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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
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Irische Autorinnen schreiben gegen die Gewalt an, die sich von den Straßen bis tief in die Familien gefressen hat
In Nordirland und in der Republik Irland sind gerade die Frauen am Drücker. So zumindest wirkt es, wenn man Figuren wie Mary Lou McDonald und Michelle O’Neill, die beiden führenden Politikerinnen von Sinn Féin betrachtet – und den Höhenflug der Partei bei den letzten Wahlen. In der Literatur sieht es ähnlich aus. Politisch gesehen ist dabei weniger eine Bestseller-Autorin wie Sally Rooney interessant. Eher sind es Emilie Pine und Anna Burns.
Die eine wurde 1977 in Dublin, die andere 1962 in Belfast geboren. Burns wurde 2018 als erste nordirische Autorin mit dem Booker Prize ausgezeichnet, der wichtigsten literarischen Auszeichnung des Vereinigten Königreichs. Die jüngere Pine führte mit ihrem Band skandalöser Essays „Notes To Self“ in Irland die Bestsellerliste an.
In diesen Texten schreibt Pine darüber, dass es in ihrem Land immer noch keine treffende Sprache für den Körper gibt, besonders den von Frauen. Sie fragt, was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn wesentliche Aspekte der Existenz ganzer Gruppen nicht benannt werden. Diese Frage spielt sie am Beispiel verschiedener Themen ihres eigenen Lebens durch. Sie schreibt über die Kinder von Trinkern, darüber wie wenig Raum für Trauer es nach einer Fehlgeburt gibt, oder was 1997 das irische Referendum für ein liberales Scheidungsrecht bedeutet hat, das unmittelbar auch ihre Mutter betraf.
Auch in Cornelia Rösers Übersetzung klingen die Essays drastisch direkt und bietet gleichzeitig die verallgemeinernde Analyse an: Ihr Buch handelt auch vom Gesundheitssystem und seiner inhumanen Sprache, von fehlender Fürsorge für Jugendliche. Und immer wieder schreibt Pine über Ohnmacht, Sprachlosigkeit, Scham. Gegen das Schweigen über Gefühle setzt sie den Refrain: „So fühlt es sich an.“
Auch Bulimie ist eines von Pines Themen und das, wie vieles andere, verbindet sie mit den Figuren von Anna Burns, wobei Burns die auch ästhetisch beeindruckendere Autorin von beiden ist. Den ausgezeichneten Roman „Milkman“ von 2018 hat Anna-Nina Kroll so fantastisch ins Deutsche übersetzt, dass einem immer noch die Ohren flattern von dem sprachlichen Irrwitz, mit dem Burns die Deformation der Gesellschaft in Stil übersetzt. Man erinnere sich an den ersten Satz: „Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“
Nun gibt es auch das Debüt von Anna Burns auf Deutsch, den Roman „Amelia“ aus dem Jahr 2001, wieder übersetzt von Anna-Nina Kroll. Man merkt ihm noch den Übungsmodus an. Aber auf was für einem Niveau! Fast wirkt er wie Pines „Notes To Self“: eine Sammlung einzelner Texte, die zwar zusammengehören, aber einzeln entstanden sind.
Mal wird aus der Ich-Perspektive Amelia Lovetts erzählt, mal aus der einer anderen Figur oder der einer äußeren Instanz. Das wirkt nicht wie ein multiperspektivisch konzipiertes Programm, sondern eher wie Etüden, aus einer zornigen Überlebensenergie und purem Spaß an den sprachlichen Möglichkeiten geboren. Wie später in „Milkman“ steht das Erleben eines Mädchens im Zentrum. Amelia ist neun Jahre alt, als wir ihr und ihren Freunden begegnen, von denen die meisten am Ende des Buchs tot sein werden.
Die wenigen Überlebenden versuchen einen Ausflug zu machen – für Jugendliche mit ihren Erfahrungen ein unvorstellbares, angstbesetztes Unterfangen. Burns erzählt vom aufglimmenden Funken der Sehnsucht nach einem anderen Leben, der umso deutlicher macht, wie abgestorben diese jungen Leute sind, vorzeitig vergreist, von Krieg und Bürgerkrieg und der Verrohung der Erwachsenen: „Sie schauten gerade im Fernsehen etwas über einen möglichen Waffenstillstand, als Amelia aus heiterem Himmel einen unerhörten Vorschlag machte. Er war so unerhört, dass alle sie ansahen. ‚Was meinst du damit?‘, polterten sie. ‚Einen Ausflug? Aber wieso? Was ist denn so falsch dran, hier zu sein?‘“
1994 endet Amelias Geschichte, vier Jahre vor dem Karfreitagsabkommen. 1969 setzt die Erzählung ein, kurz vor den sogenannten Troubles, vor der Spaltung der IRA in Provisionals und Officials, vor den Gewalteskalationen auf allen Seiten, Denunziationen, niederträchtigen Morden und brutalen Exzessen.
Der Roman spielt in dem katholischen Arbeiterviertel Ardoyne in Belfast, wo Anna Burns aufgewachsen ist. Die kindliche Wahrnehmung ihrer Figuren, ermöglicht es ihr, tiefer in die Pathologien der nordirischen Gesellschaft zu gehen, als es einem Bericht über die politische Gewalt möglich wäre. Da gibt es zum Beispiel das Mädchen Bossy, das sich vor seinen Freundinnen und Freunden wichtig machen will und aufgeregt erzählt, es habe von Unruhen gehört. Bossy stößt auf Desinteresse: „Wie konnte etwas so gefährlich sein, dass sie nicht weitermachen konnten wie sonst?“
Hier kündigt sich die Gewalt an, aber Anna Burns wechselt in das Innenleben der von den anderen mit Ignoranz gestraften Bossy: „Sie hatte gedacht, sie bräuchten sie.“ Zerstörerisch wirkt es auch, wenn es keine Liebenswürdigkeit gibt, man die Bedürftigkeit anderer sadistisch ausnutzt. Es ist schon vor den Troubles einiges aus dem Lot in Ardoyne. Burns schließt an die Erzählungen der sozialen Not an, die man von Autoren wie Frank McCourt kennt, dreht die Schraube aber um einiges weiter. Sie greift wie Emilie Pine die Institutionen an, die Schule, die Kirche, die Kindern und Erwachsenen das Gefühl geben, „nicht funktionieren zu können“. Sie zeigt die paradoxen Strategien des Selbstschutzes, die die Kinder entwickeln. Genial eine vollkommen überdrehte Szene, in der Miss Hanratty, einer Lehrerin, die sich in einer Übersprungshandlung regelmäßig die Oberschenkel „harkt“, in ihrem betrunkenen Gehirn einfällt, dass die Kinder doch für den Frieden dichten sollten. Die interessieren sich aber für andere Dinge: „Roberta wollte über Treppen und Treppenhäuser schreiben, weil sie Treppen liebt. ‚Ich bin die Treppe hochgegangen, Amelia‘, ging Roberta jetzt ins Detail. Sie hängten ihre Jacken in der Garderobe auf und zogen die Gummistiefel aus. ‚Dann bin ich die Treppe runtergegangen. Dann bin ich die Treppe wieder hochgegangen. Später bin ich die Treppe wieder runtergegangen…‘“
Bernie fasziniert Kartoffeldruck und Amelia mag grausame Gedichte, aber keine vorgeschriebenen Friedensformeln. Die Kinder ziehen sich in die Randverzierungen ihrer bestellten Reime zurück, und es wird ganz sacht immer verrückter: „Amelia schwang und schwung die Beine unterm Tisch, verpasste dem Ganzen den letzten Schliff und zog ernsthaft in Erwägung, ein weiteres Gedicht über Frieden zu schreiben, als eine Miss-Glocki-Adretti-Klamotti kam und es ihr entriss.“
Zwei Jahre später, 1973, klingt es dann schon so: „Das Fallen einer Stecknadel und erst recht das Krachen eines geschwisterlichen Knochens oder das verwandtschaftliche Einschlagen eines Schädels reichten aus, um die Gegend mit Truppen zu sättigen und der aufstrebenden irischen Organisation große, aber auch wirklich sehr große Unanehmlichkeiten zu bereiten.“
Lakonie und Absurdität lassen es wie mit einem Achselzucken geschrieben wirken, wenn ein Vater seinen Sohn mit einem Gasherd erdrückt, wenn der Bruder pasolini-like die minderjährige bulimische Schwester für Sado-Maso-Spiele missbrauchen will, dann aber von einer anderen Schwester mit ihren geifernden Anhängerinnen in einer hervorragenden Penthesilea-Szene in Stücke gerissen wird.
Und wo sind die Erwachsenen? Auf der Straße, Menschen jagen, sich schlagen, Kinder schwängern. In den Häusern aber wird geschwiegen. Die Verletzlichen, die all diese Not nach innen und nicht nach außen richten, gibt es auch. Auch deren Wahnsinn beschreibt Anna Burns in Szenen, die man wohl als frühe Reflexionen ihres eigenen Umgangs mit dem britisch-irischen Verhältnis lesen darf.
Wie ein englischer Therapeut zu seinem jungen irischen Patienten sagt: „Jat und Mickey sind ausgedachte Figuren, und du schmückst sie sehr detailgenau aus, aber sie bleiben ausgedacht, Vincent. Ohne dich gibt es sie nicht.“ Eine besondere Qualität der Autorin besteht darin, bei all dem Elend wirklich auch lustig zu sein. Zum Beispiel, wenn ein Bursche, zu dem Amelia 1983 ins Auto steigt, sich nicht entscheiden kann, welcher seiner Einstellungen er das höhere Gewicht geben soll, der rassistischen oder der misogynen.
Burns rundet die rhetorischen Schläge mit einem fiesen Wechsel des sprachlichen Registers ab: „Weil Janto Ambiguität, Ambivalenz, Abstraktheit, Paradoxien sowie jegliches verworrene Zwischending nicht ertrug, entschied er sich am Ende dafür, lieber Schwarz zu sein und sich einigermaßen durchzuschlagen, als eine Frau zu sein, egal, wie Weiß.“ An Krolls Übersetzung kann man nebenbei sehen, wie man eine solche Passage schreiben kann, ohne rassistische Begriffe zu wiederholen.
Was Anna Burns und Emilie Pine mit Politikerinnen wie Mary Lou MacDonald und Michelle O’Neill möglicherweise verbindet, ist die Einsicht, dass die politische Gewalt, aber auch die patriarchal und konservativ institutionalisierte ein Ende haben muss. Deren Folgen für Individuen und Gesellschaft beschreiben Pine und Burns.
Die Linie zwischen Gut und Böse verläuft bei Burns aber nicht zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen den hartleibigen Realistinnen und denen, die nicht aufhören, sich anderen zuzuwenden. Burns’ Debüt wie Emilie Pines Essays merkt man übrigens noch die psychoanalytische Reflexion an. In „Milkman“ ist die dann komplett in der Ästhetik aufgegangen.
INSA WILKE
Bernie fasziniert
Kartoffeldruck und Amelia
mag grausame Gedichte
Anna Burns: Amelia. Roman. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Tropen Verlag,
Stuttgart 2022.
384 Seiten, 25 Euro.
Emilie Pine: Botschaften an mich selbst. Aus dem Englischen von Cornelia Röser. Btb Verlag,
München 2024.
224 Seiten, 20 Euro.
Und wo sind die Erwachsenen? Auf der Straße, Menschen jagen, sich schlagen, Kinder schwängern: Aufnahme aus dem katholischen Belfaster Stadtteil Ardoyne, 1971.
Foto: imago/ZUMA/Keystone
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