Seit der Antike dienen Ameisen und ihre Formen des Zusammenlebens als Modell und Vergleich für den Menschen und seine soziale Organisation. Dabei ist das Bild der Ameisengesellschaft, in denen wir unsere Ordnungen spiegeln, äußerst flexibel und kann als Vorlage sowohl für republikanische wie monarchistische, libertäre oder totalitäre Vorstellungen einer Gemeinschaft verwendet werden. In seiner wissenshistorischen Studie verfolgt Niels Werber die wechselhafte Faszinationsgeschichte dieses Vergleichs und untersucht die Evidenzen und blinden Flecken, die er produziert. Was an Ameisen beobachtet wird, so der Befund, gibt Antworten auf soziologische oder anthropologische Probleme - und stellt jenseits aller Disziplinen die Frage, was der Mensch ist und was die Gesellschaft, in der er lebt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2013Im Superorganismus wird immer kommuniziert
Wo sie nicht überall herumkrabbeln: Niels Werber zeigt, wie das Ameisennest zum Medium der Beschreibung moderner Gesellschaften wurde.
Die Faszinationsgeschichte der Ameisen reicht weit zurück. Man kann sie mit Aristoteles beginnen oder auch mit den Sprüchen Salomons. Und mit den jüngsten Filmen, Monographien und Romanen, die sich um Ameisen drehen, ist sie auch sicher nicht zu Ende. Dazu ist der Reiz offenbar zu groß, die ameisenhaften Formen der Sozialität mit unseren eigenen abzugleichen, zwischen den "Gesellschaften" der Ameisen und unserer eigenen den Blick hin und her gehen zu lassen. Wobei diese Faszination daran hängt, dass die Ameisen mit einfacheren Mitteln zu so erstaunlichen Leistungen sozialer Koordination gefunden zu haben scheinen, wie sie Menschen erst Hunderte von Millionen Jahren später im Medium kultureller Entwicklung hervorgebracht haben. Es ist eine Faszination, die beides gestattet: Eigenschaften der Ameisengesellschaften als vorbildlich hinzustellen und sie als Schreckbild zu verwenden.
Richtig in Fahrt kamen diese Abgleichungen zwischen den Ameisen- und Menschengesellschaften allerdings erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Bis dahin stachen die Ameisen aus dem politisch-moralischen Bestiarium nicht besonders hervor, konnten zum emblematischen und fabelnden Zweck durchaus im Singular auftreten. Dann aber wurde ihr überwältigender Plural wesentlich, ihre Bestimmung als soziale, Gesellschaften und "Staaten" bildende Tiere, unter die sie schon Aristoteles gereiht hatte. Der Abgleich mit ihnen zielte nicht mehr vorrangig auf eine Natur des Menschen, sondern auf jene der Gesellschaft. Es war, um es gleich mit Niels Werber zu formulieren, der Übergang zu einer entomologisch-soziologischen Wechselwirtschaft: Moderne menschliche Massengesellschaften konnten nun als ameisenhaft beschrieben werden, während umgekehrt die Ameisenforscher soziologische Modelle ebendieser Gesellschaften in ihre Beschreibungen der Ameisennester implementierten.
Es ist diese Wechselwirtschaft, der das Augenmerk des Siegener Literaturwissenschaftlers in seinem neuen Buch gilt. Er ist natürlich nicht der Erste, dem Verfahren ins Auge stechen, das Leben in den Ameisennestern - Jagdzüge, Territorialerweiterungen und Sklavenbeschaffung eingeschlossen - auf vielfältige Weise zum Spiegel gesellschaftlicher oder auch nationalstaatlicher Verhältnisse zu machen. Aber Werber bescheidet sich nicht damit, diese Spiegelungen lediglich als vorschnelle Naturalisierungen vor Augen zu führen (die sie freilich sind). Solche mittlerweile etwas zu leichtgängige Entlarvung rückt er in den Hintergrund, um an einigen hervorstechenden Beispielen die Evidenzen genauer ins Auge zu fassen, die für die moderne Wechselwirtschaft von Myrmekologie und Soziologie in Anspruch genommen werden.
Denn interessant an diesen Evidenzen wie den aus ihnen gezogenen Beschreibungen von Gesellschaft ist ja nicht zuletzt, dass sie so unterschiedlich ausfallen. Das zeigt schon der erste zeitliche Schnitt, mit dem Werber operiert, indem er Texte aus den dreißiger Jahren nebeneinanderstellt: einen eher beiläufig anmutenden Verweis von Carl Schmitt auf den Termitenstaat, wie ihn ein zeitgenössischer Entomologe zu politischen Zwecken ins Spiel gebracht hatte, Ernst Jüngers Typologie des "Arbeiters" als Figur des angekündigten endgültigen Abräumens aller bürgerlichen Bestände, Aldous Huxleys biopolitische Abschreckungsprognose in "Brave New World" und Olaf Stapledons Anverwandlung des bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufgebrachten Konzepts des Ameisennests als Superorganismus in "Last And First Man".
Schmitt und den Amateur-Entomologen Jünger mag man dabei noch halbwegs auf einen Nenner bringen: die sozialen Insekten als Naturform der absoluten funktionalen Typisierung, in der kein Freiraum für individuelle "bürgerliche" Extravaganzen ausgespart ist. Schmitt sieht in dieser "organischen Preisgabe der Individualität" hübsch paradox eine biologische Lösung der sozialen Grundfrage - so wie sein entomologischer Gewährsmann in der freiwilligen Unterwerfung unters Gemeinwohl den deutschen Führerstaat aufgehen sieht, dagegen die Zwangsmechanik des Termitenstaats dem Bolschewismus vorbehält. Während der demonstrative Antibürger Jünger mit seinem Zeittypus des "Arbeiters" genau diesen Wegfall jeden "Anspruchs auf Eigenart als unbefugte Äußerung der privaten Sphäre" mit Gusto als posthistorisches, also in gewisser Weise wieder naturhaft gewordenes Regime beschwört.
Die Ameisen mögen hier nur in Form rhetorischer Grundierung und Verstärkung verwendet sein - bei Jünger nicht einmal explizit -, aber darin gerade liegt ihr Reiz. Auch bei Huxley sind sie nur indirekt, aber doch nachhaltig präsent, wenn er die Zuchtverfahren zur Etablierung von Kasten identischer und reibungslos in ihren Funktionen wie Vergnügungen aufgehender Individuen beschreibt. Wozu Stapledon fast gleichzeitig mit seiner Evokation der Schwarmintelligenz, deren jüngste Konjunktur noch läuft, eine Gegenevidenz lieferte: nichts bei ihm von funktionsspezifischen Kasten, festgelegten Arbeitsteilungen und zentral durchgesetzten Planungen, dafür nun fast grenzenlose Flexibilität und lokale Kommunikation überall - ein Kontrastmodell medialer Organisation des Sozialen.
Es verwundert dann gar nicht mehr so sehr, dass die Ameisen tatsächlich auch auf das soziologische Feld krabbeln konnten. Max Weber hatte die sozialen Insekten noch als Kontrastphänomen genutzt, von denen die Soziologie gerade nicht handelt, weil sie es mit Individuen als intentionalen Agenten sinnhaft orientierten Handelns zu tun habe. Womit man schon den Verdacht hegen kann, dass die Ameisen bei der soziologischen Durchsetzung einer "rein funktionalistischen Betrachtungsweise" von Gesellschaft, wie sie Weber für die Beschreibung von sozialen Insekten als selbstverständlich konzedierte, eine Rolle gespielt haben könnten.
Werbers Einlösung dieser Vermutung ist ein gutes Beispiel dafür, dass die entomologisch-soziologische Passage in beiden Richtungen funktionierte: William Morton Wheelers entomologische Beschreibung des Nests als Superorganismus nimmt Elemente der Gesellschaftsmodelle von Vilfredo Pareto und Gabriel de Tarde ("Gesetze der Nachahmung") auf und wird dann ihrerseits von Talcott Parsons ins Feld geführt, der wiederum Pate steht für Niklas Luhmanns Systemtheorie. Deren Umstellung der Grundbegriffe von Individuum und Intention auf Funktion, Kommunikation und soziale Medien kommentiert schließlich ein früher Mentor Luhmanns mit dem Hinweis, der Systemtheoretiker blicke hinein in eine Organisation wie in einen Ameisenhaufen und lasse dabei eben nicht einfach gelten, was die Ameisen über sich selbst zu sagen haben.
Was für die Durchsetzungskraft der Ameisenfaszination ja gerade deshalb spricht, weil Ameisen im Unterschied zu uns gar nichts über sich sagen. Aber diese Differenz stört auch einen späteren und entschiedenen entomologischen Nutznießer dieser Übertragungen nicht, nämlich Edward O. Wilson. Dessen Weg von den Ameisen zur soziobiologisch geprägten Weltanschauung und Politikberatung, zuletzt in seinem Buch über "Die soziale Eroberung der Erde" ausgebreitet (F.A.Z. vom 11. Februar), folgt einer recht einfachen Logik: Wir sind keine Ameisen, aber eben doch wie sie, weshalb wir an ihnen von außen - statt in der fatalen, die Geistesund Sozialwissenschaften verderbenden Innenperspektive - beobachten können, wie die Kräfte natürlicher Selektion fortgeschrittene soziale Ordnungen, nämlich unsere eigene formen.
Auch im Fall Edward O. Wilson bleibt Werber bei seiner Grundhaltung, nicht zu schnell beim Verdikt zu landen. Stattdessen verknüpft er die Interpretation der soziobiologischen Programmatik mit jener des "Ameisenromans", in dem Wilson seine Sicht der Probleme und Chancen der amerikanischen Gesellschaft im Spiegel der Ameisen verhandelt. Womit er nicht nur die Naivität von Wilsons Auffassung der Biologie als fundamentale Einheitswissenschaft vor Augen führt, sondern gleich auch noch zeigt, wie der Doyen der Ameisenforschung bei seiner Ausmalung des Nests als Vorbild für die (amerikanische) Gesellschaft plötzlich mit Empfehlungen hantiert - die Notwendigkeit einer Elite, an der sich die Masse willig orientiert -, die absolut nicht aus der Beschreibung des Superorganismus des Ameisennests stammen.
Das biologische Aufklärungsprogramm des aufrechten Pfadfinders Wilson bekommt so die richtige Beleuchtung. Die vermeintliche Vorbildfunktion oder gar Autorität der Natur ist eben immer eine entliehene. In Niels Werbers Buch und an den Ameisen kann man einiges darüber lernen, warum diese eigentlich elementare Einsicht immer wieder gern überspielt wird.
HELMUT MAYER.
Niels Werber: "Ameisengesellschaften". Eine Faszinationsgeschichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 475 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo sie nicht überall herumkrabbeln: Niels Werber zeigt, wie das Ameisennest zum Medium der Beschreibung moderner Gesellschaften wurde.
Die Faszinationsgeschichte der Ameisen reicht weit zurück. Man kann sie mit Aristoteles beginnen oder auch mit den Sprüchen Salomons. Und mit den jüngsten Filmen, Monographien und Romanen, die sich um Ameisen drehen, ist sie auch sicher nicht zu Ende. Dazu ist der Reiz offenbar zu groß, die ameisenhaften Formen der Sozialität mit unseren eigenen abzugleichen, zwischen den "Gesellschaften" der Ameisen und unserer eigenen den Blick hin und her gehen zu lassen. Wobei diese Faszination daran hängt, dass die Ameisen mit einfacheren Mitteln zu so erstaunlichen Leistungen sozialer Koordination gefunden zu haben scheinen, wie sie Menschen erst Hunderte von Millionen Jahren später im Medium kultureller Entwicklung hervorgebracht haben. Es ist eine Faszination, die beides gestattet: Eigenschaften der Ameisengesellschaften als vorbildlich hinzustellen und sie als Schreckbild zu verwenden.
Richtig in Fahrt kamen diese Abgleichungen zwischen den Ameisen- und Menschengesellschaften allerdings erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Bis dahin stachen die Ameisen aus dem politisch-moralischen Bestiarium nicht besonders hervor, konnten zum emblematischen und fabelnden Zweck durchaus im Singular auftreten. Dann aber wurde ihr überwältigender Plural wesentlich, ihre Bestimmung als soziale, Gesellschaften und "Staaten" bildende Tiere, unter die sie schon Aristoteles gereiht hatte. Der Abgleich mit ihnen zielte nicht mehr vorrangig auf eine Natur des Menschen, sondern auf jene der Gesellschaft. Es war, um es gleich mit Niels Werber zu formulieren, der Übergang zu einer entomologisch-soziologischen Wechselwirtschaft: Moderne menschliche Massengesellschaften konnten nun als ameisenhaft beschrieben werden, während umgekehrt die Ameisenforscher soziologische Modelle ebendieser Gesellschaften in ihre Beschreibungen der Ameisennester implementierten.
Es ist diese Wechselwirtschaft, der das Augenmerk des Siegener Literaturwissenschaftlers in seinem neuen Buch gilt. Er ist natürlich nicht der Erste, dem Verfahren ins Auge stechen, das Leben in den Ameisennestern - Jagdzüge, Territorialerweiterungen und Sklavenbeschaffung eingeschlossen - auf vielfältige Weise zum Spiegel gesellschaftlicher oder auch nationalstaatlicher Verhältnisse zu machen. Aber Werber bescheidet sich nicht damit, diese Spiegelungen lediglich als vorschnelle Naturalisierungen vor Augen zu führen (die sie freilich sind). Solche mittlerweile etwas zu leichtgängige Entlarvung rückt er in den Hintergrund, um an einigen hervorstechenden Beispielen die Evidenzen genauer ins Auge zu fassen, die für die moderne Wechselwirtschaft von Myrmekologie und Soziologie in Anspruch genommen werden.
Denn interessant an diesen Evidenzen wie den aus ihnen gezogenen Beschreibungen von Gesellschaft ist ja nicht zuletzt, dass sie so unterschiedlich ausfallen. Das zeigt schon der erste zeitliche Schnitt, mit dem Werber operiert, indem er Texte aus den dreißiger Jahren nebeneinanderstellt: einen eher beiläufig anmutenden Verweis von Carl Schmitt auf den Termitenstaat, wie ihn ein zeitgenössischer Entomologe zu politischen Zwecken ins Spiel gebracht hatte, Ernst Jüngers Typologie des "Arbeiters" als Figur des angekündigten endgültigen Abräumens aller bürgerlichen Bestände, Aldous Huxleys biopolitische Abschreckungsprognose in "Brave New World" und Olaf Stapledons Anverwandlung des bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufgebrachten Konzepts des Ameisennests als Superorganismus in "Last And First Man".
Schmitt und den Amateur-Entomologen Jünger mag man dabei noch halbwegs auf einen Nenner bringen: die sozialen Insekten als Naturform der absoluten funktionalen Typisierung, in der kein Freiraum für individuelle "bürgerliche" Extravaganzen ausgespart ist. Schmitt sieht in dieser "organischen Preisgabe der Individualität" hübsch paradox eine biologische Lösung der sozialen Grundfrage - so wie sein entomologischer Gewährsmann in der freiwilligen Unterwerfung unters Gemeinwohl den deutschen Führerstaat aufgehen sieht, dagegen die Zwangsmechanik des Termitenstaats dem Bolschewismus vorbehält. Während der demonstrative Antibürger Jünger mit seinem Zeittypus des "Arbeiters" genau diesen Wegfall jeden "Anspruchs auf Eigenart als unbefugte Äußerung der privaten Sphäre" mit Gusto als posthistorisches, also in gewisser Weise wieder naturhaft gewordenes Regime beschwört.
Die Ameisen mögen hier nur in Form rhetorischer Grundierung und Verstärkung verwendet sein - bei Jünger nicht einmal explizit -, aber darin gerade liegt ihr Reiz. Auch bei Huxley sind sie nur indirekt, aber doch nachhaltig präsent, wenn er die Zuchtverfahren zur Etablierung von Kasten identischer und reibungslos in ihren Funktionen wie Vergnügungen aufgehender Individuen beschreibt. Wozu Stapledon fast gleichzeitig mit seiner Evokation der Schwarmintelligenz, deren jüngste Konjunktur noch läuft, eine Gegenevidenz lieferte: nichts bei ihm von funktionsspezifischen Kasten, festgelegten Arbeitsteilungen und zentral durchgesetzten Planungen, dafür nun fast grenzenlose Flexibilität und lokale Kommunikation überall - ein Kontrastmodell medialer Organisation des Sozialen.
Es verwundert dann gar nicht mehr so sehr, dass die Ameisen tatsächlich auch auf das soziologische Feld krabbeln konnten. Max Weber hatte die sozialen Insekten noch als Kontrastphänomen genutzt, von denen die Soziologie gerade nicht handelt, weil sie es mit Individuen als intentionalen Agenten sinnhaft orientierten Handelns zu tun habe. Womit man schon den Verdacht hegen kann, dass die Ameisen bei der soziologischen Durchsetzung einer "rein funktionalistischen Betrachtungsweise" von Gesellschaft, wie sie Weber für die Beschreibung von sozialen Insekten als selbstverständlich konzedierte, eine Rolle gespielt haben könnten.
Werbers Einlösung dieser Vermutung ist ein gutes Beispiel dafür, dass die entomologisch-soziologische Passage in beiden Richtungen funktionierte: William Morton Wheelers entomologische Beschreibung des Nests als Superorganismus nimmt Elemente der Gesellschaftsmodelle von Vilfredo Pareto und Gabriel de Tarde ("Gesetze der Nachahmung") auf und wird dann ihrerseits von Talcott Parsons ins Feld geführt, der wiederum Pate steht für Niklas Luhmanns Systemtheorie. Deren Umstellung der Grundbegriffe von Individuum und Intention auf Funktion, Kommunikation und soziale Medien kommentiert schließlich ein früher Mentor Luhmanns mit dem Hinweis, der Systemtheoretiker blicke hinein in eine Organisation wie in einen Ameisenhaufen und lasse dabei eben nicht einfach gelten, was die Ameisen über sich selbst zu sagen haben.
Was für die Durchsetzungskraft der Ameisenfaszination ja gerade deshalb spricht, weil Ameisen im Unterschied zu uns gar nichts über sich sagen. Aber diese Differenz stört auch einen späteren und entschiedenen entomologischen Nutznießer dieser Übertragungen nicht, nämlich Edward O. Wilson. Dessen Weg von den Ameisen zur soziobiologisch geprägten Weltanschauung und Politikberatung, zuletzt in seinem Buch über "Die soziale Eroberung der Erde" ausgebreitet (F.A.Z. vom 11. Februar), folgt einer recht einfachen Logik: Wir sind keine Ameisen, aber eben doch wie sie, weshalb wir an ihnen von außen - statt in der fatalen, die Geistesund Sozialwissenschaften verderbenden Innenperspektive - beobachten können, wie die Kräfte natürlicher Selektion fortgeschrittene soziale Ordnungen, nämlich unsere eigene formen.
Auch im Fall Edward O. Wilson bleibt Werber bei seiner Grundhaltung, nicht zu schnell beim Verdikt zu landen. Stattdessen verknüpft er die Interpretation der soziobiologischen Programmatik mit jener des "Ameisenromans", in dem Wilson seine Sicht der Probleme und Chancen der amerikanischen Gesellschaft im Spiegel der Ameisen verhandelt. Womit er nicht nur die Naivität von Wilsons Auffassung der Biologie als fundamentale Einheitswissenschaft vor Augen führt, sondern gleich auch noch zeigt, wie der Doyen der Ameisenforschung bei seiner Ausmalung des Nests als Vorbild für die (amerikanische) Gesellschaft plötzlich mit Empfehlungen hantiert - die Notwendigkeit einer Elite, an der sich die Masse willig orientiert -, die absolut nicht aus der Beschreibung des Superorganismus des Ameisennests stammen.
Das biologische Aufklärungsprogramm des aufrechten Pfadfinders Wilson bekommt so die richtige Beleuchtung. Die vermeintliche Vorbildfunktion oder gar Autorität der Natur ist eben immer eine entliehene. In Niels Werbers Buch und an den Ameisen kann man einiges darüber lernen, warum diese eigentlich elementare Einsicht immer wieder gern überspielt wird.
HELMUT MAYER.
Niels Werber: "Ameisengesellschaften". Eine Faszinationsgeschichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 475 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Markus Wild spürt es Krabbeln in diesem Buch des Literaturwissenschaftlers Niels Werber. In der Tat, die Ameisen sind überall. Nicht zuletzt deshalb, meint Wild, weil der Autor sie überall sehen will. Um die anvisierten Übertragungen zwischen Ameisenkunde, Literatur und Soziologie und die Analogien bzw. Identitäten zwischen Ameise und Mensch und die ihnen zugrundeliegenden Imaginationen sichtbar zu machen, projiziert der Autor laut Wild schon mal die Schwarm-Forschung der 1980er Jahre zurück auf einen Sci-Fi-Roman von 1930. Bezüglich des großen Krabbelns bleibt für Wild die Frage nach dem Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften offen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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'Ameisengesellschaften' von Niels Werber liest sich trotz seines komplexen Gegenstandes leicht und spannend. Matthias Eckoldt Deutschlandfunk (Büchermarkt) 20140120