Frederick Bingo Mandeville kommt am 12. September 1880 im kleinen Städtchen Farnham, Surrey, zur Welt. Und bereits in den ersten Wochen wird unübersehbar, was ihn sein Leben lang auszeichnen wird: Bingo hat ein geradezu bestürzend unerschütterliches, heiteres Gemüt. Nichts bringt ihn aus der Ruhe, er lacht gerne und oft, und am liebsten schart er Zuhörer um sich, um sie mit selbst erdachten Possen zu unterhalten. Kaum verwunderlich, dass er später als gefeierter Autor heiterer Gesellschaftsromane zu Ansehen und Vermögen kommt. Doch der Zweite Weltkrieg reißt ihn aus der Behaglichkeit seiner Schreibstube an der französischen Atlantikküste, wo er sich mit seiner Frau Florence niedergelassen hat. Als „feindlicher Ausländer“ wird er in ein deutsches Lager interniert – doch auch dort vermag er seine Mitinsassen mit seinen Späßen aufzuheitern. Und merkt dabei gar nicht, wie die deutsche Propaganda ihn vor ihren Karren zu spannen weiß – denn wenn derart gute Stimmung herrscht, wie schlimm kann es dann schon sein?
Philipp Lyonel Russell erzählt von einem Mann, der stets gutgelaunt durchs Leben geht, der alles mit einem Scherz zu garnieren und mit Humor zu nehmen weiß – bis ihm genau das zum Verhängnis wird …
Philipp Lyonel Russell erzählt von einem Mann, der stets gutgelaunt durchs Leben geht, der alles mit einem Scherz zu garnieren und mit Humor zu nehmen weiß – bis ihm genau das zum Verhängnis wird …
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.04.2019Ein Werk sucht seinen Autor
Literatur und Recherche: Christoph Hein hat in diesem Frühjahr nicht nur Anekdoten veröffentlicht,
sondern auch einen Unterhaltungsroman übersetzt, dessen Original noch nicht erschienen ist
VON LOTHAR MÜLLER
Manchmal stieben helle, lustige Funken, wenn Literatur und Recherche aneinander rasseln. Und manchmal kommt dabei nur ein dumpfer, hohler Klang heraus, den man nicht lange im Ohr haben mag. Beginnen wir, um es möglichst rasch hinter uns zu bringen, mit dem dumpfen Klang. Er entstand im Echoraum um Christoph Heins Buch „Gegen-Lauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“. Ein Stück daraus war in dieser Zeitung vorabgedruckt. Es handelte davon, wie sich Hein mit dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck trifft, ihm Geschichten aus seinem Leben erzählt und dann enttäuscht von dem Film „Das Leben der Anderen“ ist.
Da rasselten zum ersten Mal Anekdote und Recherche aneinander. Hein, so fand ein eifriger Nachprüfer von der FAZ heraus, hatte den Zeitpunkt des Gesprächs falsch datiert und war überhaupt der irrigen Annahme zum Opfer gefallen, sein Leben sei Gegenstand des Films. Heins Unbehagen an der Darstellung der späten DDR im Film aber konnte die Recherche nicht aus den Angeln heben. Es blieb ein dumpfer Klang. Kaum war dann das Buch erschienen, rasselten Anekdote und Recherche schon wieder aneinander.
Diesmal fand die Dokumentationsabteilung des Spiegel, es könne nicht sein, was Hein behauptet: dass einer der Spiegel-Redakteure, die ihn im Jahre 1993 besucht, zuvor seine Stasi-Akten eingesehen und ihn mit dem Satz begrüßt hätte: „Herr, Hein, wir haben leider nichts gegen Sie in der Hand.“ Als einen „Schurken“ stellte Hein den nicht namentlich genannten Redakteur dar, „denn er hätte sich nicht für einen oder mehrere Tage in jenes Archiv gesetzt, wenn er nicht die niederträchtige Hoffnung gehabt hätte, dort Ehrenrühriges über mich und gegen mich zu finden“.
Die Dokumentationsabteilung des Spiegel hat ihren Ruhm unlängst gemehrt, indem sie zum Glanz der literarischen Anekdoten in den Reportagen des Autors Relotius das Ihre beitrug. Nun aber lief sie zu Hochform auf, um aus der kleinen Anekdote einen großen Skandal zu machen. Die Redakteure wurden mit ihren Klarnamen versehen, Persönlichkeitsrechte und Unterlassungsandrohungen wurden ins Spiel gebracht, rasch gab Hein zu, die Anekdote falsch datiert und durcheinandergebracht zu haben, wann welcher Redakteur wo arbeitete. Der Spiegel aber wurde nicht müde, immer wieder und immer weiter auf der Sache herumzureiten.
Irgendwo müssen Energien herumspuken, die partout so etwas wie eine Neuauflage des „deutsch-deutschen Literaturstreits“ um Christa Wolf herbeiwünschen. Daher der dumpfe Klang. Das kleine Büchlein von Christoph Hein trägt seinen Teil dazu bei. Sein Untertitel „Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“ hat einen Doppelsinn. Er meint zugleich den Kalten Krieg vor 1989/90 und die innerdeutschen Ost-West-Spannungen nach dem Mauerfall. Mehrfach rasselt bei Hein die Form der Anekdote mit den autobiografischen Impulsen des Erzählens zusammen. Die umständliche Rekonstruktion, warum – aus seiner Sicht – Hein 2005 nicht Intendant des Deutschen Theaters in Berlin wurde, ist keine Anekdote.
Ihr fehlt, was das Titelstück „Gegen-lauschangriff“ enthält. Hier steht wie in Kleists Anekdote, die der Untertitel zitiert, eine Figur der Tollkühnheit im Zentrum, der Schauspieler Manfred Krug, der 1976 nach der Biermann-Ausbürgerung das Treffen von Künstlern und Funktionären in seiner Wohnung mit einem Tonband aufnahm und cool genug war, zwischendurch in den Nebenraum zu gehen und die Bänder zu wechseln. Die Anekdote wurde schon oft erzählt, auch von Krug selbst. Hier krönt sie die Stücke zu Verrat, Repression, List und Witz in der DDR.
Jetzt aber schnell zu den hellen, lustigen Funken, die beim Zusammenrasseln von Anekdote und Recherche entstehen können. Anlass ist ein weiteres Frühjahrsbuch von Christoph Hein, seine Übersetzung des Romans „Am Ende ein Blick aufs Meer“ von Philipp Lyonel Russell. Schon bei flüchtiger Lektüre ist unübersehbar, dass hier im flotten Parlando eines Unterhaltungsromans das Leben des englischen Schriftstellers P. G. Wodehouse (1881-1975) frei nacherzählt wird, als Geschichte eines Autors, der das Paradies der Kindheit nie verließ. Wodehouse war ein in Europa wie in den USA gleichermaßen erfolgreicher Autor zahlloser humoristischer Romane. Er garantiert dafür, dass in diesem Buch die Anekdote allen Kriegen aus dem Weg geht, obwohl der Tiefpunkt seiner Karriere nicht ausgespart bleibt, die Radioansprachen, die er 1941 aus dem Rundfunkstudio des Deutschen Reiches an sein angelsächsisches Publikum hielt, ohne zu bedenken, dass die witzigen Schilderungen aus dem Lageralltag internierter Ausländer bei seinen Hörern als deutsche Propaganda – also schlecht – ankamen.
Wodehouse heißt bei Philipp Lyonel Russell allen Ernstes Frederick Bingo Mandeville. Dafür kann der Übersetzer nichts, wohl aber der Autor. Russell ist 1958 in der englischen Grafschaft Suffolk geboren und lehrt seit 1986 an Universitäten der Ostküster in den USA. Sein Name ist ein Pseudonym. Das hätte eigentlich den Recherche-Instinkt des Spiegel auf den Plan rufen müssen. Hat es aber nicht. Ob die auf Wahrheitsfragen fixierte Recherche eine literarische Form ist, die sich parodieren lässt, hat die Wissenschaft noch nicht geklärt. Aber versuchen kann man’s ja mal.
Der erste Befund ist eindeutig. Es gibt zur deutschen Übersetzung kein englisches oder amerikanisches Original. Die erste Nachfrage verläuft im Sande. Der Insel Verlag mag weder die Frage beantworten, wer ihm das Manuskript angeboten hat, noch, ob es sich um das Original oder die Übersetzung handelte. Schon gar nicht, mit wem der Buchvertrag geschlossen wurde und an wen die Autorenhonorare überwiesen werden.
Das ist einer dieser Punkte, an denen einen Reporter die Versuchung beschleicht, der stockenden Recherche durch eine gut geschriebene Anekdote aufzuhelfen. Ist aber nicht zu empfehlen. So bleibt nur die Anfrage beim Übersetzer. Ohne viel Hoffnung haben wir ihm, dem vom Spiegel als erinnerungsschwach enttarnten Autor Christoph Hein vier – nicht sehr knallharte – Fragen geschickt: Wird es eine englische Originalausgabe geben? Ist der in England geborene Autor inzwischen Amerikaner? Wie ist der Übersetzer an das Manuskript gekommen? Ist der Übersetzer womöglich identisch mit dem Autor?
Wer aber beschreibt unser Erstaunen angesichts der erinnerungsstarken Antwort von Christoph Hein? „So viel ich weiß, liegt die Originalausgabe bei Farrar, Straus and Giroux und wird dort möglicherweise unter seinem tatsächlichen Namen veröffentlicht. Welche Staatsbürgerschaft Russell hat, weiß ich nicht. Er ist Wissenschaftler und Autor und wohl auch noch ein Industrieller; letzteres vermute ich, da die Kanzlei Noll & Keider in Wien ihn in Europa wirtschaftlich vertritt. Diese Kanzlei wandte sich an mich. Ich übernahm den Auftrag (er wurde direkt vom Autor sehr gut honoriert). Ich weiß wenig über Russell, habe nur ein paar Vermutungen. Anfangs glaubte ich, es sei jemand aus dem Familienclan P. G. Wodehouse, aber dann kam ich auf eine andere Spur, die wohl stimmiger ist. Von Prof. Dr. Alfred Noll aus der Wiener Schellinggasse erfuhr ich nichts. Vielleicht haben Sie mehr Glück.“
Die Kanzlei Noll & Keider in Wien ist über jeden Faktencheck erhaben. Wir haben unser Glück versucht und Prof. Dr. Alfred Noll, Spezialist für Medien- und Urheberrecht, höchst produktiver Autor und zudem Abgeordneter im österreichischen Parlament, unsere Fragen geschickt, auch die Routinefrage: „Halten Sie es für möglich, dass Prof. Dr. Alfred Noll aus der Wiener Schellinggasse der Autor ist?“ Noll ist laut Kanzlei auf Reisen, eine Antwort steht noch aus. Die von Christoph Hein nicht. Er schrieb, „dass ich der eigentliche Autor sei, klingt schmeichelhaft“ – dementierte aber heftig und fügte hinzu: „Aber Dank für das Kompliment.“ Kurz, in diesem Fall behauptet die Anekdote gegenüber der Recherche vorerst auf vergnügliche Weise ihr Recht. Aber wir bleiben am Ball.
In flottem Parlando wird das
Leben des Schriftstellers
P. G. Wodehouse nacherzählt
„Ich übernahm den Auftrag
(er wurde direkt vom
Autor sehr gut honoriert)“
Christoph Hein: Gegenlauschangriff – Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 122 Seiten, 14 Euro.
Endlich selber Romanfigur: P. G. Wodehouse (links) 1971, vier Jahre vor seinem Tod. Den Roman „Am Ende ein Blick aufs Meer“ hat Christoph Hein (rechts) übersetzt. Aber wer ist der Autor „Philipp Lyonel Russell“? Zweckdienliche Hinweise bitte an die SZ-Literaturredaktion!
Fotos: Picture-Alliance (links) /Regina SchmekeN (Rechts)
Philipp Lyonel Russell: Am Ende ein Blick aufs Meer. Aus dem amerikanischen Englisch von Christoph Hein. Insel Verlag, Berlin 2019. 220 Seiten, 20 Euro.
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Literatur und Recherche: Christoph Hein hat in diesem Frühjahr nicht nur Anekdoten veröffentlicht,
sondern auch einen Unterhaltungsroman übersetzt, dessen Original noch nicht erschienen ist
VON LOTHAR MÜLLER
Manchmal stieben helle, lustige Funken, wenn Literatur und Recherche aneinander rasseln. Und manchmal kommt dabei nur ein dumpfer, hohler Klang heraus, den man nicht lange im Ohr haben mag. Beginnen wir, um es möglichst rasch hinter uns zu bringen, mit dem dumpfen Klang. Er entstand im Echoraum um Christoph Heins Buch „Gegen-Lauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“. Ein Stück daraus war in dieser Zeitung vorabgedruckt. Es handelte davon, wie sich Hein mit dem Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck trifft, ihm Geschichten aus seinem Leben erzählt und dann enttäuscht von dem Film „Das Leben der Anderen“ ist.
Da rasselten zum ersten Mal Anekdote und Recherche aneinander. Hein, so fand ein eifriger Nachprüfer von der FAZ heraus, hatte den Zeitpunkt des Gesprächs falsch datiert und war überhaupt der irrigen Annahme zum Opfer gefallen, sein Leben sei Gegenstand des Films. Heins Unbehagen an der Darstellung der späten DDR im Film aber konnte die Recherche nicht aus den Angeln heben. Es blieb ein dumpfer Klang. Kaum war dann das Buch erschienen, rasselten Anekdote und Recherche schon wieder aneinander.
Diesmal fand die Dokumentationsabteilung des Spiegel, es könne nicht sein, was Hein behauptet: dass einer der Spiegel-Redakteure, die ihn im Jahre 1993 besucht, zuvor seine Stasi-Akten eingesehen und ihn mit dem Satz begrüßt hätte: „Herr, Hein, wir haben leider nichts gegen Sie in der Hand.“ Als einen „Schurken“ stellte Hein den nicht namentlich genannten Redakteur dar, „denn er hätte sich nicht für einen oder mehrere Tage in jenes Archiv gesetzt, wenn er nicht die niederträchtige Hoffnung gehabt hätte, dort Ehrenrühriges über mich und gegen mich zu finden“.
Die Dokumentationsabteilung des Spiegel hat ihren Ruhm unlängst gemehrt, indem sie zum Glanz der literarischen Anekdoten in den Reportagen des Autors Relotius das Ihre beitrug. Nun aber lief sie zu Hochform auf, um aus der kleinen Anekdote einen großen Skandal zu machen. Die Redakteure wurden mit ihren Klarnamen versehen, Persönlichkeitsrechte und Unterlassungsandrohungen wurden ins Spiel gebracht, rasch gab Hein zu, die Anekdote falsch datiert und durcheinandergebracht zu haben, wann welcher Redakteur wo arbeitete. Der Spiegel aber wurde nicht müde, immer wieder und immer weiter auf der Sache herumzureiten.
Irgendwo müssen Energien herumspuken, die partout so etwas wie eine Neuauflage des „deutsch-deutschen Literaturstreits“ um Christa Wolf herbeiwünschen. Daher der dumpfe Klang. Das kleine Büchlein von Christoph Hein trägt seinen Teil dazu bei. Sein Untertitel „Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege“ hat einen Doppelsinn. Er meint zugleich den Kalten Krieg vor 1989/90 und die innerdeutschen Ost-West-Spannungen nach dem Mauerfall. Mehrfach rasselt bei Hein die Form der Anekdote mit den autobiografischen Impulsen des Erzählens zusammen. Die umständliche Rekonstruktion, warum – aus seiner Sicht – Hein 2005 nicht Intendant des Deutschen Theaters in Berlin wurde, ist keine Anekdote.
Ihr fehlt, was das Titelstück „Gegen-lauschangriff“ enthält. Hier steht wie in Kleists Anekdote, die der Untertitel zitiert, eine Figur der Tollkühnheit im Zentrum, der Schauspieler Manfred Krug, der 1976 nach der Biermann-Ausbürgerung das Treffen von Künstlern und Funktionären in seiner Wohnung mit einem Tonband aufnahm und cool genug war, zwischendurch in den Nebenraum zu gehen und die Bänder zu wechseln. Die Anekdote wurde schon oft erzählt, auch von Krug selbst. Hier krönt sie die Stücke zu Verrat, Repression, List und Witz in der DDR.
Jetzt aber schnell zu den hellen, lustigen Funken, die beim Zusammenrasseln von Anekdote und Recherche entstehen können. Anlass ist ein weiteres Frühjahrsbuch von Christoph Hein, seine Übersetzung des Romans „Am Ende ein Blick aufs Meer“ von Philipp Lyonel Russell. Schon bei flüchtiger Lektüre ist unübersehbar, dass hier im flotten Parlando eines Unterhaltungsromans das Leben des englischen Schriftstellers P. G. Wodehouse (1881-1975) frei nacherzählt wird, als Geschichte eines Autors, der das Paradies der Kindheit nie verließ. Wodehouse war ein in Europa wie in den USA gleichermaßen erfolgreicher Autor zahlloser humoristischer Romane. Er garantiert dafür, dass in diesem Buch die Anekdote allen Kriegen aus dem Weg geht, obwohl der Tiefpunkt seiner Karriere nicht ausgespart bleibt, die Radioansprachen, die er 1941 aus dem Rundfunkstudio des Deutschen Reiches an sein angelsächsisches Publikum hielt, ohne zu bedenken, dass die witzigen Schilderungen aus dem Lageralltag internierter Ausländer bei seinen Hörern als deutsche Propaganda – also schlecht – ankamen.
Wodehouse heißt bei Philipp Lyonel Russell allen Ernstes Frederick Bingo Mandeville. Dafür kann der Übersetzer nichts, wohl aber der Autor. Russell ist 1958 in der englischen Grafschaft Suffolk geboren und lehrt seit 1986 an Universitäten der Ostküster in den USA. Sein Name ist ein Pseudonym. Das hätte eigentlich den Recherche-Instinkt des Spiegel auf den Plan rufen müssen. Hat es aber nicht. Ob die auf Wahrheitsfragen fixierte Recherche eine literarische Form ist, die sich parodieren lässt, hat die Wissenschaft noch nicht geklärt. Aber versuchen kann man’s ja mal.
Der erste Befund ist eindeutig. Es gibt zur deutschen Übersetzung kein englisches oder amerikanisches Original. Die erste Nachfrage verläuft im Sande. Der Insel Verlag mag weder die Frage beantworten, wer ihm das Manuskript angeboten hat, noch, ob es sich um das Original oder die Übersetzung handelte. Schon gar nicht, mit wem der Buchvertrag geschlossen wurde und an wen die Autorenhonorare überwiesen werden.
Das ist einer dieser Punkte, an denen einen Reporter die Versuchung beschleicht, der stockenden Recherche durch eine gut geschriebene Anekdote aufzuhelfen. Ist aber nicht zu empfehlen. So bleibt nur die Anfrage beim Übersetzer. Ohne viel Hoffnung haben wir ihm, dem vom Spiegel als erinnerungsschwach enttarnten Autor Christoph Hein vier – nicht sehr knallharte – Fragen geschickt: Wird es eine englische Originalausgabe geben? Ist der in England geborene Autor inzwischen Amerikaner? Wie ist der Übersetzer an das Manuskript gekommen? Ist der Übersetzer womöglich identisch mit dem Autor?
Wer aber beschreibt unser Erstaunen angesichts der erinnerungsstarken Antwort von Christoph Hein? „So viel ich weiß, liegt die Originalausgabe bei Farrar, Straus and Giroux und wird dort möglicherweise unter seinem tatsächlichen Namen veröffentlicht. Welche Staatsbürgerschaft Russell hat, weiß ich nicht. Er ist Wissenschaftler und Autor und wohl auch noch ein Industrieller; letzteres vermute ich, da die Kanzlei Noll & Keider in Wien ihn in Europa wirtschaftlich vertritt. Diese Kanzlei wandte sich an mich. Ich übernahm den Auftrag (er wurde direkt vom Autor sehr gut honoriert). Ich weiß wenig über Russell, habe nur ein paar Vermutungen. Anfangs glaubte ich, es sei jemand aus dem Familienclan P. G. Wodehouse, aber dann kam ich auf eine andere Spur, die wohl stimmiger ist. Von Prof. Dr. Alfred Noll aus der Wiener Schellinggasse erfuhr ich nichts. Vielleicht haben Sie mehr Glück.“
Die Kanzlei Noll & Keider in Wien ist über jeden Faktencheck erhaben. Wir haben unser Glück versucht und Prof. Dr. Alfred Noll, Spezialist für Medien- und Urheberrecht, höchst produktiver Autor und zudem Abgeordneter im österreichischen Parlament, unsere Fragen geschickt, auch die Routinefrage: „Halten Sie es für möglich, dass Prof. Dr. Alfred Noll aus der Wiener Schellinggasse der Autor ist?“ Noll ist laut Kanzlei auf Reisen, eine Antwort steht noch aus. Die von Christoph Hein nicht. Er schrieb, „dass ich der eigentliche Autor sei, klingt schmeichelhaft“ – dementierte aber heftig und fügte hinzu: „Aber Dank für das Kompliment.“ Kurz, in diesem Fall behauptet die Anekdote gegenüber der Recherche vorerst auf vergnügliche Weise ihr Recht. Aber wir bleiben am Ball.
In flottem Parlando wird das
Leben des Schriftstellers
P. G. Wodehouse nacherzählt
„Ich übernahm den Auftrag
(er wurde direkt vom
Autor sehr gut honoriert)“
Christoph Hein: Gegenlauschangriff – Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 122 Seiten, 14 Euro.
Endlich selber Romanfigur: P. G. Wodehouse (links) 1971, vier Jahre vor seinem Tod. Den Roman „Am Ende ein Blick aufs Meer“ hat Christoph Hein (rechts) übersetzt. Aber wer ist der Autor „Philipp Lyonel Russell“? Zweckdienliche Hinweise bitte an die SZ-Literaturredaktion!
Fotos: Picture-Alliance (links) /Regina SchmekeN (Rechts)
Philipp Lyonel Russell: Am Ende ein Blick aufs Meer. Aus dem amerikanischen Englisch von Christoph Hein. Insel Verlag, Berlin 2019. 220 Seiten, 20 Euro.
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» ... temporeiche Lektüre mit tragischer Pointe.« BÜCHERmagazin 20190702