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Rainer Moritz erzählt von einer starken Frauen-Vita
In einer Zeit, in der das Tragen von Zopffrisuren, gemusterter Kleider oder "Bling"-Goldketten als kulturelle Aneignung inkriminiert wird (sollte es irgendwann ans Kochen gehen, wird es eng werden: statt Thailändisch täglich Eisbein-Sauerkraut, da hilft dann nur noch der Rettungsanker Käsebrot; "Käsebrot ging immer" lautet auch ein zutiefst wahrer Satz des vorliegenden Buches), in einer solchen, offenbar nicht mehr zur unbefangenen Abstraktion fähigen Zeit mag es fast schon oppositionell anmuten, wenn sich ein reiferer Mann mit jeder Faser in eine blutjunge (im Laufe des Romans freilich älter werdende) Frau hineinversetzt. Natürlich aber handelt es sich hierbei lediglich um eine - bislang noch erlaubte - Basisoperation der Literatur, die ohne emotionale Aneignungen über alle Subjektgrenzen hinweg kaum von Wert wäre.
Dass das Erzählte dann doch hier und da ein beschämtes Hüsteln hervorkitzelt, lässt sich allerdings nicht ganz leugnen: "Wenn sie sicher war, dass Katrin und Inger schliefen, begann sie sich zu streicheln, ihre Haut, deren Glühen erst nachließ, als sie in das längliche Kissen biss." Rainer Moritz, der Hamburger Universalliterat, der schon ein ganzes Buch über schlechte Sexszenen in Romanen vorgelegt hat, hätte ahnen können, dass in der Untenrum-Abteilung generell und zumal in dieser Konstellation noble Schweigsamkeit die sauberste Lösung gewesen wäre. Aber ihn hat, wie so manchen älteren Herrn, der Eros-Schalk geritten, sodass sich selbst Ausflüge in Softpornokitsch finden: "Demonstrativ griff sie nach einem der Kekse, mittlere Preisklasse, biss hinein, ließ ihre Zunge kaum merklich kreisen, so langsam, dass er Bescheid wusste."
Was wir dabei eigentlich nur begreifen sollen: Für Moritz' Heldin Lisa, deren Biographie der Autor wie ein Daumenkino vor uns aufblättert (durch die Jahrzehnte springend; durchweg in zugewandter Personalperspektive erzählt), gehört Sex zum Leben ebenso selbstverständlich dazu wie die Elternliebe, enge Freundinnen, ein Haustier, Käsebrote oder der Tod.
Die Erzählung ist aber auch ein Tauchgang durch verschiedene Epochen der Bundesrepublik, und da spielt Moritz aus, was er besonders gut beherrscht und zuletzt in seinem Vater-Buch von 2018 bewiesen hat: seinen Blick für Details, in denen sich ganze Gesellschaftsperioden spiegeln. Es beginnt in den sechziger Jahren, in denen Lisa eine glückliche, noch ganz und gar analoge Kindheit auf dem Land verbringt. Lisas Weg kreuzen später nur einige Liebhaber, nicht allzu viele, bis sich schließlich "der Verheiratete" einstellt, eine durchaus auf Dauer angelegte und verlässliche Beziehung, die aber über Jahrzehnte geheim bleibt. Die Betonung, Lisa sei rundum zufrieden mit dem auf Begehren ohne Konsequenzen ausgelegten Arrangement ("Nie überlegte sie, wie oft er mit seiner Frau schlief"), riecht wieder ein wenig nach Männerphantasie, aber gut, das mag es geben.
Und doch ist die Perspektive von Beginn an abgelenkt, denn den langen Rückblick unterbricht ein wieder und wieder (und vielleicht etwas zu oft) neu ansetzender Versuch Lisas, einen Abschiedsbrief an die Eltern zu formulieren. Es muss also etwas geschehen sein, ein Bruch in diesem so unaufgeregt dahinfließenden Leben, der alles erschüttert hat und auch den ins Konjunktivische verschobenen Titel erklärt: "Draußen war die Straße, draußen war das Leben. Drinnen nichts, nichts mehr, Reste nur." Tatsächlich durchleiden wir mit Lisa eine Krebserkrankung, und das hochgradig realistisch, wie Leser von einem bestimmten Alter an erkennen werden. Der eigentliche Anlass für die nüchterne Lebensinventur aber ist auch das nicht. Mit einem zarten "Werther"-Anklang ("Niemand begleitet sie, niemand ist bei ihr") entlässt uns der Goethe-Kenner Moritz schließlich aus diesem final zwar leicht getrübten, ansonsten aber so glasklaren Leben. Aus dieser Geschichte.
Weil all dies - inklusive des entspannten, leise melancholischen Stils - auf eine Zeit zurückverweist, in der das Abstrahieren noch gepflegt wurde, lässt sich das Erzählte auch als Porträt einer Generation lesen, der der Autor selbst zugehört und die ein beneidenswert unbeschwertes Leben führen durfte: der Krieg eine verblassende Erinnerung, der Freiheitsaufbruch nach 1968 eine sich selbst erfüllende Verheißung und die neoliberale Überhitzung allenfalls in der Ferne zu erahnen. Es war eine Zeit, in der das einfache Leben (ob nun ungebunden oder mit Bausparvertrag) noch Zinsen abwarf, sodass man nach einigen Dekaden auf ein hübsches Sümmchen Glück zurückblicken und vielleicht auch dankbar gehen konnte irgendwann: "Erfüllt hätte sie ihr Leben nicht genannt, aber gut, ja gut, das wäre nicht das falsche Wort." Avantgardeliteratur ist das nicht, aber eine Ode ans Drauflosleben von heute fast oppositionell wirkender Versöhnlichkeit.
OLIVER JUNGEN
Rainer Moritz: "Als wär das Leben so". Roman.
Oktopus Verlag im Kampa Verlag, Zürich 2021. 209 S., geb., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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