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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Angeregt von großen Philosophen und Künstlern: Hartmut Langes neue Novellensammlung
Wie kein anderer deutschsprachiger Schriftsteller der Gegenwart hat sich Hartmut Lange in seinem literarischen Werk der Novelle zugewandt. Seit den Achtzigerjahren veröffentlicht er in regelmäßigen Abständen Novellensammlungen. Die kleine Form hat es ihm angetan, beflügelt sein Schreiben und Denken. "Ich muss beim Schreiben unter Druck geraten. Und dies geschieht nur in der kleinen Form. Deshalb spüre ich auch nicht das geringste Verlangen, einen Roman zu schreiben. Das würde mich langweilen." Nicht zu Unrecht wird Lange schon seit Jahren von der Literaturkritik als der "Meister der modernen Novelle" gewürdigt.
Nun hat er im Alter von fünfundachtzig Jahren einen neuen Band vorgelegt, "Am Osloer Fjord oder der Fremde". Auf hundert Seiten erzählt er zehn Geschichten, die es in sich haben. Jede der Novellen hat einen eigenen Ton, vibriert in einem schwebenden Zustand. Jede seiner Novellen begnügt sich mit wenigen Seiten, kein Wort zu viel, und alle schillern zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Der Autor charakterisiert sich selbst als "positiven Nihilisten"; die Werke von Heidegger, Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche hat er als Anregung für sein Denken heißhungrig verschlungen.
Die Schauplätze variieren, mal auf einer norwegischen Insel, mal im Museum in Stockholm, mal in der Oper, dann im Nagelstudio oder vor dem Gemälde "Die Absinthtrinkerin" von Edgar Degas im Pariser Musée d'Orsay. Und immer wieder tauchen Berliner Orte auf in der Geburtsstadt von Hartmut Lange: der Tiergarten oder Charlottenburg. Die Begebenheiten, die er erzählt, sind nicht unerhört, sie sind unheimlich und verharren in ungelösten Rätseln, der Leser muss sich selbst seinen Reim darauf machen. Leerstellen fordern heraus, das Ungeschriebene mit eigener Phantasie zu füllen.
Ursprünglich kommt der Schriftsteller vom Theater. Aufgewachsen in der DDR und ohne Schulabschluss, verdingte er sich am Deutschen Theater in Ostberlin, wo er als Dramaturg, Regisseur und auch Dramatiker arbeitete. Peter Hacks und Heiner Müller waren sein vertrauter Umkreis. Obwohl er sich als Sozialist verstand, behagte ihm der Arbeiter-und-Bauern-Staat nicht, deshalb verließ er die DDR 1965 auf einer Reise nach Jugoslawien und siedelte sich in der Bundesrepublik an. Wiederum war das Theater seine Heimat, seine Stücke fanden mehr oder weniger Anklang beim Publikum. Eine neue Leidenschaft bemächtigte sich langsam seines Schaffens, "die kleine Form". Hier hatte er eine Spielwiese gefunden, auf der er auch seine Talente als Dramatiker virtuos in Szene setzen konnte.
Meist sind es Alltagsgeschichten, die plötzlich an einem unvorhersehbaren Punkt kippen und ins Surreale rutschen. Nur zu Beginn seiner neuen Novellensammlung gibt der Autor eine zeitliche Orientierung: "Es war wieder einmal so weit. Die Welt war, wie man so sagt, aus den Fugen. Seit Jahren beherrschte ein Virus, das sogenannte COVID-19, das zivilisierte Leben, und außerdem bestand die Möglichkeit, dass ein Asteroid sich der Erde näherte, um sie zu zerstören. Einer solchen Stimmung konnte man sich, wie ich meinte, nicht entziehen."
Zunächst beginnt der Osloer Inselaufenthalt des Ich-Erzählers arglos, doch dann entdeckt er eine schemenhafte Person, die noch dazu in Manier des achtzehnten Jahrhunderts kostümiert ist. Sie kommen ins Gespräch, der Fremde klärt ihn auf, der Untergang, den der Inselbesucher befürchtet, sei längst im Gange, seit der Französischen Revolution, seiner Zeit, als er die Guillotine bediente. Der Henker gesteht: "Zugegeben, sie ist ineffektiv und altmodisch, aber immer noch eine poetische Form, dem Untergang Geltung zu verschaffen." Der Erzähler will horrifiziert die Insel verlassen, aber da taucht auf dem Flughafen schon wieder der Fremde auf mitsamt seiner veritablen Guillotine. "Und wer hier zu liegen kam, konnte für Augenblicke das Fallbeil sehen, das ihn zerstückeln sollte. Ein Klicken, ein Aufschrei, ein zitterndes Geräusch, dann waren Rumpf und Kopf voneinander getrennt." Ende der Novelle.
Weniger blutrünstig geht es in der Berliner Bleibtreustraße zu. Der Schriftsteller Detlev von Rosen bezieht eine Wohnung und sieht am Fenster im Haus gegenüber geheimnisvolle Schatten sich bewegen. Er glaubt, es sei seine ehemalige Frau. Er zieht Erkundigungen ein und erfährt, die Wohnung ist schon lange nicht mehr belegt. Wer spinnt hier? Von Rosen weiß keinen Rat. Es endet unspektakulär, der Dichter greift zu seinem Notebook.
Schemen, Fremde, Unbekannte bevölkern fast alle Geschichten von Hartmut Lange, sie verrücken die Realität, machen das Wahrscheinliche unwahrscheinlich oder umgekehrt. Ein Mann namens Joachim Keller will zur Eröffnung des Munch-Museums in Oslo. Er verirrt sich und sieht auf einer Brücke eine unbekannte Gestalt im Nebel, die sich den zum Schrei aufgerissenen Mund zuhält, wie bei Edvard Munch ein "Sinnbild für Angst, Furcht, Zittern und die Krankheit zum Tode". Außerdem begegnet ihm in historischem Gewand die Verlobte Kierkegaards. Und plötzlich ist der Spuk vorüber. "Nun war er allein. Ein kalter Wind kam auf, und da war niemand mehr, mit dem er hätte reden können. Eines aber wusste er sicher. Er würde nicht ins Museum zurückkehren."
Die Protagonisten der Geschichte sind verschrobene, kauzige Männer, manchmal nicht weniger unheimlich als ihre geheimnisvollen Gegenüber-Figuren. Damit erzeugt Hartmut Lange eine spannungsgeladene Atmosphäre, die dem Leser den Atem verschlägt und ihn selbst an der Realität zweifeln lässt. Genial. LERKE VON SAALFELD
Hartmut Lange:
"Am Osloer Fjord oder der Fremde".
Diogenes Verlag,
Zürich 2022. 112 S., geb., 22, - Euro.
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