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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Die richtige Autorin angesichts des virulenten Antisemitismus: Zwei Bücher stellen das Denken der Literaturwissenschaftlerin und Schoa-Überlebenden Ruth Klüger vor.
Frauen lesen anders, und sie lesen mehr. Ruth Klüger las, so scheint es, fast ununterbrochen, wenn sie nicht gerade schrieb, und ihre literaturwissenschaftlichen, literaturkritischen Überlegungen zum Kanon der europäischen Literaturgeschichte, von Shakespeare und Grimmelshausen über Goethe, Schiller, Lessing, Kleist, Stifter, Heine zu Schnitzler, Hofmannsthal und schließlich Erich Kästner, Alfred Andersch, Wolfgang Koeppen und Günter Grass gehören, obwohl häufig schon mehr als zwanzig oder dreißig Jahre alt, immer noch zum Erhellendsten, was zu deren Werken gesagt wurde. Als Literaturwissenschaftlerin muss Ruth Klüger zwar nicht mehr entdeckt, vielleicht aber doch wiederentdeckt werden, steht sie doch als solche seit Erscheinen von "weiter leben" aus dem Jahr 1992, der Geschichte ihrer Jugend im Holocaust, und den Jugenderinnerungen "unterwegs verloren" von 2008, im öffentlichen Bewusstsein im Schatten ihrer selbst als außergewöhnliche Autobiographin und Zeitzeugin. Dabei ist ihr Ton hier wie dort derselbe geblieben, unverwechselbar unpathetisch, avers gegenüber jeglicher Rührseligkeit, unakademisch schnoddrig.
Das lässt sich jetzt nachlesen in der Essaysammlung "Anders lesen. Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts", die von Ruth Klügers Nachlassverwalterin Gesa Dane herausgegeben wird. Als Begleitband und Ergänzung empfehlen sich die unter dem Titel "Ich kann eigentlich nichts als lesen und schreiben" gesammelten literaturwissenschaftlichen Texte von Kollegen und Kolleginnen zu ihrem Werk, ebenfalls von Gesa Dane, hier zusammen mit Gail K. Hart, herausgegeben - eine zweisprachige Textsammlung, wie es dem Leben, Lesen und Schreiben von Ruth Klüger in Deutsch und Englisch angemessen ist. So ergibt sich nach einigen älteren Anthologien (etwa der von ihr selbst zusammengestellten "Was Frauen schreiben", der Essaysammlung "Frauen lesen anders" oder auch "Von hoher und niedriger Literatur") noch einmal ein aktueller Überblick zu Ruth Klügers Nachdenken über Literatur, über die Wahrheit, der diese möglicherweise verpflichtet ist, über die Sprache und wozu sie benutzt oder auch missbraucht wird, und immer wieder: über den Kitsch und den Holocaust.
Wie lässt sich über den Holocaust schreiben? Dichten, filmen? Für Ruth Klüger war das eine der zentralen Fragen, mit denen sie sich ihr Leben lang beschäftigte. Nicht nur in ihrer persönlichen Verfasstheit als Autorin ihrer Lebensgeschichte, sondern auch als Literaturwissenschaftlerin mit ihrem unbestechlich unsentimentalen Blick auf alles Geschriebene und einem Kitsch-Seismographen ausgestattet, der bei geringstem Verdacht der Sentimentalisierung ausschlug. "Kitsch ist immer plausibel", überschrieb sie 1998 ihren Essay zum Fall Binjamin Wilkomirski, der keineswegs Pole und keineswegs Jude war, sondern Schweizer, und seine Erinnerungen ans Konzentrationslager ebenso erfunden hatte wie seinen Namen, was zunächst weder der Suhrkamp Verlag (der "weiter leben" als zu unliterarisch abgelehnt hatte, was Ruth Klüger zum Wallstein Verlag brachte, eine Geschichte, die Thedel von Wallmoden in dem zweiten Ruth-Klüger-Band für die Nachgeborenen noch einmal ausführlich darlegt) noch die ersten Rezensenten bemerkten, bevor die Sache aufflog.
Ruth Klüger las diese "Erinnerungen" an nicht erlebte Katastrophen erst, nachdem klar war, dass es sich bei dem "Bruchstücke" genannten Buch um eine gefälschte Autobiographie handelte. Und sie urteilte entsprechend. Doch in ihrem Essay über den Fall ging es ihr nicht um die Empörung, die viele verspürten, weil sie sich an der Nase herumgeführt sahen bei einem Thema, bei dem äußerster Ernst und Wahrhaftigkeit gefragt sind. "Bruchstücke" erzählte aus der Ich-Perspektive von einer Kindheit im Konzentrationslager, die der Autor sich anhand von peniblen Recherchen zusammenphantasiert hatte, während er sich in eine Opferrolle hineinsteigerte. Ruth Klüger nimmt das zum Anlass, darüber nachzudenken, wie sich der ästhetische Wert eines Textes verändert, je nachdem, ob wir ihn als Geschichtsschreibung, Erinnerung oder Fiktion lesen, und fragt: Wenn das Buch schon keine Autobiographie war, könnte es als Roman einen ästhetischen Wert haben?
Kühl verneint sie diese Möglichkeit. Erfundenes Leid, das sich als echtes ausgibt, sei immer Kitsch und Rührseligkeit in der deutschen Nachkriegsliteratur deren Beitrag zur "Vergangenheitsbewältigung". Anders als deutsche Historiker, die sich um eine faktenverlässliche Dokumentation von Verfolgung und Vernichtung bemühten, so Klüger, seien die Schriftsteller auf der Suche nach einer "Wunschvergangenheit". "Denkprobleme", so formuliert sie es in dem Eröffnungsessay der aktuellen Sammlung, "die uns das einzigartige Phänomen wie die Shoah stellt", können nicht von der Literatur gelöst werden. Doch das Anliegen der Holocaustliteratur sei es, "dem Leser keine erschütterte Starre, die früher oder später in Ressentiment und Verdrängung umschlägt, zu gönnen". Nicht erst seit Hitler habe die deutsche Literatur ein "Judenproblem", was sie anhand etwa des "Hungerpastors" von Wilhelm Raabe ebenso belegt wie an Wolfgang Koeppens "Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch" und Alfred Anderschs "Efraim".
Was verbindet Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur der letzten zweihundert Jahre? Gibt es diese Verbindung überhaupt und, wenn ja, lässt sich aus ihr etwas lernen? In ihrem zweiten Erinnerungsbuch, "unterwegs verloren", erzählt Ruth Klüger, wie sie einmal in Irvine in Kalifornien, wo sie an der Universität Literaturwissenschaft unterrichtete, ein Abendessen gab, um einen deutschen Anglisten mit einem englischen Germanisten zusammenzubringen. Der Eingeladene trat ins Haus und ging an der Gastgeberin grußlos vorbei direkt auf den Ehrengast zu. Eine grobe Unhöflichkeit und Klüger fragt: Warum? "Weil man mit Frauen und Juden so umspringen kann? Die Frau als Opfer, der Jude als Frau." Ruth Klügers Leben war durchzogen von derlei Erfahrung der Juden- wie der Frauenfeindlichkeit, und in der deutschen Literatur fand sie reichlich Beispiele dafür, dass sie mit der Parallelisierung der beiden nicht falschlag. Irene Heidelberger-Leonard ist diesen Spuren in ihrem Essay "Der Jude als Frau" nachgegangen. Sie schreibt, für Klüger seien "Frausein und Judesein Trägerfiguren spezifischer stereotypischer Klischees", und zwar sowohl in "verklärender wie verdammender Absicht", bei philosemitischen Autoren (etwa Andersch, etwa Grass) angewiesen auf "den großmütigen Schutz widerständiger nicht-jüdischer Männer".
Ruth Klüger ist eine sehr genaue Leserin, sie liest auch, was nach Antisemitismus oder Frauenfeindlichkeit schmeckt ("sonst würde ich mir zuviel entgehen lassen"), und sie zitiert reichlich. In Koeppens "Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch" heißt es etwa, und zwar aus dem Mund des jüdischen Holocaust-Überlebenden und Titelhelden: "Ich sage, es ist genug getötet worden. Der Mensch hat genug Blut vergossen." Woraufhin Ruth Klüger entgeistert fragt: Der Mensch? Blut vergossen? Das ginge doch genauer, wenn es um die Wahrheit ginge.
"Zeugensprache" hat Ruth Klüger diesen Essay über Koeppen und Andersch genannt. Sie geht darin der Frage nach, die heute immer noch, immer wieder aktuell gestellt wird, nämlich die nach dem Ich-Erzähler - "scheinbar das abgedroschenste Problem der Literaturwissenschaft, eine Frage von Technik und Theorie". Und doch ist es im Zusammenhang mit Erzählungen im genau umrissenen zeitgeschichtlichen Rahmen von Antisemitismus, Judenverfolgung und Rassismus keineswegs ein abgedroschenes, sondern ein virulentes Problem: Wer darf Ich sagen, wenn der offensichtlich dokumentarische Charakter eines Textes nahelegt, Autor oder Autorin und das Ich im Text seien identisch? Es sich also um ein Zeugnis, ein Bezeugen von historischer Erfahrung handelt? Was, wenn wie im Fall Koeppen, eine Geschichte erst im Laufe des Schreibens die eigene wird, nicht im Erleben?
Es sind Fragen der Aneignung, über die Ruth Klüger vor mehr als einem Vierteljahrhundert bereits nachdachte und in der genauen Lektüre vermeintlicher "Opfertexte" die Täterphantasie heraussezierte. Für literaturhistorisch Interessierte wie für eine Vertiefung aktueller Debatten gilt: mehr Ruth Klüger lesen! Diese beiden Bücher kommen zur rechten Zeit. VERENA LUEKEN
Ruth Klüger: "Anders lesen". Juden und Frauen in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Essays.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023. 264 S., geb., 26,- Euro.
Gesa Dane, Gail K. Hart (Hrsg.): "Ich kann eigentlich nichts als lesen und schreiben." Zum literaturwissenschaftlichen Werk von Ruth Klüger.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023. 216 S., geb., 28,- Euro.
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