Lampedusa ist der Schauplatz einer der großen menschlichen Katastrophen unserer Zeit. Und Pietro Bartolo ist zum heldenhaften Symbol der Insel geworden. Dies ist die bewegende und aufrüttelnde Geschichte eines Arztes, dessen Menschlichkeit ein Vorbild ist – für uns alle.
Seit mehr als 25 Jahren ist er für sie da. Pietro Bartolo ist der Erste, der den Migranten auf europäischem Boden begegnet. Er versorgt sie, kümmert sich um sie, stärkt sie. Aber das Wichtigste: Er hört ihnen zu. Es sind Leidensgeschichten und Geschichten der Hoffnung, Erzählungen von Verlust und unendlichem Schmerz. Bartolo bekommt aber auch die unermessliche Erleichterung derer zu spüren, die es auf die sizilianische Insel geschafft haben und nun zögernd-hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. In seinem Memoir verwebt Bartolo all diese Geschichten mit seiner eigenen: Aufgewachsen als Sohn einer armen Fischerfamilie, musste auch er einen langen und harten Weg beschreiten. Heute kämpft er voller Wut und Verständnislosigkeit, aber auch mit Nächstenliebe und Solidarität dafür, dass es den Geflüchteten nach ihrer Ankunft besser geht. Ein großes Beispiel an Mut und Zivilcourage. Und ein Beispiel dafür, wie verflucht selbstverständlich Menschlichkeit sein kann.
Seit mehr als 25 Jahren ist er für sie da. Pietro Bartolo ist der Erste, der den Migranten auf europäischem Boden begegnet. Er versorgt sie, kümmert sich um sie, stärkt sie. Aber das Wichtigste: Er hört ihnen zu. Es sind Leidensgeschichten und Geschichten der Hoffnung, Erzählungen von Verlust und unendlichem Schmerz. Bartolo bekommt aber auch die unermessliche Erleichterung derer zu spüren, die es auf die sizilianische Insel geschafft haben und nun zögernd-hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. In seinem Memoir verwebt Bartolo all diese Geschichten mit seiner eigenen: Aufgewachsen als Sohn einer armen Fischerfamilie, musste auch er einen langen und harten Weg beschreiten. Heute kämpft er voller Wut und Verständnislosigkeit, aber auch mit Nächstenliebe und Solidarität dafür, dass es den Geflüchteten nach ihrer Ankunft besser geht. Ein großes Beispiel an Mut und Zivilcourage. Und ein Beispiel dafür, wie verflucht selbstverständlich Menschlichkeit sein kann.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2017Das waren keine Möwenschreie
Zwei Flüchtlingshelfer bezeugen das Leid derer, die auf Lampedusa stranden. Und sie erklären das ungeschriebene Gesetz der Inselbewohner.
Dieses Buch ist ein Kriegsbericht. Seit einem Vierteljahrhundert versorgt Pietro Bartolo die Verwundeten an der Front, in die sich seine Insel verwandelt hat. Er ist ein Veteran der Flüchtlingskrise auf Lampedusa. Hier wurde Bartolo 1956 geboren. Zwanzig Quadratkilometer Fels, näher an Afrika als an Europa, Hoffnung für Unzählige. Wenige Meter misst die Favaloro-Mole, an der er, der Inselarzt, all diejenigen in Empfang nimmt, die aus dem Meer gezogen wurden, tot oder lebendig.
Bartolo untersucht die Überlebenden auf Krätze, lässt Schwerverletzte nach Sizilien und Hochschwangere ins Krankenhaus schaffen, kümmert sich um Dehydrierte und solche, die Bruder, Schwester, Mann, Kinder verloren haben. Auf der Mole reihen sich auch die Leichname der tot Geborgenen. Es gehört zu Bartolos Pflichten, die Leichensäcke zu öffnen und Gewebeproben zu entnehmen, damit die Toten vielleicht identifiziert werden können. Um die kleinen Säcke mit den Kinderkörpern geht er lange herum, bis er es schafft, die Reißverschlüsse aufzuziehen.
Hunderttausenden hat Bartolo ins Gesicht geschaut. Er ist ihnen nah, weil er sie als Arzt berührt hat - und sich in ihnen wiedererkennt. Seine Mutter verbrachte ihre Kindheit in Tunesien, sein Vater war Fischer. Als Halbwüchsiger ging Pietro Bartolo über Bord und wäre fast ertrunken. Das ungeschriebene Gesetz der Inselbewohner, dass niemand der Gewalt des Meeres überlassen werden darf, ist tief in ihm verankert.
Auch dass Menschen von ihren Familien ausgeschickt werden, ein besseres Leben zu suchen, kann er verstehen. Als einziges von sieben Kindern konnte er auf Sizilien zur Schule gehen und studieren. Er kehrte zurück, weil er Arzt für die Seinen werden wollte. Dass er der Arzt derer wurde, die um jeden Preis nach Europa wollen, betrachtet er als sein Schicksal.
Seine Geschichte hat Pietro Bartolo der Journalistin Lidia Tilotta anvertraut. Gesprächsmitschnitte hat sie in Buchform gebracht. "An das Leid gewöhnt man sich nie. Salztränen. Mein Leben als Arzt auf Lampedusa" verschränkt aus der Ich-Perspektive die Biographie Bartolos mit dem, was er als Arzt erlebt. Der Mensch und sein Handeln werden gleichermaßen sichtbar. Und Episoden jenseits des Ausnahmezustands machen das schmale Buch leichter lesbar, das Schreckliches auf engstem Raum verdichtet.
Eine Kindheit in Armut, die Hochzeit mit seiner Jugendliebe, das Warten auf einen Sohn, der den Namen fortführt, Arbeiten für eine bessere Zukunft: Die Wurzeln für Bartolos bedingungslosen Einsatz liegen hier. Was im Mittelmeer geschieht, vergleicht er ohne Zögern mit dem Holocaust.
Seit im Oktober 2013 fast vierhundert Flüchtlinge unmittelbar vor der Küste Lampedusas ertranken, ist er in Italien neben der früheren Bürgermeisterin Giusi Nicolini das bekannteste Gesicht der Insel. Gianfranco Rosi porträtierte Bartolo in seiner Dokumentation "Seefeuer", die auf der Berlinale 2016 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr gingen Bilder Bartolos durch die Presse, die ihn mit einem Flüchtlingsmädchen aus Nigeria zeigten, das er adoptieren wollte. Andere Menschen nahmen sie zu sich, der Arzt ärgerte sich, "Komplize" der Medien geworden zu sein, die nur Meldungen, keine Schicksale interessierten.
In seinem Buch ist kein Raum für das Nachdenken über gefälschte syrische Pässe, derer sich Islamisten bedienen, Straftäter unter Flüchtlingen, sichere Herkunftsstaaten, Grenzen der Aufnahmefähigkeit und europäische Verteilschlüssel. Dass ein Migrant mit Aufenthaltsgenehmigung für Italien nicht nach Deutschland ziehen darf, macht ihn zornig. Das ist legitim. Sein Buch ist das hochemotionale Zeugnis eines Helfers, der das Leid nicht fassen kann. Es kennt keine Distanz. Wer es liest, versteht besser, warum private Retter und NGOs in Konflikt mit dem Gesetz kommen. Bartolo spricht als Arzt und Anwalt der Ankommenden.
Wunderschöne Menschen, wie er immer wieder feststellt, die durch die Hölle gegangen sind. Vergewaltigte Frauen, Verstümmelte, in Laderäumen Erstickte, vom Gemisch aus Benzin und Salzwasser in den Schlauchbooten Verbrannte. Wäre es nicht besser, die Menschen in Afrika abzuholen, statt sie ertrinken zu lassen? "Unbewusst betrachten wir sie vielleicht wie menschliche Wesen mit einer anderen Psyche als unserer", dabei seien sie wie wir. Jeder Einzelne habe ein Recht auf eine rettende Hand wie damals er als Jugendlicher. Sein Erinnerungsbuch ist ein flammender Appell an die Mitmenschlichkeit. Als solcher steht es für sich.
Wie schwierig das Unterfangen ist, einem weniger profilierten Retter eine Stimme zu geben, zeigt das Buch der britischen Journalistin Emma Jane Kirby. "Der Optiker von Lampedusa. Die Geschichte einer Rettung" rollt aus der Perspektive des Optikers Carmine Menna auf, was im Oktober 2013 geschah, als Hunderte starben. Grundlage bildet eine Radioreportage der Autorin. Für die gedruckte Form wählt sie eine doppelte Strategie: Nur in Prolog und Epilog lässt sie den "Optiker von Lampedusa", der namenlos bleibt, in Ich-Form den Albtraum umreißen, zu dem ein Vergnügungsausflug mit Freunden wurde. Am Morgen hörten die auf dem Boot Erwachenden grelle Möwenschreie. Doch es waren keine Tierstimmen, sondern die Schreie von Ertrinkenden.
"Ich spüre noch immer die Finger der ersten Hand, die ich ergriff", sagt der Optiker. Siebenundvierzig Menschen können er und seine Freunde aus dem Wasser ziehen, dann droht das überfüllte Boot zu kentern. Dass sie nicht alle retten konnten, verfolgt ihn. Eigentlich habe er sich geschworen, die Geschichte nie wieder zu erzählen. Das übernimmt die Journalistin und rekonstruiert in personaler Erzählperspektive minutiös, was der Optiker erlebte, dachte, fühlte. Seine Joggingrunde wird zur Exposition, die Informationen über die Insel und die Flüchtlingskrise liefert, der Optiker duscht, wechselt das Hemd, zeigt sich pedantisch, geht mit seiner Frau und den Freunden essen.
Aus dem realen Mann wird ein literarischer Charakter, der zu klein wirkt für die erzählerische Form, durch die er sich bewegt. Das Kalkül, einen Menschen zu zeigen, der vom Unbeteiligten zum Handelnden wird, verpufft fast in Belanglosigkeiten. Nur auf fünfzehn Seiten bricht das alles weg, da geht es nur noch um Retten und Bergen, und hier gelingt es Kirby, den Kampf um jede Seele plastisch zu machen: "Sie rissen die Männer aus dem Wasser. Sie zerrten an ihren Fäusten und zogen an den Haaren der untergetauchten Köpfe, bis die Gesichter der ertrinkenden Männer, die Augen vor Schmerz verdreht, an die Oberfläche schossen."
Es folgt der Weg zurück in den Alltag. Tränen unter der Dusche, Palmen, die sich "vor Schmerz" biegen, die Google-Suche nach "Eritrea", der Versuch der Freunde, "ihre" Geretteten im Aufnahmelager zu besuchen, die Gedenkveranstaltung ein Jahr später mit Überlebenden, die im Optiker etwas heilt. Das Meer hat seinen Frieden fast wiedergefunden. Was aber nachklingt, sind nur die kurzen Passagen, in denen man allein bleibt mit einem Menschen, der eine Erfahrung gemacht hat, die menschliches Fassungsvermögen übersteigt.
URSULA SCHEER.
Pietro Bartolo und Lidia Tilotta: "An das Leid gewöhnt man sich nie". Salztränen. Mein Leben als Arzt auf Lampedusa.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 170 S., br., 10.- [Euro].
Emma Jane Kirby: "Der Optiker von Lampedusa". Die Geschichte einer Rettung.
Aus dem Englischen von Paulina Abzieher und Hans-Christian Oeser. Berlin Verlag, Berlin 2017. 160 S., geb., 16.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Flüchtlingshelfer bezeugen das Leid derer, die auf Lampedusa stranden. Und sie erklären das ungeschriebene Gesetz der Inselbewohner.
Dieses Buch ist ein Kriegsbericht. Seit einem Vierteljahrhundert versorgt Pietro Bartolo die Verwundeten an der Front, in die sich seine Insel verwandelt hat. Er ist ein Veteran der Flüchtlingskrise auf Lampedusa. Hier wurde Bartolo 1956 geboren. Zwanzig Quadratkilometer Fels, näher an Afrika als an Europa, Hoffnung für Unzählige. Wenige Meter misst die Favaloro-Mole, an der er, der Inselarzt, all diejenigen in Empfang nimmt, die aus dem Meer gezogen wurden, tot oder lebendig.
Bartolo untersucht die Überlebenden auf Krätze, lässt Schwerverletzte nach Sizilien und Hochschwangere ins Krankenhaus schaffen, kümmert sich um Dehydrierte und solche, die Bruder, Schwester, Mann, Kinder verloren haben. Auf der Mole reihen sich auch die Leichname der tot Geborgenen. Es gehört zu Bartolos Pflichten, die Leichensäcke zu öffnen und Gewebeproben zu entnehmen, damit die Toten vielleicht identifiziert werden können. Um die kleinen Säcke mit den Kinderkörpern geht er lange herum, bis er es schafft, die Reißverschlüsse aufzuziehen.
Hunderttausenden hat Bartolo ins Gesicht geschaut. Er ist ihnen nah, weil er sie als Arzt berührt hat - und sich in ihnen wiedererkennt. Seine Mutter verbrachte ihre Kindheit in Tunesien, sein Vater war Fischer. Als Halbwüchsiger ging Pietro Bartolo über Bord und wäre fast ertrunken. Das ungeschriebene Gesetz der Inselbewohner, dass niemand der Gewalt des Meeres überlassen werden darf, ist tief in ihm verankert.
Auch dass Menschen von ihren Familien ausgeschickt werden, ein besseres Leben zu suchen, kann er verstehen. Als einziges von sieben Kindern konnte er auf Sizilien zur Schule gehen und studieren. Er kehrte zurück, weil er Arzt für die Seinen werden wollte. Dass er der Arzt derer wurde, die um jeden Preis nach Europa wollen, betrachtet er als sein Schicksal.
Seine Geschichte hat Pietro Bartolo der Journalistin Lidia Tilotta anvertraut. Gesprächsmitschnitte hat sie in Buchform gebracht. "An das Leid gewöhnt man sich nie. Salztränen. Mein Leben als Arzt auf Lampedusa" verschränkt aus der Ich-Perspektive die Biographie Bartolos mit dem, was er als Arzt erlebt. Der Mensch und sein Handeln werden gleichermaßen sichtbar. Und Episoden jenseits des Ausnahmezustands machen das schmale Buch leichter lesbar, das Schreckliches auf engstem Raum verdichtet.
Eine Kindheit in Armut, die Hochzeit mit seiner Jugendliebe, das Warten auf einen Sohn, der den Namen fortführt, Arbeiten für eine bessere Zukunft: Die Wurzeln für Bartolos bedingungslosen Einsatz liegen hier. Was im Mittelmeer geschieht, vergleicht er ohne Zögern mit dem Holocaust.
Seit im Oktober 2013 fast vierhundert Flüchtlinge unmittelbar vor der Küste Lampedusas ertranken, ist er in Italien neben der früheren Bürgermeisterin Giusi Nicolini das bekannteste Gesicht der Insel. Gianfranco Rosi porträtierte Bartolo in seiner Dokumentation "Seefeuer", die auf der Berlinale 2016 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr gingen Bilder Bartolos durch die Presse, die ihn mit einem Flüchtlingsmädchen aus Nigeria zeigten, das er adoptieren wollte. Andere Menschen nahmen sie zu sich, der Arzt ärgerte sich, "Komplize" der Medien geworden zu sein, die nur Meldungen, keine Schicksale interessierten.
In seinem Buch ist kein Raum für das Nachdenken über gefälschte syrische Pässe, derer sich Islamisten bedienen, Straftäter unter Flüchtlingen, sichere Herkunftsstaaten, Grenzen der Aufnahmefähigkeit und europäische Verteilschlüssel. Dass ein Migrant mit Aufenthaltsgenehmigung für Italien nicht nach Deutschland ziehen darf, macht ihn zornig. Das ist legitim. Sein Buch ist das hochemotionale Zeugnis eines Helfers, der das Leid nicht fassen kann. Es kennt keine Distanz. Wer es liest, versteht besser, warum private Retter und NGOs in Konflikt mit dem Gesetz kommen. Bartolo spricht als Arzt und Anwalt der Ankommenden.
Wunderschöne Menschen, wie er immer wieder feststellt, die durch die Hölle gegangen sind. Vergewaltigte Frauen, Verstümmelte, in Laderäumen Erstickte, vom Gemisch aus Benzin und Salzwasser in den Schlauchbooten Verbrannte. Wäre es nicht besser, die Menschen in Afrika abzuholen, statt sie ertrinken zu lassen? "Unbewusst betrachten wir sie vielleicht wie menschliche Wesen mit einer anderen Psyche als unserer", dabei seien sie wie wir. Jeder Einzelne habe ein Recht auf eine rettende Hand wie damals er als Jugendlicher. Sein Erinnerungsbuch ist ein flammender Appell an die Mitmenschlichkeit. Als solcher steht es für sich.
Wie schwierig das Unterfangen ist, einem weniger profilierten Retter eine Stimme zu geben, zeigt das Buch der britischen Journalistin Emma Jane Kirby. "Der Optiker von Lampedusa. Die Geschichte einer Rettung" rollt aus der Perspektive des Optikers Carmine Menna auf, was im Oktober 2013 geschah, als Hunderte starben. Grundlage bildet eine Radioreportage der Autorin. Für die gedruckte Form wählt sie eine doppelte Strategie: Nur in Prolog und Epilog lässt sie den "Optiker von Lampedusa", der namenlos bleibt, in Ich-Form den Albtraum umreißen, zu dem ein Vergnügungsausflug mit Freunden wurde. Am Morgen hörten die auf dem Boot Erwachenden grelle Möwenschreie. Doch es waren keine Tierstimmen, sondern die Schreie von Ertrinkenden.
"Ich spüre noch immer die Finger der ersten Hand, die ich ergriff", sagt der Optiker. Siebenundvierzig Menschen können er und seine Freunde aus dem Wasser ziehen, dann droht das überfüllte Boot zu kentern. Dass sie nicht alle retten konnten, verfolgt ihn. Eigentlich habe er sich geschworen, die Geschichte nie wieder zu erzählen. Das übernimmt die Journalistin und rekonstruiert in personaler Erzählperspektive minutiös, was der Optiker erlebte, dachte, fühlte. Seine Joggingrunde wird zur Exposition, die Informationen über die Insel und die Flüchtlingskrise liefert, der Optiker duscht, wechselt das Hemd, zeigt sich pedantisch, geht mit seiner Frau und den Freunden essen.
Aus dem realen Mann wird ein literarischer Charakter, der zu klein wirkt für die erzählerische Form, durch die er sich bewegt. Das Kalkül, einen Menschen zu zeigen, der vom Unbeteiligten zum Handelnden wird, verpufft fast in Belanglosigkeiten. Nur auf fünfzehn Seiten bricht das alles weg, da geht es nur noch um Retten und Bergen, und hier gelingt es Kirby, den Kampf um jede Seele plastisch zu machen: "Sie rissen die Männer aus dem Wasser. Sie zerrten an ihren Fäusten und zogen an den Haaren der untergetauchten Köpfe, bis die Gesichter der ertrinkenden Männer, die Augen vor Schmerz verdreht, an die Oberfläche schossen."
Es folgt der Weg zurück in den Alltag. Tränen unter der Dusche, Palmen, die sich "vor Schmerz" biegen, die Google-Suche nach "Eritrea", der Versuch der Freunde, "ihre" Geretteten im Aufnahmelager zu besuchen, die Gedenkveranstaltung ein Jahr später mit Überlebenden, die im Optiker etwas heilt. Das Meer hat seinen Frieden fast wiedergefunden. Was aber nachklingt, sind nur die kurzen Passagen, in denen man allein bleibt mit einem Menschen, der eine Erfahrung gemacht hat, die menschliches Fassungsvermögen übersteigt.
URSULA SCHEER.
Pietro Bartolo und Lidia Tilotta: "An das Leid gewöhnt man sich nie". Salztränen. Mein Leben als Arzt auf Lampedusa.
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 170 S., br., 10.- [Euro].
Emma Jane Kirby: "Der Optiker von Lampedusa". Die Geschichte einer Rettung.
Aus dem Englischen von Paulina Abzieher und Hans-Christian Oeser. Berlin Verlag, Berlin 2017. 160 S., geb., 16.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Sein Buch ist das hochemotionale Zeugnis eines Helfers, der das Leid nicht fassen kann. Er kennt keine Distanz. Wer das liest, versteht besser, warum private Retter und NGOs in Konflikt mit dem Gesetz kommen.« Ursula Scheer Frankfurter Allgemeine Zeitung 20170916