Yolande hat seit fünfzig Jahren das Haus nicht mehr verlassen – seitdem man ihr den Kopf kahlgeschoren hat, weil sie sich während des Zweiten Weltkriegs mit deutschen Soldaten eingelassen hatte. Was draußen passiert, beobachtet sie durch ein Loch im Fensterladen. Ihr Bruder Bernard, ein ehemaliger Eisenbahner, opfert sich für sie auf, während er selbst gegen den unausweichlichen Krebstod kämpft. Gemeinsam und jeder für sich klammern sie sich verzweifelt an den Rest Leben, der ihnen noch geblieben ist. In der Nähe entsteht die neue Autobahn A26. Gelegen inmitten endloser brauner Felder, wird die Baustelle mit ihren Betongruben zum Grab für leichtsinnige oder vom Pech verfolgte Frauen. Vor dem Hintergrund der trostlosen Landschaft des nordfranzösischen Pas-de-Calais mit ihrem niedrigen Himmel entspinnen sich Dramen des Alltags, die die Figuren auf ihre Vergangenheit zurückwerfen und deren Fatalität sie nicht entkommen. »Garnier stürzt dich in eine bizarre, überhitzte Welt und vermengt dabei Tod, Fiktion und Philosophie. Eine berauschende, schmuddelige, klasse Lektüre.« A. L. KENNEDY
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Thomas Wörtche liest Pascal Garniers Roman Noir mit Spannung. Wie der Autor einmal mehr die düstere Provinz ausleuchtet, hier, indem er deutsch-französische Geschichte, namentlich die Kollaboration, als Urgrund des Übels darstellt, das entlang der Autoroute 26 in Gestalt der verwahrlosten Geschwister Bonnet sein Unwesen treibt, nennt Wörtche beklemmend und gewalttätig. Die tiefschwarze Dichte des schmalen Buches und wie es naturalistische und symbolische Zustandsdiagnose vereint, findet er bemerkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2024Kreuz und queer
Krimis in Kürze: Pascal Garnier, Kim Wakker, Jean-Christophe Rufin
"Die Straßen waren schwarz nicht vom Dunkel der Nacht allein", schrieb Raymond Chandler 1944 in einem Essay. Die Metaphorik blieb selbst ein wenig dunkel, hat über die Jahrzehnte aber doch ganz gut dazu getaugt, die Essenz der Schwarzen Serie in Kino und Literatur zu fassen. Wer sich heute allerdings an einem Roman noir versucht, landet schnell bei einer unfreiwilligen Parodie, weil Finsternis und fatalistische Tonlage der Vierzigerjahre sich nicht einfach reproduzieren lassen.
Ein Autor wie der 2010 mit gerade sechzig Jahren verstorbene Franzose Pascal Garnier hat das gewusst - und ist nie in diese Falle geraten. Sein Roman "An der A26" (Septime, 120 S., geb., 19,- Euro), den der kleine Wiener Septime Verlag erstmals in deutscher Übersetzung herausbringt, ist von einer Düsternis und Härte, die nie forciert wirken. Er muss einfach nur in starken Bildern die graue Tristesse eines Kaffs in Nordfrankreich und dessen Bewohner beschreiben. Die Autobahn, die dort in den Neunzigerjahren gebaut wird, ist vor allem dazu da, um schnell durch- oder wegzukommen.
Yolande und ihr Bruder Bernard leben in einem völlig verwahrlosten Haus. Sie hat sich dort verbarrikadiert seit dem Krieg, wegen einer Affäre mit einem deutschen Soldaten ist sie geächtet. Er hat Krebs und streunt nachts in der Gegend herum. Er weiß, dass es nicht mehr weitergehen kann. Garniers Prosa überzeichnet diese schmutzige Welt ohne Hoffnung nie. Da ist kein Bemühen um Coolness, nur eine schwarze Gewissheit, dass es kommen wird, wie es kommen muss.
Auf eine andere Weise kämpft Kim Wakker mit den Fallstricken von Parodie und Satire. Der Vorname lässt offen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, was zum Titel samt Zusatz passt: "Der Frauenbeauftragte" (Alexander Verlag, 222 S., br., 18,- Euro) ist "ein queerer Campus-Krimi" und hat sich vorgenommen, die Rituale und Bräuche der akademischen Welt und des Kunstbetriebs vorzuführen.
Hartmut, ein Privatdozent für Theaterwissenschaft von Mitte dreißig, landet bei allen Bewerbungen um eine Professur auf dem zweiten Platz - hinter einer Frau. Sein Geliebter Fred, das Abziehbild eines reichen Berliner Galeristen, findet das alles nicht so tragisch. Mit einer "Schwulenquote", zu der sich der immer radikaler und wütender werdende Hartmut versteigt, kann er nichts anfangen. Kompliziert wird das alles nur, als Frau Prof. Dr. Heidelind Hausinger, der Hartmut in drei Berufungsverfahren unterlegen war, tot im Tiergarten gefunden wird, von einem Kampfhund zerfleischt.
Dass Wakker die Milieus aus eigener Erfahrung kennt, ist unverkennbar. Das schließt aber nicht ein, dass auch jede parodistische Einlage sitzt; manchmal macht es sich das Buch zu leicht und rennt offene Türen ein. Beides liegt oft dicht beieinander: die Spitze, die punktgenau trifft, und die Pointe, die vom häufigen Gebrauch stumpf geworden ist. Aber es ist insgesamt eine amüsante Lektüre bis hin zum grellen Finale. Die Frage, in welches Schicksal die Frauenquote an Hochschulen Männer wie Hartmut treibt, muss ungelöst bleiben.
Es gibt vermutlich nicht allzu viele Goncourt-Preisträger, die Kriminalromane schreiben. Jean-Christophe Rufin, auch Arzt und Diplomat, ist einer von ihnen. "Der Tote im Pool" (Tropen, 208 S., br., 17,- Euro) ist der zweite Auftritt eines nicht alltäglichen Konsuls, der von Conakry in Guinea nach Maputo in Mosambik versetzt wurde. Aurel Timescu hat rumänische Wurzeln und einen entsprechenden Akzent, er spielt gut Klavier, liebt kühlen Tokajer und ist ein Meister der Arbeitsvermeidung. Wirklich berufen fühlt er sich zum Kriminalkommissar, auch wenn seine Methoden eher unorthodox sind.
Das ist längst nicht so pittoresk, wie es sich anhört. Timescu könnte sich auch in einem Roman von Eric Ambler behaupten, wo er allerdings wohl unter die Räder käme. Und wenn er nachforscht, wer den unbeliebten alten Hotelbesitzer in den Pool gestoßen hat, merkt er schnell, dass nicht nur die Eifersucht einer der vielen Frauen des Ermordeten ein handfestes Motiv liefert. Beschlagnahmtes Elfenbein spielt auch eine Rolle, und damit verbinden sich einige politische und diplomatische Verwicklungen. Rufin erzählt konzentriert und zeigt, dass man auch mit der Hälfte des üblichen Krimiumfangs sehr gut auskommen kann. PETER KÖRTE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Krimis in Kürze: Pascal Garnier, Kim Wakker, Jean-Christophe Rufin
"Die Straßen waren schwarz nicht vom Dunkel der Nacht allein", schrieb Raymond Chandler 1944 in einem Essay. Die Metaphorik blieb selbst ein wenig dunkel, hat über die Jahrzehnte aber doch ganz gut dazu getaugt, die Essenz der Schwarzen Serie in Kino und Literatur zu fassen. Wer sich heute allerdings an einem Roman noir versucht, landet schnell bei einer unfreiwilligen Parodie, weil Finsternis und fatalistische Tonlage der Vierzigerjahre sich nicht einfach reproduzieren lassen.
Ein Autor wie der 2010 mit gerade sechzig Jahren verstorbene Franzose Pascal Garnier hat das gewusst - und ist nie in diese Falle geraten. Sein Roman "An der A26" (Septime, 120 S., geb., 19,- Euro), den der kleine Wiener Septime Verlag erstmals in deutscher Übersetzung herausbringt, ist von einer Düsternis und Härte, die nie forciert wirken. Er muss einfach nur in starken Bildern die graue Tristesse eines Kaffs in Nordfrankreich und dessen Bewohner beschreiben. Die Autobahn, die dort in den Neunzigerjahren gebaut wird, ist vor allem dazu da, um schnell durch- oder wegzukommen.
Yolande und ihr Bruder Bernard leben in einem völlig verwahrlosten Haus. Sie hat sich dort verbarrikadiert seit dem Krieg, wegen einer Affäre mit einem deutschen Soldaten ist sie geächtet. Er hat Krebs und streunt nachts in der Gegend herum. Er weiß, dass es nicht mehr weitergehen kann. Garniers Prosa überzeichnet diese schmutzige Welt ohne Hoffnung nie. Da ist kein Bemühen um Coolness, nur eine schwarze Gewissheit, dass es kommen wird, wie es kommen muss.
Auf eine andere Weise kämpft Kim Wakker mit den Fallstricken von Parodie und Satire. Der Vorname lässt offen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, was zum Titel samt Zusatz passt: "Der Frauenbeauftragte" (Alexander Verlag, 222 S., br., 18,- Euro) ist "ein queerer Campus-Krimi" und hat sich vorgenommen, die Rituale und Bräuche der akademischen Welt und des Kunstbetriebs vorzuführen.
Hartmut, ein Privatdozent für Theaterwissenschaft von Mitte dreißig, landet bei allen Bewerbungen um eine Professur auf dem zweiten Platz - hinter einer Frau. Sein Geliebter Fred, das Abziehbild eines reichen Berliner Galeristen, findet das alles nicht so tragisch. Mit einer "Schwulenquote", zu der sich der immer radikaler und wütender werdende Hartmut versteigt, kann er nichts anfangen. Kompliziert wird das alles nur, als Frau Prof. Dr. Heidelind Hausinger, der Hartmut in drei Berufungsverfahren unterlegen war, tot im Tiergarten gefunden wird, von einem Kampfhund zerfleischt.
Dass Wakker die Milieus aus eigener Erfahrung kennt, ist unverkennbar. Das schließt aber nicht ein, dass auch jede parodistische Einlage sitzt; manchmal macht es sich das Buch zu leicht und rennt offene Türen ein. Beides liegt oft dicht beieinander: die Spitze, die punktgenau trifft, und die Pointe, die vom häufigen Gebrauch stumpf geworden ist. Aber es ist insgesamt eine amüsante Lektüre bis hin zum grellen Finale. Die Frage, in welches Schicksal die Frauenquote an Hochschulen Männer wie Hartmut treibt, muss ungelöst bleiben.
Es gibt vermutlich nicht allzu viele Goncourt-Preisträger, die Kriminalromane schreiben. Jean-Christophe Rufin, auch Arzt und Diplomat, ist einer von ihnen. "Der Tote im Pool" (Tropen, 208 S., br., 17,- Euro) ist der zweite Auftritt eines nicht alltäglichen Konsuls, der von Conakry in Guinea nach Maputo in Mosambik versetzt wurde. Aurel Timescu hat rumänische Wurzeln und einen entsprechenden Akzent, er spielt gut Klavier, liebt kühlen Tokajer und ist ein Meister der Arbeitsvermeidung. Wirklich berufen fühlt er sich zum Kriminalkommissar, auch wenn seine Methoden eher unorthodox sind.
Das ist längst nicht so pittoresk, wie es sich anhört. Timescu könnte sich auch in einem Roman von Eric Ambler behaupten, wo er allerdings wohl unter die Räder käme. Und wenn er nachforscht, wer den unbeliebten alten Hotelbesitzer in den Pool gestoßen hat, merkt er schnell, dass nicht nur die Eifersucht einer der vielen Frauen des Ermordeten ein handfestes Motiv liefert. Beschlagnahmtes Elfenbein spielt auch eine Rolle, und damit verbinden sich einige politische und diplomatische Verwicklungen. Rufin erzählt konzentriert und zeigt, dass man auch mit der Hälfte des üblichen Krimiumfangs sehr gut auskommen kann. PETER KÖRTE
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