Europas Christentum im Kampf gegen die Zumutungen der Moderne. Der Auftritt der bürgerlichen Gesellschaft auf Europas Bühne brachte große Unruhe, das Christentum wollte Heilmittel gegen die Zumutungen der Moderne sein. Doch das umgehende Gespenst der Säkularisierung war aber nicht mehr zu bannen. Religion allgemein, das Christentum speziell wurde nun als vergänglich angesehen; sie musste sich neu bestimmen. Die Geschichte dieser weitreichenden Umwälzung schreibt der renommierte Neuzeithistoriker Rudolf Schlögl anschaulich und kompetent.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Andreas Holzem schickt seiner lobenden Besprechung von Rudolf Schlögls dickem Buch über die Formung der europäischen Gesellschaftsordnung um 1789 unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Christentums eine Warnung voraus: Das Buch versteht er nicht, wie der Titel vermuten lasse, als christentumsgeschichtliche, sondern als politik- und gesellschaftshistorische Darstellung mit Blick auf den sozialen und politischen Raum. Ferner gibt Holzem zu bedenken, dass der Autor mit Luhmanns Systemtheorie arbeitet. Dies vorausgesetzt, erwarten den Leser laut Rezensent allerdings brillant klare Beobachtungen, Einsichten und Formulierungen und ein wenngleich mitunter etwas selektives kluges Arrangement des Forschungsstandes. Und als Debattenbeitrag in Sachen Säkularisierung, meint Holzem, taugt der Band auch noch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2013Wie die Prägekraft verloren ging
Politische und kirchliche Neuordnung eines ganzen Kontinents: Der Historiker Rudolf Schlögl beobachtet die Säkularisierung und untersucht die Rolle der Religionen in der modernen Welt.
Das Jahr 1789 liegt nicht wirklich in der Mitte des Zeitraums zwischen 1750 und 1850, den der renommierte Konstanzer Historiker Rudolf Schlögl mit diesem theoriegesättigt schwergewichtigen Buch über das "europäische Christentum im Umbruch" ansteuert. Dementsprechend liegt der hermeneutische Dreh- und Angelpunkt auch nicht in seiner Mitte, sondern davor. Die Anordnung und Interpretation der Französischen Revolution sagt viel darüber aus, was Leserinnen und Leser von diesem Buch erwarten dürfen.
Sie ist nicht nur politisch die europäische Wendemarke, die das Ancien Régime von der "Bürgergesellschaft" trennt, sondern sie ist religionsgeschichtlich jene auch den Zeitgenossen zutiefst bewusste Zäsur, in der das Christentum abrupt seine bisherige gesellschaftliche Funktion verliert. Zunächst in der Legitimation der gesellschaftlichen und politischen Ordnung aus sich selbst heraus, dann in der gewaltsamen Zertrümmerung der christlichen Religion als Symbolsystem des Sinns, der Identität und des Zusammenhalts dieser Ordnung war die europäische Religionswelt nach 1789 eine grundlegend andere als zuvor.
Diesen Wandel beobachtet und beschreibt der Autor als "Säkularisierung". Die Kernfragestellung des Buches lautet: Wie formt sich die politische und gesellschaftliche Ordnung (West-)Europas im Umfeld von 1789 um? Welche Rolle spielt das Christentum dabei, und zwar auf eine doppelte Weise - einerseits als prägende gesellschaftliche Kraft, andererseits als Gegenstand von Gesellschafts- und Politiktheorien?
Das Buch ist also nicht eigentlich aus einer religions- oder im engeren Sinne christentumsgeschichtlichen, sondern aus einer politik- und gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive heraus geschrieben. Das macht seine systematische Stärke aus, bedeutet aber auch einen deutlichen Unterschied zu dem, was man vom Titel her möglicherweise erwarten könnte. Die Prinzipien der Gestaltung des politischen und sozialen Raumes und die Bedeutung des Christentums für dessen theoretische und praktische Ausgestaltung - das ist das, was Schlögl eigentlich interessiert.
Die Leser sollten sich wappnen, weil Schlögl den politischen und sozialen Funktionswandel der Religion durchgängig in den komplexen Denkformen und Terminologien der Systemtheorie Niklas Luhmanns entfaltet. Wer sich durcharbeitet, stößt aber auf Einsichten und Formulierungen von brillanter Klarheit. Ein erster großer Teil beschreibt die Funktion des Christentums im westeuropäischen Ançien Régime, vornehmlich in Frankreich, England und dem Alten Reich, nachrangig in den Mittelmeerländern - Osteuropa und die Orthodoxie bleiben ausgeklammert, das Judentum auch.
Die Situation der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts fasst Schlögl als "symbiotische Konkurrenz" von Religion und politischer Herrschaft, weil das Christentum, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausgestaltungen, im Besitz von ökonomischen, politischen und kulturellen Ressourcen ist, die den Verstaatlichungs- und Nationsbildungsprozess in Europa teils verzögern, teils blockieren.
Dem stellt der zweite Teil eine grundlegend veränderte Rolle der Religion in der Bürgergesellschaft gegenüber. Die Französische Revolution bildet dafür das Fanal: Die revolutionäre Neuordnung legitimiert sich aus sich selbst. Die Kirche verliert ihre wirtschaftlichen und politischen Potentiale. Die Dechristianisierung zerstört bewusst und absichtlich die kulturelle Bindung der entstehenden Nation an die christliche Sinnressource, um in revolutionären Kulten einen konstruierten Ersatz zu schaffen.
Alles das geschieht mit zunehmender Gewalt und hat deswegen eine Wirkung auf ganz Westeuropa, weil der Export der revolutionären Prinzipien in den Kriegen Napoleons eine politische und kirchliche Neuordnung des ganzen Kontinents erzwingt und weil gleichzeitig die Intellektuellen den Zusammenhang von Religion, Gesellschaft und Politik neu definieren. Die Folge ist keine durchgängige Verabschiedung, aber eine funktionale Indienstnahme der Religion im Zuge der systemischen Differenzierung der Gesellschaft. Ihre Archive füllen die entstehende politische Religion ebenso auf wie die neue Privatheit familiärer Räume, aber die Definitionsmacht über diese Entwicklung liegt ideell und strukturell nur noch bedingt in ihren Händen.
Das hat drittens Folgen für die Art, in der sich das Christentum in der anbrechenden Moderne seinerseits vergesellschaftet. Religion wird zu einem System neben anderen. Dem zunehmend auf Rom hin ausgerichteten Katholizismus gelingt es, sich zu einer Organisation umzuformen, die in harter Auseinandersetzung mit der staatlichen Macht eine zunehmende Eigenständigkeit gewinnt, freilich um den Preis einer Gegengesellschaftlichkeit, die den Universalitätsanspruch des Selbstbildes nicht einlösen kann.
Anders der Protestantismus: Alle Ansätze, sich erkennbar vom Staat zu emanzipieren, scheitern. Aus der Zugehörigkeit des Hineingeborenwerdens wird die emphatische Mitgliedschaft, mit der das Individuum sich selbst als erkennbares Subjekt vergesellschaften kann. Aus der selbstverständlichen Anwesenheit in ritualisierter Vergemeinschaftung wird medial vermittelte Produktion von religiösen Überzeugungen, Haltungen und Gefühlen. Wo das für die Konstruktion des Selbst oder für die Sinnstiftung von Institutionen, Gruppen und Prozeduren nicht ausreicht, nimmt Religion entweder die Form einer sozialen Bewegung an oder wird als irrelevant verabschiedet.
Das alles sind Beobachtungen erster Ordnung, in denen Schlögl den Forschungsstand von seinem theoretischen Instrumentarium her klug ordnend, manchmal allerdings auch etwas selektiv arrangiert. Im vierten Teil beobachtet der Verfasser schließlich in einer Analyse zweiter Ordnung die zeitgenössischen Beobachter. Luzide zeichnet er den Diskurs nach, mit dem Europas Intellektuelle diese Wandlungsprozesse ihrerseits wahrnahmen, kommentierten und theoretisierten. Während die Deisten das Christentum als kulturell höchststehende Erscheinungsform einer natürlichen Religion historisierten, an seiner Unverzichtbarkeit für die Produktion öffentlicher Moral aber festhielten, waren zwischen David Hume und Karl Marx auch jene Entwürfe einflussreich, die die Religion als solche entweder auf idealistischem oder materialistischem Wege zum Produkt des menschlichen Geistes erklärten und damit jene Differenz von Immanenz und Transzendenz zum Verschwinden brachten, die Schlögl zum Kern des Religionsbegriffs erklärt.
Darum ist das Buch in seinem Schlusskapitel auch ein wichtiger Beitrag zur Debatte über den Begriff der Säkularisierung. Damit soll nicht gemeint sein jene Ideologie einer mit zwangsläufiger Zielgerichtetheit ablaufenden Verdrängung der Religion aus öffentlichen Räumen und privater Praxis, die die Liberalen kulturkämpferisch gegen den Katholizismus wandten. Damit soll auch nicht adressiert sein die Rezeption dieser Ideologie in einem Typus von Sozialwissenschaft, der unterschwellig den Kulturkampf fortsetzte. "Säkularisierung", so Schlögl, könne beobachtet werden als jener Prozess von Kommunikationen und Handlungen, in dem Religion als "strukturierte sinnhafte soziale Welt" neben anderen Welten hervorgebracht wird, die Anlässe, dies zu tun, aber in den westlichen Wohlstandsgesellschaften signifikant abnehmen.
ANDREAS HOLZEM
Rudolf Schlögl: "Alter Glaube und moderne Welt". Europäisches Christentum im Umbruch 1750 - 1850.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 544 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Politische und kirchliche Neuordnung eines ganzen Kontinents: Der Historiker Rudolf Schlögl beobachtet die Säkularisierung und untersucht die Rolle der Religionen in der modernen Welt.
Das Jahr 1789 liegt nicht wirklich in der Mitte des Zeitraums zwischen 1750 und 1850, den der renommierte Konstanzer Historiker Rudolf Schlögl mit diesem theoriegesättigt schwergewichtigen Buch über das "europäische Christentum im Umbruch" ansteuert. Dementsprechend liegt der hermeneutische Dreh- und Angelpunkt auch nicht in seiner Mitte, sondern davor. Die Anordnung und Interpretation der Französischen Revolution sagt viel darüber aus, was Leserinnen und Leser von diesem Buch erwarten dürfen.
Sie ist nicht nur politisch die europäische Wendemarke, die das Ancien Régime von der "Bürgergesellschaft" trennt, sondern sie ist religionsgeschichtlich jene auch den Zeitgenossen zutiefst bewusste Zäsur, in der das Christentum abrupt seine bisherige gesellschaftliche Funktion verliert. Zunächst in der Legitimation der gesellschaftlichen und politischen Ordnung aus sich selbst heraus, dann in der gewaltsamen Zertrümmerung der christlichen Religion als Symbolsystem des Sinns, der Identität und des Zusammenhalts dieser Ordnung war die europäische Religionswelt nach 1789 eine grundlegend andere als zuvor.
Diesen Wandel beobachtet und beschreibt der Autor als "Säkularisierung". Die Kernfragestellung des Buches lautet: Wie formt sich die politische und gesellschaftliche Ordnung (West-)Europas im Umfeld von 1789 um? Welche Rolle spielt das Christentum dabei, und zwar auf eine doppelte Weise - einerseits als prägende gesellschaftliche Kraft, andererseits als Gegenstand von Gesellschafts- und Politiktheorien?
Das Buch ist also nicht eigentlich aus einer religions- oder im engeren Sinne christentumsgeschichtlichen, sondern aus einer politik- und gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive heraus geschrieben. Das macht seine systematische Stärke aus, bedeutet aber auch einen deutlichen Unterschied zu dem, was man vom Titel her möglicherweise erwarten könnte. Die Prinzipien der Gestaltung des politischen und sozialen Raumes und die Bedeutung des Christentums für dessen theoretische und praktische Ausgestaltung - das ist das, was Schlögl eigentlich interessiert.
Die Leser sollten sich wappnen, weil Schlögl den politischen und sozialen Funktionswandel der Religion durchgängig in den komplexen Denkformen und Terminologien der Systemtheorie Niklas Luhmanns entfaltet. Wer sich durcharbeitet, stößt aber auf Einsichten und Formulierungen von brillanter Klarheit. Ein erster großer Teil beschreibt die Funktion des Christentums im westeuropäischen Ançien Régime, vornehmlich in Frankreich, England und dem Alten Reich, nachrangig in den Mittelmeerländern - Osteuropa und die Orthodoxie bleiben ausgeklammert, das Judentum auch.
Die Situation der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts fasst Schlögl als "symbiotische Konkurrenz" von Religion und politischer Herrschaft, weil das Christentum, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausgestaltungen, im Besitz von ökonomischen, politischen und kulturellen Ressourcen ist, die den Verstaatlichungs- und Nationsbildungsprozess in Europa teils verzögern, teils blockieren.
Dem stellt der zweite Teil eine grundlegend veränderte Rolle der Religion in der Bürgergesellschaft gegenüber. Die Französische Revolution bildet dafür das Fanal: Die revolutionäre Neuordnung legitimiert sich aus sich selbst. Die Kirche verliert ihre wirtschaftlichen und politischen Potentiale. Die Dechristianisierung zerstört bewusst und absichtlich die kulturelle Bindung der entstehenden Nation an die christliche Sinnressource, um in revolutionären Kulten einen konstruierten Ersatz zu schaffen.
Alles das geschieht mit zunehmender Gewalt und hat deswegen eine Wirkung auf ganz Westeuropa, weil der Export der revolutionären Prinzipien in den Kriegen Napoleons eine politische und kirchliche Neuordnung des ganzen Kontinents erzwingt und weil gleichzeitig die Intellektuellen den Zusammenhang von Religion, Gesellschaft und Politik neu definieren. Die Folge ist keine durchgängige Verabschiedung, aber eine funktionale Indienstnahme der Religion im Zuge der systemischen Differenzierung der Gesellschaft. Ihre Archive füllen die entstehende politische Religion ebenso auf wie die neue Privatheit familiärer Räume, aber die Definitionsmacht über diese Entwicklung liegt ideell und strukturell nur noch bedingt in ihren Händen.
Das hat drittens Folgen für die Art, in der sich das Christentum in der anbrechenden Moderne seinerseits vergesellschaftet. Religion wird zu einem System neben anderen. Dem zunehmend auf Rom hin ausgerichteten Katholizismus gelingt es, sich zu einer Organisation umzuformen, die in harter Auseinandersetzung mit der staatlichen Macht eine zunehmende Eigenständigkeit gewinnt, freilich um den Preis einer Gegengesellschaftlichkeit, die den Universalitätsanspruch des Selbstbildes nicht einlösen kann.
Anders der Protestantismus: Alle Ansätze, sich erkennbar vom Staat zu emanzipieren, scheitern. Aus der Zugehörigkeit des Hineingeborenwerdens wird die emphatische Mitgliedschaft, mit der das Individuum sich selbst als erkennbares Subjekt vergesellschaften kann. Aus der selbstverständlichen Anwesenheit in ritualisierter Vergemeinschaftung wird medial vermittelte Produktion von religiösen Überzeugungen, Haltungen und Gefühlen. Wo das für die Konstruktion des Selbst oder für die Sinnstiftung von Institutionen, Gruppen und Prozeduren nicht ausreicht, nimmt Religion entweder die Form einer sozialen Bewegung an oder wird als irrelevant verabschiedet.
Das alles sind Beobachtungen erster Ordnung, in denen Schlögl den Forschungsstand von seinem theoretischen Instrumentarium her klug ordnend, manchmal allerdings auch etwas selektiv arrangiert. Im vierten Teil beobachtet der Verfasser schließlich in einer Analyse zweiter Ordnung die zeitgenössischen Beobachter. Luzide zeichnet er den Diskurs nach, mit dem Europas Intellektuelle diese Wandlungsprozesse ihrerseits wahrnahmen, kommentierten und theoretisierten. Während die Deisten das Christentum als kulturell höchststehende Erscheinungsform einer natürlichen Religion historisierten, an seiner Unverzichtbarkeit für die Produktion öffentlicher Moral aber festhielten, waren zwischen David Hume und Karl Marx auch jene Entwürfe einflussreich, die die Religion als solche entweder auf idealistischem oder materialistischem Wege zum Produkt des menschlichen Geistes erklärten und damit jene Differenz von Immanenz und Transzendenz zum Verschwinden brachten, die Schlögl zum Kern des Religionsbegriffs erklärt.
Darum ist das Buch in seinem Schlusskapitel auch ein wichtiger Beitrag zur Debatte über den Begriff der Säkularisierung. Damit soll nicht gemeint sein jene Ideologie einer mit zwangsläufiger Zielgerichtetheit ablaufenden Verdrängung der Religion aus öffentlichen Räumen und privater Praxis, die die Liberalen kulturkämpferisch gegen den Katholizismus wandten. Damit soll auch nicht adressiert sein die Rezeption dieser Ideologie in einem Typus von Sozialwissenschaft, der unterschwellig den Kulturkampf fortsetzte. "Säkularisierung", so Schlögl, könne beobachtet werden als jener Prozess von Kommunikationen und Handlungen, in dem Religion als "strukturierte sinnhafte soziale Welt" neben anderen Welten hervorgebracht wird, die Anlässe, dies zu tun, aber in den westlichen Wohlstandsgesellschaften signifikant abnehmen.
ANDREAS HOLZEM
Rudolf Schlögl: "Alter Glaube und moderne Welt". Europäisches Christentum im Umbruch 1750 - 1850.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 544 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einsichten und Formulierungen von brillanter Klarheit Andreas Holzem Frankfurter Allgemeine Zeitung 20131010