Im großen Berliner Zimmer beginnt die Freundschaft von Andrej und Simon. Dort ritzen sie ihre Initialen ins Holz der Fensterbank und von dort aus begeben sie sich auf den langen Streifzug durch die Straßen ihres Viertels. Während Berlin-Mitte durch den Elan der herbeiströmenden Alteigentümer, Unternehmerinnen, DJs und DJanes, Kunst- und Abenteuerlustigen zu neuem Leben erwacht, gleiten die Kinder auf den Wegen ihrer Jugend an den Rand des Geschehens. Durch verwinkelte Hinterhöfe und den chaotischen Leerstand, in die Sackgasse der Kleinen Hamburger Straße, wo sie den Anfang und das Ende der Besetzung der Nr. 5 beobachten, bis auf die Dächer, auf denen sie fern der Welt ganze Nachmittage verbringen. Als die alten Häuser hinter neuen Fassaden und die Flachdächer unter den Dachterrassen der neuen Bewohner mehr und mehr zu verschwinden beginnen, geraten sie auf immer bedrohlichere Abwege. In seinem Romandebüt verwebt Lorenz Just das Aufwachsen seiner Figuren mit der rasanten Veränderung, die aus dem Berlin-Mitte der Wende das Berlin-Mitte der Nullerjahre werden ließ. Fernab gefestigter Geschichtsbilder vom wilden Berlin und den Träumen der Selbstverwirklicher erzählt er von jener fragilen Freiheit, die in den Neunzigern eine ganze Generation geprägt hat.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Oliver Jungen empfiehlt wärmstens den Roman von Lorenz Just. Just führt ihn zurück ins Berlin-Mitte kurz vor der Jahrtausendwende, in eine vertrödelte, verkiffte, aber nicht unglückliche Jugend. Der Autor kennt diese Zeit und das Milieu, versichert Jungen. Daher entsteht das glaubwürdige Bild eines Sommers der Anarchie, bevor die Juppies übernehmen, meint er. Stimmig sind für Jungen nicht nur Orte und Charaktere, sondern auch die Perspektive, die kindlich, aber mitunter auch "ausgereift" ist und die prinzipielle Handlungsarmut der Geschichte mit essayistischen Gedanken auflädt, etwa zu Basketball als identitätsstiftendem Moment. Ein "Anton Reiser" der Wendejahre, der die bloße Nostalgie transzendiert, freut sich der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.07.2020Träumen, ohne zu schlafen
„Am Rand der Dächer“: Lorenz Just erzählt von der anarchischen Kindheit im Berlin der Nachwendezeit
Im Jahr 1993 erschien Wolfgang Hilbigs Roman „Ich“, in dem die Hauptfigur M. wie ein lichtscheues Tier durch geheime Verbindungsgänge im Berliner Untergrund stromert und die Stadt und den Staat aus einer bislang unbekannten Perspektive betrachtet. Lorenz Just, 1983 in Halle an der Saale geboren und 1988 mit seinen Eltern nach Ost-Berlin gezogen, hat einen völlig anderen Zugriff auf die Stadt als Wolfgang Hilbig, und doch scheint Just sich in ein literarhistorisches Kontinuum eingeschrieben zu haben: Seine Protagonisten sind nicht, wie Hilbigs Hauptfigur, im Dienst der Stasi unterwegs. Die gibt es nicht mehr zu jenem Zeitpunkt, zu dem Justs Romanhandlung einsetzt. Als Spitzel betätigen sich aber auch der Ich-Erzähler Andrej und sein bester Freund Simon, wenn auch in anderer Mission und mit dem entlarvenden Blick der Heranwachsenden. Simon und Andrej betrachten die Stadt im Wesentlichen von oben, von den Dächern und Baugerüsten herab, registrieren die Veränderungen, genießen das Freiheitsgefühl einer kurzen Epoche ohne feste Strukturen.
„Am Rand der Dächer“ weist erstaunliche zeitliche und geografische Überschneidungen mit Lutz Seilers Roman „Stern 111“ auf, der im Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde: Linienstraße, Oranienburger, Kleine Hamburger Straße
— das sind die Koordinaten, zwischen denen Andrej und Simon, die zu Beginn um die acht Jahre alt, also in etwa im Alter des Autors selbst sein dürften, sich bewegen. Frappierenderweise erscheint Justs Erzähluniversum als eine Parallelwelt zu Seilers ambitionierter Künstlerwerdungsgeschichte. Beide Romane eint allerdings, dass sie ausgesprochen unterhaltsam und lesenswert sind. Das hat in „Am Rand der Dächer“ vor allem damit zu tun, dass es keine Erwachsenenperspektive gibt und Just in seiner kalkuliert erratischen Plotführung kindlichen und später jugendlichen Entscheidungsmustern und Denkstrukturen folgt. Nicht alles wirkt logisch und wohl überlegt, aber abenteuerlich ist das Leben allemal.
Erwachsenensorgen im Hinblick auf die soziale und ökonomische Orientierung in einem neu geschaffenen Land existieren nicht im Bewusstseinsraum von Justs Protagonisten. Der Ausgangszustand ist die Anarchie, die nach und nach in die westliche Ordnung überführt wird: Vom Abbruchbau zum Paradequartier urbaner Bürgerlichkeit. Berlin Mitte wird von Just als wildes Land inszeniert, mit brüchigen Plattenbauten auf der Linienstraße und besetzten Häusern voller kurioser Individualisten. „In der Deckung der Kindheit, im Schatten der Welt“, wie es einmal heißt, erkunden Simon und Andrej, mal in Begleitung von Freunden, aber meistens zu zweit, die Transformationsprozesse der Wendezeit – und werden dabei zu Einbrechern. Nichts reizt sie mehr als die neu geschaffenen, seelenlosen Wohnungen in jenen Häusern, die hinter Baugerüsten und Planen verschwunden waren und danach wie von Zauberhand als Symbole der gewendeten Epoche zum Vorschein kommen.
Architektonisch gewitzte Innenhofkonstruktionen oder mit Panzerglas gesicherte Luxusappartements, beide von oben, von den Dächern herab ausgespäht, üben auf Andrej und Simon einen unwiderstehlichen Reiz aus. Sicher, Wertgegenstände nehmen sie auch mit, um sie zu verstecken, doch darum geht es den beiden Freunden nicht in erster Linie; ihr Motor ist eine Neugier auf die neuen Verhältnisse, die sich durchaus als eine exzentrische Variante der Identitätsbildung lesen lässt.
Bildungsversuche der klassischen Art prallen an Justs Protagonisten ab: Die Schule ruft bei ihnen bloßes Unverständnis hervor; Lehrer erscheinen als Gespenster der alten Zeit, jämmerlich verschanzt hinter ihren Schreibtischen. Andrejs Lehrjahren hat Just zum einen in Person seiner Mitschülerin Annika ein Sehnsuchtsziel vor Augen gesetzt. Vor allem aber arbeitet sich die jugendliche Projektionsmaschine an den Freiheitsversprechen des ehemaligen Klassenfeindes ab: Amerika wird, zum Entsetzen der Eltern, zu einem popkulturellen Leitbild, das mit der Realität kaum in Einklang zu bringen sein dürfte. Am Ende des Romans, es ist das Jahr 2000, sitzt Andrej im Flugzeug, um ein Austauschjahr in den USA zu verbringen. Die aufregende Epoche der Illusionen ist vorbei.
Schon in seinem Debüt „Der böse Mensch“, einer 2017 erschienenen Sammlung von lose verklammerten Erzählungen, hat Lorenz Just sein großes Talent unter Beweis gestellt. „Am Rand der Dächer“ ist ein zwar hin und wieder in seiner Handlungsführung etwas ausfransender Roman, der aber ohne Verklärung die Gestimmtheit einer Dekade im Zwischenraum zweier Staaten auf ungewöhnliche Weise und sprachlich originell einfängt. „Auf den Dächern konnte ich träumen, ohne zu schlafen“, so sagt es Andrej einmal rückblickend. Es ist ein Gewinn, an diesen Träumen teilzuhaben.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Lorenz Just: Am Rand der Dächer. Roman. Dumont-Verlag, Köln 2020. 272 Seiten, 22 Euro.
Nach und nach wird die
Anarchie in die westliche
Ordnung überführt
Letzte Spuren des Umbruchs in Berlin-Mitte, 2016.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Am Rand der Dächer“: Lorenz Just erzählt von der anarchischen Kindheit im Berlin der Nachwendezeit
Im Jahr 1993 erschien Wolfgang Hilbigs Roman „Ich“, in dem die Hauptfigur M. wie ein lichtscheues Tier durch geheime Verbindungsgänge im Berliner Untergrund stromert und die Stadt und den Staat aus einer bislang unbekannten Perspektive betrachtet. Lorenz Just, 1983 in Halle an der Saale geboren und 1988 mit seinen Eltern nach Ost-Berlin gezogen, hat einen völlig anderen Zugriff auf die Stadt als Wolfgang Hilbig, und doch scheint Just sich in ein literarhistorisches Kontinuum eingeschrieben zu haben: Seine Protagonisten sind nicht, wie Hilbigs Hauptfigur, im Dienst der Stasi unterwegs. Die gibt es nicht mehr zu jenem Zeitpunkt, zu dem Justs Romanhandlung einsetzt. Als Spitzel betätigen sich aber auch der Ich-Erzähler Andrej und sein bester Freund Simon, wenn auch in anderer Mission und mit dem entlarvenden Blick der Heranwachsenden. Simon und Andrej betrachten die Stadt im Wesentlichen von oben, von den Dächern und Baugerüsten herab, registrieren die Veränderungen, genießen das Freiheitsgefühl einer kurzen Epoche ohne feste Strukturen.
„Am Rand der Dächer“ weist erstaunliche zeitliche und geografische Überschneidungen mit Lutz Seilers Roman „Stern 111“ auf, der im Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde: Linienstraße, Oranienburger, Kleine Hamburger Straße
— das sind die Koordinaten, zwischen denen Andrej und Simon, die zu Beginn um die acht Jahre alt, also in etwa im Alter des Autors selbst sein dürften, sich bewegen. Frappierenderweise erscheint Justs Erzähluniversum als eine Parallelwelt zu Seilers ambitionierter Künstlerwerdungsgeschichte. Beide Romane eint allerdings, dass sie ausgesprochen unterhaltsam und lesenswert sind. Das hat in „Am Rand der Dächer“ vor allem damit zu tun, dass es keine Erwachsenenperspektive gibt und Just in seiner kalkuliert erratischen Plotführung kindlichen und später jugendlichen Entscheidungsmustern und Denkstrukturen folgt. Nicht alles wirkt logisch und wohl überlegt, aber abenteuerlich ist das Leben allemal.
Erwachsenensorgen im Hinblick auf die soziale und ökonomische Orientierung in einem neu geschaffenen Land existieren nicht im Bewusstseinsraum von Justs Protagonisten. Der Ausgangszustand ist die Anarchie, die nach und nach in die westliche Ordnung überführt wird: Vom Abbruchbau zum Paradequartier urbaner Bürgerlichkeit. Berlin Mitte wird von Just als wildes Land inszeniert, mit brüchigen Plattenbauten auf der Linienstraße und besetzten Häusern voller kurioser Individualisten. „In der Deckung der Kindheit, im Schatten der Welt“, wie es einmal heißt, erkunden Simon und Andrej, mal in Begleitung von Freunden, aber meistens zu zweit, die Transformationsprozesse der Wendezeit – und werden dabei zu Einbrechern. Nichts reizt sie mehr als die neu geschaffenen, seelenlosen Wohnungen in jenen Häusern, die hinter Baugerüsten und Planen verschwunden waren und danach wie von Zauberhand als Symbole der gewendeten Epoche zum Vorschein kommen.
Architektonisch gewitzte Innenhofkonstruktionen oder mit Panzerglas gesicherte Luxusappartements, beide von oben, von den Dächern herab ausgespäht, üben auf Andrej und Simon einen unwiderstehlichen Reiz aus. Sicher, Wertgegenstände nehmen sie auch mit, um sie zu verstecken, doch darum geht es den beiden Freunden nicht in erster Linie; ihr Motor ist eine Neugier auf die neuen Verhältnisse, die sich durchaus als eine exzentrische Variante der Identitätsbildung lesen lässt.
Bildungsversuche der klassischen Art prallen an Justs Protagonisten ab: Die Schule ruft bei ihnen bloßes Unverständnis hervor; Lehrer erscheinen als Gespenster der alten Zeit, jämmerlich verschanzt hinter ihren Schreibtischen. Andrejs Lehrjahren hat Just zum einen in Person seiner Mitschülerin Annika ein Sehnsuchtsziel vor Augen gesetzt. Vor allem aber arbeitet sich die jugendliche Projektionsmaschine an den Freiheitsversprechen des ehemaligen Klassenfeindes ab: Amerika wird, zum Entsetzen der Eltern, zu einem popkulturellen Leitbild, das mit der Realität kaum in Einklang zu bringen sein dürfte. Am Ende des Romans, es ist das Jahr 2000, sitzt Andrej im Flugzeug, um ein Austauschjahr in den USA zu verbringen. Die aufregende Epoche der Illusionen ist vorbei.
Schon in seinem Debüt „Der böse Mensch“, einer 2017 erschienenen Sammlung von lose verklammerten Erzählungen, hat Lorenz Just sein großes Talent unter Beweis gestellt. „Am Rand der Dächer“ ist ein zwar hin und wieder in seiner Handlungsführung etwas ausfransender Roman, der aber ohne Verklärung die Gestimmtheit einer Dekade im Zwischenraum zweier Staaten auf ungewöhnliche Weise und sprachlich originell einfängt. „Auf den Dächern konnte ich träumen, ohne zu schlafen“, so sagt es Andrej einmal rückblickend. Es ist ein Gewinn, an diesen Träumen teilzuhaben.
CHRISTOPH SCHRÖDER
Lorenz Just: Am Rand der Dächer. Roman. Dumont-Verlag, Köln 2020. 272 Seiten, 22 Euro.
Nach und nach wird die
Anarchie in die westliche
Ordnung überführt
Letzte Spuren des Umbruchs in Berlin-Mitte, 2016.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2020Dialektik der Freiheit
Bei Lorenz Just stehen die wilden Berliner neunziger Jahre nicht für gelebte Utopie, sondern für die Verlorenheit einer ganzen Generation.
Der kategorischste aller Imperative - Verschwende deine Jugend! - ist wohl einfach hormonell bedingt und gilt folglich universell. Versumpfen kann man in zugequarzten Hinterhöfen genauso gut wie bei Tiktok oder Instagram. Und doch gibt es Generationsunterschiede. Wer als Kind die magisch wirkende Jahrtausendwende noch vor sich hatte, das Weltende qua Systemabsturz, wie tatsächlich kurz geglaubt wurde, der durfte sich in seiner träge die Tage weggammelnden Verlorenheit auch noch kosmologisch bekräftigt fühlen. Und kaum ein Ort war für eine ziellos verschleppte Jugend wohl besser geeignet als das für wenige Jahre anarchische Nachwende-Ost-Berlin, auch wenn im Verborgenen bereits die Spekulanten wüteten. Von vogelfreien Kindertagen in den Ruinen einer zerstobenen DDR-Urbanität handelt die mutmaßlich stark autobiographisch inspirierte Erzählung des im Jahr 1983 in Halle an der Saale geborenen, 1988 nach Ost-Berlin gezogenen Autors Lorenz Just.
Unter den inzwischen doch sehr vielen Jugendverschwende-Texten ragt Justs Roman aufgrund seiner stilistischen Versiertheit hervor. Die dichte, bildstarke, nüchterne Sprache bringt uns die Emotionen der Charaktere ohne alle Sentimentalität nahe. "Am Rand der Dächer" heißt das Buch, weil in den Neunzigern die Berliner Oberwelt entdeckt wurde. Auch der Ich-Erzähler Andrej und sein bester Freund Simon verträumen viel leere Zeit auf löchriger Teerpappe, einzig den bestirnten Himmel über sich. Der zu den Flachdächern aufsteigende Straßenlärm erinnert die beiden an Meeresrauschen; zwei Schiffbrüchige auf einer kuriosen Insel. Wenn sich diese Protagonisten überhaupt zu etwas aufraffen, dann handelt es sich um Abhängen auf den einschlägigen Plätzen, Kiffen hinter dem Tacheles, lässige Basketballwürfe auf stählerne Kettenkörbe. Ladendiebstähle kommen bald hinzu, dann kurzzeitig erregende, aber im Grunde langweilige Einbrüche, vornehmlich in Luxuswohnungen von Neureichen, in die sich wunderbar über die Dächer einsteigen lässt. Die erste Liebe ist eine wuchtige Erfahrung für Andrej, die ihn aber trotzdem nicht ganz zu erden vermag, denn auch seine Gefährtin Annika sehnt sich danach, aus allem auszubrechen. Ein Austauschjahr in Amerika steht am Horizont. Es wird den langen Sommer der Anarchie beenden.
Das Verplauderte und Mäandernde des Romans wirkt stimmig, gerade weil es die programmatische Handlungsarmut noch einmal unterstreicht. Im Heraufbeschwören der eigentümlichen, heute kaum noch vorstellbaren Prärie-Atmosphäre des von Leerstand, vermüllten Höfen und überwucherten Brachen geprägten Kiezes Berlin-Mitte ist Just besonders patent. Bei aller Endzeitstimmung wird nämlich zugleich deutlich, dass die Stadt aus Kinderperspektive ein Abenteuerspielplatz war, ein aus der Zeit gefallenes Habitat, durch das Tag für Tag dieselben Kontrollgänge unternommen wurden: "In der Deckung der Kindheit, im Schatten der Welt, im trüben Meer des Alltags spazierten wir die Große Hamburger hinauf." Ein narrativer Exkurs behandelt das Auftauchen linker Hausbesetzer, die den eingesessenen Ost-Berlinern wie Marsmenschen vorkommen. Auf die Ostler blicken sie mit mildem Erstaunen: "Wir waren Natur, gehörten zu diesen Häusern wie die Tauben und Ratten." Die Beobachtung, wie sich das Gründerzeit-Eckhaus in der Kleinen Hamburger Straße 5 in eine knallbunte Ansammlung von Künstlerateliers verwandelte, ist von fast schon lokalgeschichtlicher Genauigkeit.
Der Autor klebt dabei nicht an der kindlichen Sichtweise, sondern lässt ausgereifte Überlegungen einfließen, die dem Buch etwas schwebend Essayistisches verleihen. So wird beispielsweise die popkulturelle Aufladung von Basketball in diesen Jahren analysiert. Um identitätsstiftend zu wirken, habe dieser Sport erst Streetball werden müssen, weil darüber die Regelwächter keine Macht hatten: "Die Sportvereine waren vielmehr eine feindliche Gegenkraft." So ist im Sport nachvollzogen, was politisch und sozial geschehen war: eine Befreiung hinein in die Regellosigkeit, in der eine neue Identität erst gefunden werden musste. Auf solche Weise kehrt die Erzählung immer wieder zu ihren jugendlichen Protagonisten zurück, denn in erster Linie ist "Am Rand der Dächer" ein psychologischer Entwicklungsroman, ein "Anton Reiser" der Stunde-null-Wendejahre, der in liebevoller Kleinarbeit rekonstruiert, wie sich die Kinder einer ideologisch obdachlos gewordenen Gesellschaft verzweifelt an die Illusion der großen amerikanischen Freiheit klammern, um nicht allen Halt zu verlieren: "Unser Amerika, dem wir mit Basketball, zu groß gekaufter Kleidung und Musik näher zu kommen versuchten, war eher der Modus, den wir uns erwählt hatten, um wir selbst zu bleiben, also Andrej, Simon und Annika und wer sonst noch dazu gehörte: widerständig, eigensinnig, verspielt."
Zu bleiben, was man ist, ist freilich das Gegenteil von Erwachsenwerden. Das ist die tragische Dimension der naiven Freiheitsillusion: Nicht nur das Bildungsangebot der Schule prallt an den Protagonisten ab, auch sonst bringen sie für kaum etwas ein gesteigertes Interesse auf und finden sich ab mit einer Existenz am Rande der Kleinkriminalität. Da ist eine Selbstungewissheit, die weit über die übliche pubertäre Verwirrung und Verweigerung hinausgeht. Dass Just im Rückblick nichts schönt und doch Sympathie für seine gebrochenen, tapsigen Charaktere weckt, hebt diesen Roman wohltuend von Erinnerungsbüchern ab, die lediglich nostalgisch in Zeitkolorit baden. Die Jahrtausendwende wird für Andrej zum Augenöffner, dass man - allen Regeln entglitten - gewissermaßen auf Pump gelebt hat: "Wir hatten die Frucht gekostet, bevor der Baum gewachsen war, und würden nun die eigentliche Arbeit nachholen müssen." Das ist eine bittere Einsicht, aber zugleich ein Anfang.
OLIVER JUNGEN
Lorenz Just: "Am Rand der Dächer". Roman.
Dumont Buchverlag, Köln 2020. 272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bei Lorenz Just stehen die wilden Berliner neunziger Jahre nicht für gelebte Utopie, sondern für die Verlorenheit einer ganzen Generation.
Der kategorischste aller Imperative - Verschwende deine Jugend! - ist wohl einfach hormonell bedingt und gilt folglich universell. Versumpfen kann man in zugequarzten Hinterhöfen genauso gut wie bei Tiktok oder Instagram. Und doch gibt es Generationsunterschiede. Wer als Kind die magisch wirkende Jahrtausendwende noch vor sich hatte, das Weltende qua Systemabsturz, wie tatsächlich kurz geglaubt wurde, der durfte sich in seiner träge die Tage weggammelnden Verlorenheit auch noch kosmologisch bekräftigt fühlen. Und kaum ein Ort war für eine ziellos verschleppte Jugend wohl besser geeignet als das für wenige Jahre anarchische Nachwende-Ost-Berlin, auch wenn im Verborgenen bereits die Spekulanten wüteten. Von vogelfreien Kindertagen in den Ruinen einer zerstobenen DDR-Urbanität handelt die mutmaßlich stark autobiographisch inspirierte Erzählung des im Jahr 1983 in Halle an der Saale geborenen, 1988 nach Ost-Berlin gezogenen Autors Lorenz Just.
Unter den inzwischen doch sehr vielen Jugendverschwende-Texten ragt Justs Roman aufgrund seiner stilistischen Versiertheit hervor. Die dichte, bildstarke, nüchterne Sprache bringt uns die Emotionen der Charaktere ohne alle Sentimentalität nahe. "Am Rand der Dächer" heißt das Buch, weil in den Neunzigern die Berliner Oberwelt entdeckt wurde. Auch der Ich-Erzähler Andrej und sein bester Freund Simon verträumen viel leere Zeit auf löchriger Teerpappe, einzig den bestirnten Himmel über sich. Der zu den Flachdächern aufsteigende Straßenlärm erinnert die beiden an Meeresrauschen; zwei Schiffbrüchige auf einer kuriosen Insel. Wenn sich diese Protagonisten überhaupt zu etwas aufraffen, dann handelt es sich um Abhängen auf den einschlägigen Plätzen, Kiffen hinter dem Tacheles, lässige Basketballwürfe auf stählerne Kettenkörbe. Ladendiebstähle kommen bald hinzu, dann kurzzeitig erregende, aber im Grunde langweilige Einbrüche, vornehmlich in Luxuswohnungen von Neureichen, in die sich wunderbar über die Dächer einsteigen lässt. Die erste Liebe ist eine wuchtige Erfahrung für Andrej, die ihn aber trotzdem nicht ganz zu erden vermag, denn auch seine Gefährtin Annika sehnt sich danach, aus allem auszubrechen. Ein Austauschjahr in Amerika steht am Horizont. Es wird den langen Sommer der Anarchie beenden.
Das Verplauderte und Mäandernde des Romans wirkt stimmig, gerade weil es die programmatische Handlungsarmut noch einmal unterstreicht. Im Heraufbeschwören der eigentümlichen, heute kaum noch vorstellbaren Prärie-Atmosphäre des von Leerstand, vermüllten Höfen und überwucherten Brachen geprägten Kiezes Berlin-Mitte ist Just besonders patent. Bei aller Endzeitstimmung wird nämlich zugleich deutlich, dass die Stadt aus Kinderperspektive ein Abenteuerspielplatz war, ein aus der Zeit gefallenes Habitat, durch das Tag für Tag dieselben Kontrollgänge unternommen wurden: "In der Deckung der Kindheit, im Schatten der Welt, im trüben Meer des Alltags spazierten wir die Große Hamburger hinauf." Ein narrativer Exkurs behandelt das Auftauchen linker Hausbesetzer, die den eingesessenen Ost-Berlinern wie Marsmenschen vorkommen. Auf die Ostler blicken sie mit mildem Erstaunen: "Wir waren Natur, gehörten zu diesen Häusern wie die Tauben und Ratten." Die Beobachtung, wie sich das Gründerzeit-Eckhaus in der Kleinen Hamburger Straße 5 in eine knallbunte Ansammlung von Künstlerateliers verwandelte, ist von fast schon lokalgeschichtlicher Genauigkeit.
Der Autor klebt dabei nicht an der kindlichen Sichtweise, sondern lässt ausgereifte Überlegungen einfließen, die dem Buch etwas schwebend Essayistisches verleihen. So wird beispielsweise die popkulturelle Aufladung von Basketball in diesen Jahren analysiert. Um identitätsstiftend zu wirken, habe dieser Sport erst Streetball werden müssen, weil darüber die Regelwächter keine Macht hatten: "Die Sportvereine waren vielmehr eine feindliche Gegenkraft." So ist im Sport nachvollzogen, was politisch und sozial geschehen war: eine Befreiung hinein in die Regellosigkeit, in der eine neue Identität erst gefunden werden musste. Auf solche Weise kehrt die Erzählung immer wieder zu ihren jugendlichen Protagonisten zurück, denn in erster Linie ist "Am Rand der Dächer" ein psychologischer Entwicklungsroman, ein "Anton Reiser" der Stunde-null-Wendejahre, der in liebevoller Kleinarbeit rekonstruiert, wie sich die Kinder einer ideologisch obdachlos gewordenen Gesellschaft verzweifelt an die Illusion der großen amerikanischen Freiheit klammern, um nicht allen Halt zu verlieren: "Unser Amerika, dem wir mit Basketball, zu groß gekaufter Kleidung und Musik näher zu kommen versuchten, war eher der Modus, den wir uns erwählt hatten, um wir selbst zu bleiben, also Andrej, Simon und Annika und wer sonst noch dazu gehörte: widerständig, eigensinnig, verspielt."
Zu bleiben, was man ist, ist freilich das Gegenteil von Erwachsenwerden. Das ist die tragische Dimension der naiven Freiheitsillusion: Nicht nur das Bildungsangebot der Schule prallt an den Protagonisten ab, auch sonst bringen sie für kaum etwas ein gesteigertes Interesse auf und finden sich ab mit einer Existenz am Rande der Kleinkriminalität. Da ist eine Selbstungewissheit, die weit über die übliche pubertäre Verwirrung und Verweigerung hinausgeht. Dass Just im Rückblick nichts schönt und doch Sympathie für seine gebrochenen, tapsigen Charaktere weckt, hebt diesen Roman wohltuend von Erinnerungsbüchern ab, die lediglich nostalgisch in Zeitkolorit baden. Die Jahrtausendwende wird für Andrej zum Augenöffner, dass man - allen Regeln entglitten - gewissermaßen auf Pump gelebt hat: "Wir hatten die Frucht gekostet, bevor der Baum gewachsen war, und würden nun die eigentliche Arbeit nachholen müssen." Das ist eine bittere Einsicht, aber zugleich ein Anfang.
OLIVER JUNGEN
Lorenz Just: "Am Rand der Dächer". Roman.
Dumont Buchverlag, Köln 2020. 272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Unter den inzwischen doch sehr vielen Jugendverschwende-Texten ragt Justs Roman aufgrund seiner stilistischen Versiertheit hervor. Die dichte, bildstarke, nüchterne Sprache bringt uns die Emotionen der Charaktere ohne alle Sentimentalität nahe.« Oliver Jungen, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG »'Am Rand der Dächer' ist ein [...] Roman, der [...] ohne Verklärung die Gestimmtheit einer Dekade im Zwischenraum zweier Staaten auf ungewöhnliche Weise und sprachlich originell einfängt.« Christoph Schröder, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG »Lorenz Just [...] beschreibt die Jugend im Berlin der Neunzigerjahre wie im Abenteuermärchen« Samuel Hamen, ZEIT ONLINE »[Ein großer] Berlin-Roman, auf den man schon gar nicht mehr gehofft hatte.« BERLINER MORGENPOST »Das Buch [bleibt] angenehm tastend, unordentlich, wertfrei. Und immer wieder legt Just wie zufällig Dinge unters Mikroskop, die dadurch überdeutlich hervortreten.« Susanne Messmer, TAZ »Lorenz Just schreibt so liebevoll und nahbar, dass man seinen Protagonisten am liebsten durch [Berlin-Mitte] hinterherstromern möchte.« Jana Felgenhauer, BARBARA »Just ist es in seinem Debütroman gut gelungen, das jugendliche Verlorenheitsgefühl einzufangen, indem er die Protagonisten in ihrer [...] Ohnmacht und ihrem ziellosen Handeln zeigt.« Holger Moos, GOETHE INSTITUT »[Ich] habe dieses Buch mit großer Begeisterung gelesen. Lorenz Just hat hier nicht nur einen Coming-of-Age-Roman geschrieben, sondern auch ein Berlin-Buch, ein Mauerfall-Buch, ein Freundschafts-Buch [...]" Anne-Dore Krohn, RBB WEITER LESEN »'Am Rand der Dächer' beweist, dass die Geschichte von den wilden Jahren in Berlin nach dem Mauerfall [...] noch lange nicht zu Ende erzählt ist. Es ist wahnsinnig charmant, wie der Blick des Kinds und Jugendlichen [...] die große Anarchie vom irren Kinderzimmer des Freunds bis zum besetzten Haus gegenüber, das Vakuum zwischen Alt und Neu da draußen quasi verstärkt.« Susanne Messmer, TAZ »Eine wichtige neue Stimme in der deutschen Literatur« Andrea Handels, RBB KULTUR »Nicht nur eine Coming-of-Age-Geschichte, sondern auch ein Gentrifizierungsdokument.« Eva Biringer, DIE LITERARISCHE WELT »Wie Walter Benjamin in seiner 'Kindheit um neunzehnhundert' verwandelt sich der erwachsengewordene Erzähler in 'Am Rand der Dächer' die Bildwelt seiner Kindheit an, um sie mit feinen Stichen mit der realpolitischen Geschichte Berlins zu vernähen.« Lisa Kreißler, NDR KULTUR »Lorenz Just blickt mit den Augen seiner Kindheit auf die Neunziger.« Ulrich Seidler, BERLINER ZEITUNG »Just findet für sein treibend erzähltes Debüt eine feine, rabaukische Poesie. Seiner starken Bildsprache liegt eine wunderbare Unruhe inne, ein steter Drang nach Unabhängigkeit.« Sebastian Fischer, DPA »Mich fasziniert die kindliche Sicht auf das Chaos, die leergezogenen, besetzten oder brennenden Häuser.« Anne Hahn, LITERATENFUNK »Großartig, mit dem Autor noch einmal zu einem zeitgeschichtlichen Spaziergang durch Berlin-Mitte aufbrechen zu können!« Jörg Braunsdorf, KULTUR24-BERLIN.DE »Skurril und originell.« Marina Wehlte, DIE RHEINPFALZ »Zart, unschuldig, sinnlich erzählt Lorenz Just von der ersten Liebe, ansonsten schildert er angenehm unsentimental, aber in prägnanten Bildern die Umwälzung eines ganzen Jahrzehnts.« Markus Kranz, DRESDNER KULTURMAGAZIN »Sein Erzählen sprüht, ist dicht dran an den Figuren, lebendig, sprachlich aufwendig« Senta Wagner, BUCHKULTUR »Zart, unschuldig, sinnlich erzählt Lorenz Just (*1983) von der ersten Liebe, ansonsten schildert er angenehm unsentimental, aber in prägnanten Bildern die Umwälzungen eines ganzen Jahrzehnts. « Steffen Roye, AM ERKER 81 »Gut beobachtet und sprachlich genau« Andreas Bekemeier, STADTBLATT »Lorenz Just lässt in seinem Debütroman mit großem Einfühlungsvermögen und funkelnder Magie eine Kindheit an einem historischen Wendepunkt auferstehen.« Karsten Herrmann, BERSENBRÜCKER KREISBLATT »Just betrachtet das Erwachsenwerden seiner Figuren mikroskopisch, ungefiltert und fängt so die Essenz der Generation Y ein, die zwischen Mauerfall und großer Freiheit ihre eigenen Erfahrungen machen muss.« Christian Straub, EKZ.BIBLIOTHEKSSERVICE