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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Epochenbild der frühen Neuzeit mit Seitenblick auf die Gegenwart: Marina Münkler bahnt sich einen Weg durch das sechzehnte Jahrhundert
Periodisierung, das Abtrennen von Epochen und Perioden, ist ein elementarer Bestandteil aller historischen Selbstvergewisserung. Anfänge und Enden werden gesetzt, Epochen definiert, um Vergangenheit erzählbar zu machen und in Geschichte zu überführen. Warum also eine Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts? Marina Münklers Antwort lautet, in ihm läge der "Anbruch der Neuen Zeit". Ihr Buch trägt emphatisch die These vor, dieses Jahrhundert sei ein "alchemistisches Labor" gewesen, aus dem heute noch aktuelle "neue Lebensformen und Wissensordnungen" hervorgegangen seien. Deshalb sei es auch heute noch "besonders aktuell". Damit steht sie in einer langen Deutungstradition, welcher die Zeit um 1500 als wichtige Phase des Umbruchs auf dem Weg zur Moderne gilt, und setzt in ihrem Buch entsprechende Akzente.
Marina Münkler schreibt keine enzyklopädische Gesamtgeschichte der Zeit. So gut wie nichts ist zu lesen zu den dramatischen Umbrüchen von Renaissance und Humanismus, kaum etwas zu Sozialgeschichte oder Nationalstaatsbildung, wenig zum epochalen Wandel in Astronomie, Medizin oder Kunst. Stattdessen läuft das Epochenbild dieses Buches in bemerkenswerter Geradlinigkeit vor allem auf zwei große Themen zu: Globalisierungserfahrungen und religiöse Pluralität.
Das religionsgeschichtliche Thema ist noch einmal zweigeteilt. Zum einen behandelt Münkler ausführlich die europäische Reformation, zum anderen stellt sie den Aufstieg des Osmanischen Reichs zur Großmacht im sechzehnten Jahrhundert dar und analysiert diesen Aufstieg ausdrücklich als Bestandteil der europäischen Geschichte.
Die europäische Expansion stellt die Autorin zunächst in ihren wesentlichen Schritten dar, ehe sie sich vor allem auf die Frage konzentriert, wie die Europäer die neuen sozialen, kulturellen und politischen Eindrücke aus Übersee intellektuell verarbeiteten. Dazu unterscheidet sie analytisch zwischen der "Entdecker"- und der "Eroberer"-Perspektive, ohne dabei zu übersehen, dass beide meist engstens miteinander verwoben waren. Neben intellektueller Neugier stand vor allem das Bemühen, die europäische Herrschaft über die neu zugänglichen Menschen und Ressourcen zu legitimieren. Unter weitgehender Ausblendung der frühneuzeitlichen Literatur über Asien kulminiert Münklers Diskussion hier in einer Darstellung der berühmten spanischen Gelehrtendebatten über den Umgang mit den Ureinwohnern Amerikas.
Münklers Behandlung der Reformation konzentriert sich auf Martin Luther und seine Konfession. Der Calvinismus kommt nur dann ins Spiel, wenn es um den Export europäischer Religionskonflikte in die neuen Kolonien und um die Beschreibung ausgewählter Religionskriege geht. Theologische und kulturelle Unterschiede zwischen den protestantischen Konfessionen stehen nicht im Zentrum von Münklers Interesse. Sie erzählt die Reformation entlang eines Kernthemas, der Kritik am traditionellen Heiligenkult. Das wird anschaulich beschrieben, wenngleich in starker Verknappung. Der wiedererstarkte Katholizismus nach dem Konzil von Trient spielt dagegen in Münklers Version vom Aufbruchscharakter des sechzehnten Jahrhunderts nur eine Nebenrolle, obwohl doch gerade er in globalisierungsgeschichtlicher Perspektive von überragender Bedeutung war.
Während die Themen Reformation und europäische Expansion klassische Bestandteile auch älterer Darstellungen sind, stellt Münklers Einbeziehung des Osmanischen Reichs eine willkommene und überzeugend akzentuierte Innovation dar. Im Rückgriff auf aktuelle Forschungstrends, die die Sultane des sechzehnten Jahrhunderts mittlerweile als Renaissancefürsten wie Franz I. von Frankreich oder Maximilian I. von Habsburg begreifen, werden die Osmanen hier ausführlich als Teil der europäischen Geschichte thematisiert. Das öffnet neue Horizonte und sollte auch jenseits des Fachdiskurses wahrgenommen werden.
Insgesamt basiert Marina Münklers eloquente Darstellung auf grundsätzlich bekannten Zügen, die in prägnanter und pointierter Weise zu einem anregenden Panorama verbunden werden. Elegant flicht sie zahlreiche eigenständige Beobachtungen und überraschende Details in die Hauptstränge ihrer Erzählung ein. Nur am Ende, als auch die Hexenverfolgungen noch unter der Kapitelüberschrift "Religionskriege" subsumiert werden sollen, wirkt die Anbindung etwas gewollt.
Münklers Einschätzung, dass die drei ausgewählten Hauptthemen von besonderer Bedeutung für den weiteren Fortgang der Geschichte waren, wird kaum jemand widersprechen. Dass eine solche Auswahl aber dem sechzehnten Jahrhundert insgesamt gerecht wird, wird man bezweifeln dürfen. Dies ist ein sechzehntes Jahrhundert, das emphatisch für das 21. Jahrhundert erzählt wird. Aber so ist das mit Periodisierungen: sie sind Kreationen von Historikern, geschaffen vor allem im Lichte ihrer eigenen, gegenwärtigen Erfahrungen. MARKUS FRIEDRICH
Marina Münkler: "Anbruch der neuen Zeit". Das dramatische 16. Jahrhundert.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2024.
544 S., Abb., geb., 34,- Euro.
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