nur Medea wechselt ihre Identität und das Personenaufgebot ist für die knapp hundertfünfzig Seiten Text nicht gerade sparsam. Dennoch fügen sich die skurrilen, surreal anmutenden Szenen, in denen es zuweilen drastisch zur Sache geht, nicht so recht zu einem erzählerischen Ganzen. Wer den wunderbaren Film "Als wir tanzten" über eine homosexuelle Liebe im georgischen Nationalballett gesehen hat, wird ein wenig über die aktuellen Konflikte um Geschlechterfragen in der Kaukasusrepublik wissen. Für viele andere wäre ein Nachwort, das die lokalen Gegebenheiten in Georgien ausleuchtet, hier durchaus sinnvoll gewesen. SABINE BERKING
Tamar Tandaschwili: "Als Medea Rache übte und die Liebe fand". Roman.
Aus dem Georgischen von Tamas Muskhelischwili. Residenz Verlag, Wien 2021. 145 S., geb. 18,- Euro.
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