Begriffe wie »postfaktisch« und »alternative Fakten« haben Konjunktur. Sie verweisen darauf, dass in vielen Gesellschaften ein Kampf um die Wirklichkeit der Wirklichkeit entbrannt zu sein scheint. Der Soziologe Nils C. Kumkar betrachtet diese Phänomene jedoch aus einem anderen Blickwinkel: Ausgehend von Fallstudien zu den Auseinandersetzungen um Corona, den Klimawandel und die Größe des Publikums bei der Amtseinführung Donald Trumps, plädiert er dafür, »alternative Fakten« nicht primär als Versatzstücke einer Parallelwelt zu verstehen, sondern als diskursive Nebelkerzen im Kontext polarisierter Debatten. Sie wirken, so Kumkar, nicht als Beitrag zur Konstruktion einer alternativen Realität, sondern als kommunikative Realitätsdestruktion, die es erlaubt, wider besseres Wissen weiterzumachen wie bisher.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2022Echo, wo bist du?
Nils Kumkars Theorie alternativer Fakten widerlegt den Volksglauben an die Spaltung der Gesellschaft
Die Metapher der Echokammer verdankt den Eindruck, dass sie die öffentlichen Verhältnisse in ein aufschlussreiches Licht setze, zu guten Teilen einem Echoeffekt. Das Bild wird übernommen, weitergetragen und wiederholt. Seine Geläufigkeit suggeriert, dass es etwas allgemein Bekanntes und offenkundig Richtiges erfasse. Das synonyme Bild der Blase hat es zu ähnlicher Beliebtheit gebracht. Ganz selbstverständlich verwendet beide Metaphern etwa Jürgen Habermas in seinem jüngst erschienenen Büchlein zum neuesten Strukturwandel der Öffentlichkeit: Soweit sich in den sozialen Medien aus der Verkettung von summarischer Belobigung und zustimmender Kommentierung "selbsttragende Echoräume bilden, teilen diese Blasen mit der klassischen Gestalt der Öffentlichkeit den porösen Charakter der Offenheit für weitere Vernetzungen; gleichzeitig unterscheiden sie sich jedoch vom grundsätzlich inklusiven Charakter der Öffentlichkeit durch die Abwehr dissonanter und die assimilierende Einbeziehung konsonanter Stimmen in den eigenen Horizont". Man möchte meinen, dass mit dem Bild der porösen Blase etwas nicht stimmen kann.
Und das gilt jedenfalls für das Gegenbild: Habermas blendet aus, dass auch die klassische Öffentlichkeit mit den Filtern redaktioneller "Zulassungsbedingungen" (wie beim Abitur!) den von der Sozialpsychologie hinlänglich beschriebenen Mechanismen der Verstärkung von Vorurteilen durch Routinen der Bestätigung unterliegt. Was folgt daraus? Politische Gegner werden auch die neueste Lieferung der Kommunikationstheorie von Habermas als strategisches Unternehmen entlarven, das die Horizonteinschmelzung vollziehe, die es der Gegenseite unterstelle. Interessanter ist die Frage, ob mit der empirischen Seite der Situationsdeutung etwas nicht stimmt, wenn Echokammer und Blase sich nicht leicht von idealeren Sprechsituationsräumen abgrenzen lassen.
Einen gewichtigen Beitrag zu einer analytischen Pathologie der politischen Kommunikation erbringt jetzt der Bremer Sozialwissenschaftler Nils Kumkar. Er hat sich die "Alternativen Fakten" vorgenommen, das komplementäre Schlagwort zu den "Fake News". Wer die Nachrichten als Fälschungen denunziert, richtet sich in einer alternativen Welt ein, in der andere Tatsachenbehauptungen gelten sollen. Die populäre Idee, wir erlebten eine Spaltung der Gesellschaft, wird üblicherweise konkretisiert durch den Hinweis, dass man sich diese Spaltung als Nebeneinander epistemischer Universen vorzustellen habe. Unsere geteilte Wirklichkeit zerfalle - so wird diese Diagnose kulturkritisch gewendet und apokalyptisch zugespitzt. Auch solcher Pessimismus setzt noch die Grundannahme des Idealismus von Habermas voraus: dass es im Streit um die Ursachen des Klimawandels oder die Integrationschancen ungeladener Einwanderer um eine Konfrontation der Geltungsansprüche von Annahmen über die Wirklichkeit gehe. Querdenker oder AfD-Wähler, so meint man, glauben etwas ganz Eigenes und ganz anderes und ganz besonders fest - deshalb geben sie Grund zur Sorge. In dieser Sicht schließen sich die Gegenöffentlichkeiten ab wie Sekten.
Die Q-Anon-Bewegung und die Resonanz der Agitation gegen die Pandemiebekämpfung im anthroposophischen Milieu machen diese Perspektive plausibel. Kumkars These ist, dass sie gleichwohl in die Irre führt. Das Buch besticht durch die klare Präsentation seines Arguments. Es verbindet sozialtheoretische Begriffsüberlegungen mit demoskopischer Empirie, aber der methodische Witz steckt in der philologischen Hinwendung zum Detail, der Zerlegung dreier beispielhafter Sets alternativer Fakten. Die erste Fallstudie behandelt die Urszene der Begriffsgenese.
Kellyanne Conway, Beraterin des neugewählten amerikanischen Präsidenten Trump, erfand die Formel der alternativen Fakten, anscheinend spontan, um zu erklären, wie Trumps Sprecher Sean Spicer allem Augenschein zum Trotz hatte sagen können, dass sich zu Trumps Ehren die größte Menge in der Geschichte der Amtseinführungsfeiern versammelt habe. Kumkar untersucht Spicers Äußerung Wort für Wort und stellt fest, dass der Sprecher nicht nur und auch nicht hauptsächlich gesagt hatte, es seien mehr Zuschauer auf dem Rasen vor dem Kapitol gewesen als je zuvor. Er sagte außerdem, die Menge sei größer gewesen als erwartet, angesichts der Überlastung der U-Bahn und der Stimmungsmache der Trump-Gegner, und es sei schwerer gewesen, sie zu zählen.
Die Tatsachenbehauptung war eine Gegenbehauptung - das ist offensichtlich. Aber diese polemische Stellung bewirkte, dass die Äußerung nur pro forma und bei sehr weiter Dehnung des Formbegriffs als wahr gelten wollte. Eigentlich verfolgte sie den Zweck, die Geltungsvoraussetzungen der für Trump peinlichen Feststellung der Gegenseite zu sabotieren. Es ging gar nicht um die absolute Zahl, sondern um die Relativierung aller numerischen Maßstäbe. Auf den Effekt der Störung der Kommunikation kommt es an, und dafür ist es gleichgültig, ob diejenigen, die alternative Fakten in die Welt setzen und verbreiten, ihre Behauptungen auch für wahr halten.
Schlagend ist Kumkars Vergleich von Spicers Einlassungen mit der von Freud in seinem Buch über den Witz wiedergegebenen Verteidigungsrede des Mannes, dem vorgeworfen wird, einen Kessel, den er sich geliehen hatte, beschädigt zurückgegeben zu haben: Erstens habe er sich keinen Kessel geliehen, zweitens sei er schon beschädigt gewesen, und drittens habe er ihn heil zurückgegeben. In Anknüpfung an Hegel bestimmt Kumkar die Form alternativer Fakten als unbestimmte Negation, im Kontrast zur bestimmten Negation der wissenschaftlich begründeten Widerrede.
Das Muster überschießender Gegenbehauptungen, die eine unwillkommene Behauptung mit allen Mitteln unglaubwürdig machen sollen, unter Verzicht auf Konsistenz der Gegenrede, findet Kumkar in Manifesten der Gegner der Klimapolitik und der Pandemiebekämpfung wieder. Es wird bestritten, dass es den Klimawandel gibt und dass er menschengemacht ist, dass er so groß ist, dass etwas gegen ihn getan werden muss, und dass er noch nicht so groß ist, dass nichts mehr getan werden kann - und so weiter.
Alternative Fakten, so Kumkars Fazit, sind keine Bausteine alternativer Wissenschaften und Wirklichkeiten. Ihre Konstruktionen fallen sofort in sich zusammen, wenn man die polemische Veranlassung wegnimmt. Man muss sie als Kommunikationsereignisse verstehen. Daraus ergibt sich ein optimistisches Fazit: Es gibt die geteilte Wirklichkeit noch. Die Gegenöffentlichkeiten haben der allgemeinen Öffentlichkeit nichts Eigenes entgegenzusetzen, ihr Sound ist das verzerrte Echo eines mutmaßlich aus guten Gründen übermächtigen Common Sense. PATRICK BAHNERS
Nils C. Kumkar: "Alternative Fakten". Zur Praxis der kommunikativem
Erkenntnisverweigerung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 336 S., br., 18.- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nils Kumkars Theorie alternativer Fakten widerlegt den Volksglauben an die Spaltung der Gesellschaft
Die Metapher der Echokammer verdankt den Eindruck, dass sie die öffentlichen Verhältnisse in ein aufschlussreiches Licht setze, zu guten Teilen einem Echoeffekt. Das Bild wird übernommen, weitergetragen und wiederholt. Seine Geläufigkeit suggeriert, dass es etwas allgemein Bekanntes und offenkundig Richtiges erfasse. Das synonyme Bild der Blase hat es zu ähnlicher Beliebtheit gebracht. Ganz selbstverständlich verwendet beide Metaphern etwa Jürgen Habermas in seinem jüngst erschienenen Büchlein zum neuesten Strukturwandel der Öffentlichkeit: Soweit sich in den sozialen Medien aus der Verkettung von summarischer Belobigung und zustimmender Kommentierung "selbsttragende Echoräume bilden, teilen diese Blasen mit der klassischen Gestalt der Öffentlichkeit den porösen Charakter der Offenheit für weitere Vernetzungen; gleichzeitig unterscheiden sie sich jedoch vom grundsätzlich inklusiven Charakter der Öffentlichkeit durch die Abwehr dissonanter und die assimilierende Einbeziehung konsonanter Stimmen in den eigenen Horizont". Man möchte meinen, dass mit dem Bild der porösen Blase etwas nicht stimmen kann.
Und das gilt jedenfalls für das Gegenbild: Habermas blendet aus, dass auch die klassische Öffentlichkeit mit den Filtern redaktioneller "Zulassungsbedingungen" (wie beim Abitur!) den von der Sozialpsychologie hinlänglich beschriebenen Mechanismen der Verstärkung von Vorurteilen durch Routinen der Bestätigung unterliegt. Was folgt daraus? Politische Gegner werden auch die neueste Lieferung der Kommunikationstheorie von Habermas als strategisches Unternehmen entlarven, das die Horizonteinschmelzung vollziehe, die es der Gegenseite unterstelle. Interessanter ist die Frage, ob mit der empirischen Seite der Situationsdeutung etwas nicht stimmt, wenn Echokammer und Blase sich nicht leicht von idealeren Sprechsituationsräumen abgrenzen lassen.
Einen gewichtigen Beitrag zu einer analytischen Pathologie der politischen Kommunikation erbringt jetzt der Bremer Sozialwissenschaftler Nils Kumkar. Er hat sich die "Alternativen Fakten" vorgenommen, das komplementäre Schlagwort zu den "Fake News". Wer die Nachrichten als Fälschungen denunziert, richtet sich in einer alternativen Welt ein, in der andere Tatsachenbehauptungen gelten sollen. Die populäre Idee, wir erlebten eine Spaltung der Gesellschaft, wird üblicherweise konkretisiert durch den Hinweis, dass man sich diese Spaltung als Nebeneinander epistemischer Universen vorzustellen habe. Unsere geteilte Wirklichkeit zerfalle - so wird diese Diagnose kulturkritisch gewendet und apokalyptisch zugespitzt. Auch solcher Pessimismus setzt noch die Grundannahme des Idealismus von Habermas voraus: dass es im Streit um die Ursachen des Klimawandels oder die Integrationschancen ungeladener Einwanderer um eine Konfrontation der Geltungsansprüche von Annahmen über die Wirklichkeit gehe. Querdenker oder AfD-Wähler, so meint man, glauben etwas ganz Eigenes und ganz anderes und ganz besonders fest - deshalb geben sie Grund zur Sorge. In dieser Sicht schließen sich die Gegenöffentlichkeiten ab wie Sekten.
Die Q-Anon-Bewegung und die Resonanz der Agitation gegen die Pandemiebekämpfung im anthroposophischen Milieu machen diese Perspektive plausibel. Kumkars These ist, dass sie gleichwohl in die Irre führt. Das Buch besticht durch die klare Präsentation seines Arguments. Es verbindet sozialtheoretische Begriffsüberlegungen mit demoskopischer Empirie, aber der methodische Witz steckt in der philologischen Hinwendung zum Detail, der Zerlegung dreier beispielhafter Sets alternativer Fakten. Die erste Fallstudie behandelt die Urszene der Begriffsgenese.
Kellyanne Conway, Beraterin des neugewählten amerikanischen Präsidenten Trump, erfand die Formel der alternativen Fakten, anscheinend spontan, um zu erklären, wie Trumps Sprecher Sean Spicer allem Augenschein zum Trotz hatte sagen können, dass sich zu Trumps Ehren die größte Menge in der Geschichte der Amtseinführungsfeiern versammelt habe. Kumkar untersucht Spicers Äußerung Wort für Wort und stellt fest, dass der Sprecher nicht nur und auch nicht hauptsächlich gesagt hatte, es seien mehr Zuschauer auf dem Rasen vor dem Kapitol gewesen als je zuvor. Er sagte außerdem, die Menge sei größer gewesen als erwartet, angesichts der Überlastung der U-Bahn und der Stimmungsmache der Trump-Gegner, und es sei schwerer gewesen, sie zu zählen.
Die Tatsachenbehauptung war eine Gegenbehauptung - das ist offensichtlich. Aber diese polemische Stellung bewirkte, dass die Äußerung nur pro forma und bei sehr weiter Dehnung des Formbegriffs als wahr gelten wollte. Eigentlich verfolgte sie den Zweck, die Geltungsvoraussetzungen der für Trump peinlichen Feststellung der Gegenseite zu sabotieren. Es ging gar nicht um die absolute Zahl, sondern um die Relativierung aller numerischen Maßstäbe. Auf den Effekt der Störung der Kommunikation kommt es an, und dafür ist es gleichgültig, ob diejenigen, die alternative Fakten in die Welt setzen und verbreiten, ihre Behauptungen auch für wahr halten.
Schlagend ist Kumkars Vergleich von Spicers Einlassungen mit der von Freud in seinem Buch über den Witz wiedergegebenen Verteidigungsrede des Mannes, dem vorgeworfen wird, einen Kessel, den er sich geliehen hatte, beschädigt zurückgegeben zu haben: Erstens habe er sich keinen Kessel geliehen, zweitens sei er schon beschädigt gewesen, und drittens habe er ihn heil zurückgegeben. In Anknüpfung an Hegel bestimmt Kumkar die Form alternativer Fakten als unbestimmte Negation, im Kontrast zur bestimmten Negation der wissenschaftlich begründeten Widerrede.
Das Muster überschießender Gegenbehauptungen, die eine unwillkommene Behauptung mit allen Mitteln unglaubwürdig machen sollen, unter Verzicht auf Konsistenz der Gegenrede, findet Kumkar in Manifesten der Gegner der Klimapolitik und der Pandemiebekämpfung wieder. Es wird bestritten, dass es den Klimawandel gibt und dass er menschengemacht ist, dass er so groß ist, dass etwas gegen ihn getan werden muss, und dass er noch nicht so groß ist, dass nichts mehr getan werden kann - und so weiter.
Alternative Fakten, so Kumkars Fazit, sind keine Bausteine alternativer Wissenschaften und Wirklichkeiten. Ihre Konstruktionen fallen sofort in sich zusammen, wenn man die polemische Veranlassung wegnimmt. Man muss sie als Kommunikationsereignisse verstehen. Daraus ergibt sich ein optimistisches Fazit: Es gibt die geteilte Wirklichkeit noch. Die Gegenöffentlichkeiten haben der allgemeinen Öffentlichkeit nichts Eigenes entgegenzusetzen, ihr Sound ist das verzerrte Echo eines mutmaßlich aus guten Gründen übermächtigen Common Sense. PATRICK BAHNERS
Nils C. Kumkar: "Alternative Fakten". Zur Praxis der kommunikativem
Erkenntnisverweigerung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 336 S., br., 18.- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Wer nach einer neuen, unaufgeregten Sicht auf das Phänomen "alternativer Fakten" sowie nach sinnvollen Vorschlägen sucht, wie man ihnen beikommen kann, sollte Nils C. Kumkars kluge Analyse lesen, empfiehlt Rezensentin Vera Linß. Statt sich auf die Inhalte zu konzentrieren und in das Klagelied über den Niedergang der Demokratie einzustimmen, schlägt Kumkar vor, sich einmal genau anzuschauen, wie diese Fakten produziert werden, in welchen Situationen und wozu. Er folgt denn auch seinem eigenen Rat, lobt Linß, und kommt zu dem Schluss, dass die Verbreitung von Desinformation stets dazu dient, den Status Quo zu erhalten bzw. die politische Verhandlung gewisser Probleme zu vermeiden. Somit seien alternative Fakten weniger eine Gefahr für die Demokratie, als dass sie indirekt auf einen breiten Konsens verweisen sowie auf bestimmte ungelöste Probleme. Die Rezensentin ist überzeugt: Wenn wir Kumkar folgen und untersuchen, welche Probleme alternative Fakten verbergen wollen, kommen wir weiter, als wenn wir sie wie bisher allein auf der Inhaltsebene bekämpfen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.10.2022„Arbeit an der gemeinsamen Wirklichkeit“
Der Bremer Soziologe Nils C. Kumkar fordert in seinem Buch „Alternative Fakten“ mehr Nüchternheit
in der Debatte um Filterblasen und Verschwörungstheorien. Schon ein kleiner Trick könnte helfen
INTERVIEW: JULIA WERTHMANN
Verschwörungsmythen, Filterblasen, Querdenkerei: Leben wir nicht mehr in einer gemeinsamen Wirklichkeit? Der 37-jährige Bremer Soziologe Nils Kumkar hat sich in seinem Buch „Alternative Fakten – Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung“ ein paar beliebte Vorurteile vorgeknöpft. Ein Gespräch.
SZ: Herr Kumkar, eine beliebte Zeitdiagnose besagt, dass die Gesellschaft in Filterblasen zerfällt. In Ihrem Buch äußern Sie Zweifel an diesem Befund. Warum?
Nils C. Kumkar: Weil er nicht stimmt. Weniger scharf formuliert: Am Ausgang des Projekts stand eine gewisse Verwunderung. Darüber, wie unterhinterfragt sich die apokalyptische Erzählung reproduziert, nach der wir nicht mehr in einer gemeinsamen Wirklichkeit leben. Dabei zeigen empirische Untersuchungen: Zwar sorgt sich ein großer Teil der Bevölkerung darum, dass alternative Fakten die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit schwerer machen. In denselben Umfragen geben aber nur wenige an, „alternativen Fakten“ schon einmal begegnet zu sein. Andere Umfragen zeigen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien in den vergangenen vier Dekaden nicht zugenommen hat.
Und die Filterblasen auf Social Media, gibt es die?
Jeder kennt die Metapher. Aber es kommt sehr darauf an, was man genau darunter versteht. Die Empirie zeigt: Menschen auf Social Media haben nicht weniger Kontakt zu anderen politischen Meinungen, sondern im Zweifelsfall sogar mehr.
Was hat es also auf sich mit der Rede von den „alternativen Fakten“?
Das Alltagsverständnis wäre ja folgendes: Das Problem mit „alternativen Fakten“ ist, dass sie jemand glaubt. Darum geht es aber nicht primär. Ich sehe mir stattdessen die Funktion der „alternativen Fakten“ in der konkreten Kommunikationssituation an. In vielen Fällen stellt man fest: „Alternative Fakten“ werden oft gar nicht mit dem Ziel verwendet, dass sie geglaubt werden, es sind gar keine Tatsachenbehauptungen im strengeren Sinne.
Sondern?
Sie sind eine Art überschießende Widerlegungen. Es gibt einen Sachverhalt, der ein Problem für Beteiligte der Kommunikation darstellt, deshalb bringen sie alles in Anschlag, was ihnen einfällt, um diesen Sachverhalt zu problematisieren.
Haben Sie ein Beispiel?
Legendär ist das Presse-Briefing zu Donald Trumps verhältnismäßig schlecht besuchter Amtseinführung. Sean Spicer, damaliger Pressesprecher des Weißen Hauses, behauptete: Die Feier war aus guten Gründen klein, es war schwer hinzukommen. Außerdem sah sie kleiner aus, als sie wirklich war. Und vor allem: Es war die größte Einführungsfeier überhaupt. Man merkte sofort: Das passt alles nicht wirklich zusammen. Es ging erkennbar nicht darum, eine Aussage darüber zu treffen, wie es in Wirklichkeit ist. Sondern darum, zu sagen: Wer etwas anderes behauptet, stellt auch nur eine Behauptung auf. Damit jedoch verschiebt sich der Fokus der Debatte. Vorher müssten wir darüber reden, was es heißt, so eine kleine Amtseinführungsfeier zu haben. Hat Trump so wenig Unterstützung in der Bevölkerung? Stattdessen dreht sich die gesamte folgende Debatte um „alternative Fakten“ und ihre Widerlegung.
Sie gehen also davon aus, dass es eine geteilte Wirklichkeit doch noch gibt?
Auf jeden Fall gibt es keinen Grund anzunehmen, dass es sie weniger gibt als früher. Eine geteilte Wirklichkeit ist natürlich eine komplexe Abstraktionsleistung. Alle haben unterschiedliche Perspektiven. Aber in dem pragmatischen Sinne, dass wir uns in unserem Handeln auf bestimmte geteilte Annahmen als Grundlage unseres gemeinsamen Handelns beziehen, ist das Problem nicht größer als früher.
Was halten sie vom journalistischen Genre „Faktencheck“ oder wissenschaftlichen Projekten der Faktenvermittlung?
Das ist eine total wichtige Arbeit. Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass es diese geteilte Wirklichkeit gibt. Sie muss hergestellt werden, indem man sich über sie verständigt. Und solche Projekte sind Arbeit an der gemeinsamen Wirklichkeit. Wenn es die nicht gäbe, hätten wir ein Problem. Mein Punkt ist jedoch, dass es eine Illusion wäre, zu denken, allein damit schon das Problem „alternativer Fakten“ zu lösen.
Also was tun?
Als Soziologe tue ich mir immer schwer mit Handlungsanweisungen. Aber ich glaube, wir brauchen alles: Faktenchecks und gute Wissenschaftskommunikation. Denn natürlich gibt es Menschen, die „alternative Fakten“ glauben. Aber vor allem brauchen wir den Mut, politische Konflikte dort, wo sie auftreten, als solche ernst zu nehmen. Denn alle „alternativen Fakten“ treten im Kontext aufgeheizter politischer Konflikte auf. Wir streiten eben nicht in erster Linie um die Wirklichkeit, sondern darum, wie wir mit ihr umgehen. Wir sollten uns nicht in eine epistemologische Debatte darüber verstricken, was wirklich ist. Sondern bei den Problemen bleiben.
Da könnte man jetzt aber doch eine Handlungsanleitung herauslesen.
Ja, aber die Aufgabe der Soziologie ist dabei eher, herauszuarbeiten, was das betreffende Problem ist. Bei der Leugnung des Klimawandels geht es beispielsweise darum, dass Menschen die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung ablehnen.
Wie kommt es zu dieser Verschiebung, wieso diskutieren wir über die Wahrhaftigkeit, statt Konflikte auszutragen?
Zentral ist: „Alternative Fakten“ sind beobachtbarer geworden. Die Generation unserer Großeltern hat am Stammtisch auch Dinge geredet, da hat es einem die Fußnägel hochgeklappt. Das ist aber unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit geflogen. Wenn die Leute es nun aber auf Twitter oder Facebook posten, sitzen die Massenmedien mit am Stammtisch. Wenn sie es dann abbilden, liest es die gesamte Öffentlichkeit und erschrickt, zu Recht, über sich selbst. Dafür muss sich aber die Menge solcher Behauptungen gar nicht verändert haben. Indem man hinguckt, wird es verstärkt zum Problem.
Ist also alles nur eine Frage der Wahrnehmung?
Nicht nur. Außerdem, so meine Vermutung, kommen „alternative Fakten“ stärker in Krisensituationen vor, deren Bewältigung große Nebenfolgen hat, die man offensichtlich nicht aussitzen kann, wie der Klimawandel. Herausforderungen, die auf diese Art als drängend wahrgenommen werden, haben in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Da kommt der Wunsch auf, sich kommunikativ mal eine Pause zu gönnen, die Problembearbeitung aufzuschieben. Und ein Weg das zu tun, ist eben die Problematisierung des Problems selbst: Gibt es schon Einigkeit darüber, wie drängend der Klimawandel ist?
Ein legitimer Wunsch, aber mit weitreichenden Folgen. Wie gehen wir gesellschaftlich jetzt damit um?
Wir müssen „alternative Fakten“ auch als Kommunikationsphänomene betrachten, statt uns auf die Faktenfrage zu versteifen. So, wie wir die Debatte zuletzt geführt haben, sollten wir uns keine Chance entgehen lassen, eine andere Brille aufzusetzen. Dann sehen wir vielleicht etwas, das wir vorher nicht gesehen haben. Und zwar, dass die Rede von der Krise der gemeinsamen Wirklichkeit als Diagnose selbst in das Problem verstrickt ist, das sie zu beschreiben versucht.
Nils C. Kumkar, geboren 1985, ist Soziologe und lehrt und forscht an der Universität Bremen über soziale Ungleichheit und politischen Protest.
Foto: Falk WeiSS/Suhrkamp
Sah sie wirklich nur kleiner aus, als sie wirklich war? Bild von der
Amtseinführung Donald Trumps am 20. Januar 2017. Foto: AP
Nils C. Kumkar:
Alternative Fakten.
Zur Praxis der
kommunikativen
Erkenntnisverweigerung. Suhrkamp Verlag,
Berklin 2022.
336 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Bremer Soziologe Nils C. Kumkar fordert in seinem Buch „Alternative Fakten“ mehr Nüchternheit
in der Debatte um Filterblasen und Verschwörungstheorien. Schon ein kleiner Trick könnte helfen
INTERVIEW: JULIA WERTHMANN
Verschwörungsmythen, Filterblasen, Querdenkerei: Leben wir nicht mehr in einer gemeinsamen Wirklichkeit? Der 37-jährige Bremer Soziologe Nils Kumkar hat sich in seinem Buch „Alternative Fakten – Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung“ ein paar beliebte Vorurteile vorgeknöpft. Ein Gespräch.
SZ: Herr Kumkar, eine beliebte Zeitdiagnose besagt, dass die Gesellschaft in Filterblasen zerfällt. In Ihrem Buch äußern Sie Zweifel an diesem Befund. Warum?
Nils C. Kumkar: Weil er nicht stimmt. Weniger scharf formuliert: Am Ausgang des Projekts stand eine gewisse Verwunderung. Darüber, wie unterhinterfragt sich die apokalyptische Erzählung reproduziert, nach der wir nicht mehr in einer gemeinsamen Wirklichkeit leben. Dabei zeigen empirische Untersuchungen: Zwar sorgt sich ein großer Teil der Bevölkerung darum, dass alternative Fakten die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit schwerer machen. In denselben Umfragen geben aber nur wenige an, „alternativen Fakten“ schon einmal begegnet zu sein. Andere Umfragen zeigen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien in den vergangenen vier Dekaden nicht zugenommen hat.
Und die Filterblasen auf Social Media, gibt es die?
Jeder kennt die Metapher. Aber es kommt sehr darauf an, was man genau darunter versteht. Die Empirie zeigt: Menschen auf Social Media haben nicht weniger Kontakt zu anderen politischen Meinungen, sondern im Zweifelsfall sogar mehr.
Was hat es also auf sich mit der Rede von den „alternativen Fakten“?
Das Alltagsverständnis wäre ja folgendes: Das Problem mit „alternativen Fakten“ ist, dass sie jemand glaubt. Darum geht es aber nicht primär. Ich sehe mir stattdessen die Funktion der „alternativen Fakten“ in der konkreten Kommunikationssituation an. In vielen Fällen stellt man fest: „Alternative Fakten“ werden oft gar nicht mit dem Ziel verwendet, dass sie geglaubt werden, es sind gar keine Tatsachenbehauptungen im strengeren Sinne.
Sondern?
Sie sind eine Art überschießende Widerlegungen. Es gibt einen Sachverhalt, der ein Problem für Beteiligte der Kommunikation darstellt, deshalb bringen sie alles in Anschlag, was ihnen einfällt, um diesen Sachverhalt zu problematisieren.
Haben Sie ein Beispiel?
Legendär ist das Presse-Briefing zu Donald Trumps verhältnismäßig schlecht besuchter Amtseinführung. Sean Spicer, damaliger Pressesprecher des Weißen Hauses, behauptete: Die Feier war aus guten Gründen klein, es war schwer hinzukommen. Außerdem sah sie kleiner aus, als sie wirklich war. Und vor allem: Es war die größte Einführungsfeier überhaupt. Man merkte sofort: Das passt alles nicht wirklich zusammen. Es ging erkennbar nicht darum, eine Aussage darüber zu treffen, wie es in Wirklichkeit ist. Sondern darum, zu sagen: Wer etwas anderes behauptet, stellt auch nur eine Behauptung auf. Damit jedoch verschiebt sich der Fokus der Debatte. Vorher müssten wir darüber reden, was es heißt, so eine kleine Amtseinführungsfeier zu haben. Hat Trump so wenig Unterstützung in der Bevölkerung? Stattdessen dreht sich die gesamte folgende Debatte um „alternative Fakten“ und ihre Widerlegung.
Sie gehen also davon aus, dass es eine geteilte Wirklichkeit doch noch gibt?
Auf jeden Fall gibt es keinen Grund anzunehmen, dass es sie weniger gibt als früher. Eine geteilte Wirklichkeit ist natürlich eine komplexe Abstraktionsleistung. Alle haben unterschiedliche Perspektiven. Aber in dem pragmatischen Sinne, dass wir uns in unserem Handeln auf bestimmte geteilte Annahmen als Grundlage unseres gemeinsamen Handelns beziehen, ist das Problem nicht größer als früher.
Was halten sie vom journalistischen Genre „Faktencheck“ oder wissenschaftlichen Projekten der Faktenvermittlung?
Das ist eine total wichtige Arbeit. Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass es diese geteilte Wirklichkeit gibt. Sie muss hergestellt werden, indem man sich über sie verständigt. Und solche Projekte sind Arbeit an der gemeinsamen Wirklichkeit. Wenn es die nicht gäbe, hätten wir ein Problem. Mein Punkt ist jedoch, dass es eine Illusion wäre, zu denken, allein damit schon das Problem „alternativer Fakten“ zu lösen.
Also was tun?
Als Soziologe tue ich mir immer schwer mit Handlungsanweisungen. Aber ich glaube, wir brauchen alles: Faktenchecks und gute Wissenschaftskommunikation. Denn natürlich gibt es Menschen, die „alternative Fakten“ glauben. Aber vor allem brauchen wir den Mut, politische Konflikte dort, wo sie auftreten, als solche ernst zu nehmen. Denn alle „alternativen Fakten“ treten im Kontext aufgeheizter politischer Konflikte auf. Wir streiten eben nicht in erster Linie um die Wirklichkeit, sondern darum, wie wir mit ihr umgehen. Wir sollten uns nicht in eine epistemologische Debatte darüber verstricken, was wirklich ist. Sondern bei den Problemen bleiben.
Da könnte man jetzt aber doch eine Handlungsanleitung herauslesen.
Ja, aber die Aufgabe der Soziologie ist dabei eher, herauszuarbeiten, was das betreffende Problem ist. Bei der Leugnung des Klimawandels geht es beispielsweise darum, dass Menschen die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung ablehnen.
Wie kommt es zu dieser Verschiebung, wieso diskutieren wir über die Wahrhaftigkeit, statt Konflikte auszutragen?
Zentral ist: „Alternative Fakten“ sind beobachtbarer geworden. Die Generation unserer Großeltern hat am Stammtisch auch Dinge geredet, da hat es einem die Fußnägel hochgeklappt. Das ist aber unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit geflogen. Wenn die Leute es nun aber auf Twitter oder Facebook posten, sitzen die Massenmedien mit am Stammtisch. Wenn sie es dann abbilden, liest es die gesamte Öffentlichkeit und erschrickt, zu Recht, über sich selbst. Dafür muss sich aber die Menge solcher Behauptungen gar nicht verändert haben. Indem man hinguckt, wird es verstärkt zum Problem.
Ist also alles nur eine Frage der Wahrnehmung?
Nicht nur. Außerdem, so meine Vermutung, kommen „alternative Fakten“ stärker in Krisensituationen vor, deren Bewältigung große Nebenfolgen hat, die man offensichtlich nicht aussitzen kann, wie der Klimawandel. Herausforderungen, die auf diese Art als drängend wahrgenommen werden, haben in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen. Da kommt der Wunsch auf, sich kommunikativ mal eine Pause zu gönnen, die Problembearbeitung aufzuschieben. Und ein Weg das zu tun, ist eben die Problematisierung des Problems selbst: Gibt es schon Einigkeit darüber, wie drängend der Klimawandel ist?
Ein legitimer Wunsch, aber mit weitreichenden Folgen. Wie gehen wir gesellschaftlich jetzt damit um?
Wir müssen „alternative Fakten“ auch als Kommunikationsphänomene betrachten, statt uns auf die Faktenfrage zu versteifen. So, wie wir die Debatte zuletzt geführt haben, sollten wir uns keine Chance entgehen lassen, eine andere Brille aufzusetzen. Dann sehen wir vielleicht etwas, das wir vorher nicht gesehen haben. Und zwar, dass die Rede von der Krise der gemeinsamen Wirklichkeit als Diagnose selbst in das Problem verstrickt ist, das sie zu beschreiben versucht.
Nils C. Kumkar, geboren 1985, ist Soziologe und lehrt und forscht an der Universität Bremen über soziale Ungleichheit und politischen Protest.
Foto: Falk WeiSS/Suhrkamp
Sah sie wirklich nur kleiner aus, als sie wirklich war? Bild von der
Amtseinführung Donald Trumps am 20. Januar 2017. Foto: AP
Nils C. Kumkar:
Alternative Fakten.
Zur Praxis der
kommunikativen
Erkenntnisverweigerung. Suhrkamp Verlag,
Berklin 2022.
336 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»... in seinem Buch hat Nils Kumkar eine Schablone erarbeitet, mit der sich viele aktuelle Absurditäten auch in der etablierten Politik erklären lassen ... Eine Lektüre mit erheblichem Gebrauchswert.« Gerhard Klas neues deutschland 20230426