Das saturierte Leben von Randolph Tiefenthaler scheint mit dem Kauf der schönen Berliner Altbauwohnung seine Erfüllung zu finden. Der Architekt und seine Familie ahnen nichts Böses, als der schrullige Herr Tiberius ihnen Kuchen vor die Tür stellt. Doch bald wird der Nachbar aus dem Souterrain unheimlich. Er beobachtet Tiefenthalers Frau, schreibt erst verliebte, dann verleumderische Briefe, erstattet sogar Anzeige. Die Ehe stürzt in eine Krise, das bloße Dasein des Nachbarn vergiftet den Alltag. Tiefenthaler vertraut lange auf den Rechtsstaat, der aber zeigt sich hilflos gegenüber dem Stalker. Die zerstörte Sicherheit erschüttert Tiefenthaler im Innersten. Denn er kennt die Angst schon lange. Sein eigener Vater ist ein Waffennarr, als Kind musste Randolph schießen lernen und fürchtete stets das Schlimmste. Vater und Sohn sind sich seit Jahren fremd - doch nun bringt die unerträgliche Situation Randolph auf einen entsetzlichen Gedanken ... Dirk Kurbjuweit schildert mit beklemmender Spannung, wie Ohnmacht eine Familie zur Selbstjustiz treibt. «Angst» ist das Psychogramm einer Gewalttat, die Geschichte einer extremen, in ihrer Sprachlosigkeit berührenden Vater-Sohn-Beziehung - und ein erzählerisches Experiment, das die dünne Haut unserer bürgerlichen Zivilisation auf die Zerreißprobe stellt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2013Angriff auf die innere Sicherheit
Schutz der Fassaden: Dirk Kurbjuweits packendes Psychodrama "Angst" erzählt von einer Familie, die in einen Albtraum gerät, vor dem sie auch die deutsche Justiz nicht retten kann.
Es empfiehlt sich, mit der Altbauwohnung auch das Verhältnis zum eigenen Vater zu pflegen. Der Vater im Haus erspart den Mörder, wenn man einen braucht. Und Randolph Tiefenthaler, ein unauffälliger Architekt, der seine Stunden am liebsten im gediegenen Ambiente Berliner Sterne-Restaurants verbringt, weil er sich mit niemandem stilvoller unterhalten kann als mit sich selbst, braucht dringend einen Mörder, seit er den Glauben an den Rechtsstaat verlor: "Ich hatte lange genug darüber nachgedacht", sagt er, "es musste nun geschehen."
Und also geschieht es wie auf Knopfdruck. Wobei man sagen muss, dass der Gedanke, eine Waffe auf einen Kopf zu richten und abzufeuern, so ganz taufrisch nicht war. Denn schon als Autoverkäufer, damals, irgendwo im Weitweitweg der alten Bundesrepublik, trug Tiefenthalers Vater eine Pistole im Holster unter der Achsel, er packte sie ein, wenn sie zum Einkaufen fuhren, sie war im Auto versteckt, wenn es von Berlin aus durch die DDR westwärts ging, und aus seiner Leidenschaft für Waffen, Schießvereine und Selbstverteidigungskurse machte der Senior nie einen Hehl.
Ob die Bücher daran schuld sind? "Mein Vater hatte als Junge viele Abenteuerbücher gelesen, und sie hatten ihn zu einem Abenteurer gemacht, einem Abenteurer, der noch keine Abenteuer erlebt hatte." Nein, nicht die Bücher. Schuld ist die Angst, die neue Formen findet, was immer man gegen sie unternimmt, und je mehr man den Bericht liest, mit dem Randolph Tiefenthaler auf dieses Leben mit einem bewaffneten Vater zurückblickt, diese als Suche nach Ansatzpunkten für einen familiären Neubeginn verkleidete Beichte, umso mehr scheinen seine Ängste dem Zeitgeist entsprungen.
Was einen wiederum rätseln macht, wie es um die Ängste in einem Villenviertel bestellt ist, in dem die SUVs nur so über den Asphalt jagen. Sie lassen dort sogar die Fassaden schützen.
Der unangenehme Mensch, der die demonstrative, vom Duft einer teuren Espressomaschine umwehte Geborgenheit der Familie Tiefenthaler bedroht, wohnt jedenfalls kaum zufällig im Souterrain. Er ist Mieter und nicht Wohnungseigentümer wie Tiefenthaler, er hat keine Arbeit. Ein Have-Not inmitten des Wohlstands. Ein Einzelgänger in Sichtweite dessen, was sich auf dem Hochparterre als Vater-Mutter-Kind-Glück präsentiert. Die Tiefenthalers nennen ihn den "Untermenschen".
In dem Moment liegen die Nerven allerdings blank. Denn "Herr Tiberius", die zivilisierte Form ist Programm, bedrängt Tiefenthalers Frau mit obszönen Briefen, er gafft durchs Schlafzimmerfenster, zeigt die Eltern schlussendlich aus heiterem Himmel wegen vermeintlichen Kindesmissbrauchs an, und dies alles bringt in Tiefenthaler, der bei den Anwälten und Polizisten auf ratloses Schulterzucken stößt, allmählich den Entschluss zum finalen Rettungsschuss hervor: "Mein Ruf ist mir wichtig. Das macht ein bürgerliches Leben so empfindlich. Ein Gerücht reicht aus, auch wenn es haltlos ist." Wenn der Sozialhilfeempfänger austickt, reicht die Achse des Bösen bis in den Garten.
Umso selbstverständlicher stellt sich der Architekt, als es getan ist, als reflexionsgewandter Bildungsbürger die Frage, ob nicht vielleicht doch (das wäre wohl die Männlichkeit gewesen, über deren Verlust er so viel nachdenkt) auch eine handfeste Abreibung gereicht hätte. Eine Vertreibung per Scheckbuch. Oder ein Umzug. Um zugleich wiederum gegen das möchtegerntolerante, Verständnis für den benachteiligten Tiberius anmahnende Gutmenschentum zu wüten, mit dem die Freunde das Problem kleinreden. Alles, was diesen Mord mitverschuldet oder verhindert haben könnte, soll auf den Tisch.
Der Text, der dabei entsteht, besticht durch eine detailreiche, schnittige, im Windkanal des Magazin-Journalismus optimierte Sprache. Sie macht Dirk Kurbjuweits Thriller "Angst", dieses als Skizze der bürgerlichen Befindlichkeiten verpackte Psychodrama, das auf einer realen Erfahrung des Schriftstellers aufsetzt, zu einer bemerkenswert leichten Lektüre. Einzig den nach etwas mehr als hundert Seiten einmontierten Hinweis, die Geschichte spiele in der Zeit vor dem Anti-Stalking-Gesetz, "und ich weiß nicht, ob es uns geholfen hätte", vergaß der Autor zu justieren.
Doch wie präzise hat er die Getriebe der Angst und der Liebe verzahnt! Vor Tiberius hatte sich Tiefenthaler ohne Anlass und Affäre aus seiner Ehe "hinausgeschlichen", die Kinder gerieten ihm zu "Schutzschilden vor dem Alleinsein" mit seiner Frau, und das Verhältnis zum Vater, dessen Ängste er nie verstehen konnte, war ähnlich komplex wie das zu einem Bruder, der sich dem Traum vom sozialen Aufstieg entzog. Jetzt kommen die Gefühle zurück, gelobt er Besserung und jenen Schutz, den der Staat einer Familie nicht zu geben vermag. Er erkennt: "Nicht der da zerstört meine Familie, sondern ich."
Nur ist eben auch das ein ebenso egozentrischer wie pathetischer Satz: Tiberius bleibt ein Albtraum, Tiefenthaler ohnmächtig. Bis Tiefenthaler senior die Pistole in den Altbau trägt wie andere, dem Nachwuchs bei der Familiensanierung helfende Väter ihren Werkzeugkasten. Nachher wird er sagen: "Ich bin so stolz auf dich."
MATTHIAS HANNEMANN.
Dirk Kurbjuweit: "Angst". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013. 256 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schutz der Fassaden: Dirk Kurbjuweits packendes Psychodrama "Angst" erzählt von einer Familie, die in einen Albtraum gerät, vor dem sie auch die deutsche Justiz nicht retten kann.
Es empfiehlt sich, mit der Altbauwohnung auch das Verhältnis zum eigenen Vater zu pflegen. Der Vater im Haus erspart den Mörder, wenn man einen braucht. Und Randolph Tiefenthaler, ein unauffälliger Architekt, der seine Stunden am liebsten im gediegenen Ambiente Berliner Sterne-Restaurants verbringt, weil er sich mit niemandem stilvoller unterhalten kann als mit sich selbst, braucht dringend einen Mörder, seit er den Glauben an den Rechtsstaat verlor: "Ich hatte lange genug darüber nachgedacht", sagt er, "es musste nun geschehen."
Und also geschieht es wie auf Knopfdruck. Wobei man sagen muss, dass der Gedanke, eine Waffe auf einen Kopf zu richten und abzufeuern, so ganz taufrisch nicht war. Denn schon als Autoverkäufer, damals, irgendwo im Weitweitweg der alten Bundesrepublik, trug Tiefenthalers Vater eine Pistole im Holster unter der Achsel, er packte sie ein, wenn sie zum Einkaufen fuhren, sie war im Auto versteckt, wenn es von Berlin aus durch die DDR westwärts ging, und aus seiner Leidenschaft für Waffen, Schießvereine und Selbstverteidigungskurse machte der Senior nie einen Hehl.
Ob die Bücher daran schuld sind? "Mein Vater hatte als Junge viele Abenteuerbücher gelesen, und sie hatten ihn zu einem Abenteurer gemacht, einem Abenteurer, der noch keine Abenteuer erlebt hatte." Nein, nicht die Bücher. Schuld ist die Angst, die neue Formen findet, was immer man gegen sie unternimmt, und je mehr man den Bericht liest, mit dem Randolph Tiefenthaler auf dieses Leben mit einem bewaffneten Vater zurückblickt, diese als Suche nach Ansatzpunkten für einen familiären Neubeginn verkleidete Beichte, umso mehr scheinen seine Ängste dem Zeitgeist entsprungen.
Was einen wiederum rätseln macht, wie es um die Ängste in einem Villenviertel bestellt ist, in dem die SUVs nur so über den Asphalt jagen. Sie lassen dort sogar die Fassaden schützen.
Der unangenehme Mensch, der die demonstrative, vom Duft einer teuren Espressomaschine umwehte Geborgenheit der Familie Tiefenthaler bedroht, wohnt jedenfalls kaum zufällig im Souterrain. Er ist Mieter und nicht Wohnungseigentümer wie Tiefenthaler, er hat keine Arbeit. Ein Have-Not inmitten des Wohlstands. Ein Einzelgänger in Sichtweite dessen, was sich auf dem Hochparterre als Vater-Mutter-Kind-Glück präsentiert. Die Tiefenthalers nennen ihn den "Untermenschen".
In dem Moment liegen die Nerven allerdings blank. Denn "Herr Tiberius", die zivilisierte Form ist Programm, bedrängt Tiefenthalers Frau mit obszönen Briefen, er gafft durchs Schlafzimmerfenster, zeigt die Eltern schlussendlich aus heiterem Himmel wegen vermeintlichen Kindesmissbrauchs an, und dies alles bringt in Tiefenthaler, der bei den Anwälten und Polizisten auf ratloses Schulterzucken stößt, allmählich den Entschluss zum finalen Rettungsschuss hervor: "Mein Ruf ist mir wichtig. Das macht ein bürgerliches Leben so empfindlich. Ein Gerücht reicht aus, auch wenn es haltlos ist." Wenn der Sozialhilfeempfänger austickt, reicht die Achse des Bösen bis in den Garten.
Umso selbstverständlicher stellt sich der Architekt, als es getan ist, als reflexionsgewandter Bildungsbürger die Frage, ob nicht vielleicht doch (das wäre wohl die Männlichkeit gewesen, über deren Verlust er so viel nachdenkt) auch eine handfeste Abreibung gereicht hätte. Eine Vertreibung per Scheckbuch. Oder ein Umzug. Um zugleich wiederum gegen das möchtegerntolerante, Verständnis für den benachteiligten Tiberius anmahnende Gutmenschentum zu wüten, mit dem die Freunde das Problem kleinreden. Alles, was diesen Mord mitverschuldet oder verhindert haben könnte, soll auf den Tisch.
Der Text, der dabei entsteht, besticht durch eine detailreiche, schnittige, im Windkanal des Magazin-Journalismus optimierte Sprache. Sie macht Dirk Kurbjuweits Thriller "Angst", dieses als Skizze der bürgerlichen Befindlichkeiten verpackte Psychodrama, das auf einer realen Erfahrung des Schriftstellers aufsetzt, zu einer bemerkenswert leichten Lektüre. Einzig den nach etwas mehr als hundert Seiten einmontierten Hinweis, die Geschichte spiele in der Zeit vor dem Anti-Stalking-Gesetz, "und ich weiß nicht, ob es uns geholfen hätte", vergaß der Autor zu justieren.
Doch wie präzise hat er die Getriebe der Angst und der Liebe verzahnt! Vor Tiberius hatte sich Tiefenthaler ohne Anlass und Affäre aus seiner Ehe "hinausgeschlichen", die Kinder gerieten ihm zu "Schutzschilden vor dem Alleinsein" mit seiner Frau, und das Verhältnis zum Vater, dessen Ängste er nie verstehen konnte, war ähnlich komplex wie das zu einem Bruder, der sich dem Traum vom sozialen Aufstieg entzog. Jetzt kommen die Gefühle zurück, gelobt er Besserung und jenen Schutz, den der Staat einer Familie nicht zu geben vermag. Er erkennt: "Nicht der da zerstört meine Familie, sondern ich."
Nur ist eben auch das ein ebenso egozentrischer wie pathetischer Satz: Tiberius bleibt ein Albtraum, Tiefenthaler ohnmächtig. Bis Tiefenthaler senior die Pistole in den Altbau trägt wie andere, dem Nachwuchs bei der Familiensanierung helfende Väter ihren Werkzeugkasten. Nachher wird er sagen: "Ich bin so stolz auf dich."
MATTHIAS HANNEMANN.
Dirk Kurbjuweit: "Angst". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013. 256 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Harald Jähner ist begeistert von der "psychologischen Intensität" des Romans "Angst" und führt das Fingerspitzengefühl seines Kollegen Dirk Kurbjuweit auf die autobiografischen Züge zurück. Im sachlichen Stil schildere der Protagonist und Ich-Erzähler Randolph Tiefenthaler, wie seine Familie mehr und mehr von dem stalkenden Nachbar Dieter Tiberius tyrannisiert wird. Tiefenthaler plagt die Sorge, dass die Gerüchte, die sein Nachbar über ihn verbreitet, für bare Münze genommen werden könnten. Besonders die "gemessene und beherrschte" Beschreibung des Missbrauchsvorwurfs gefallen Jähner sehr. Die mutige Entscheidung, den Mord an dem Stalker zu Beginn schon vorauszusagen, tue der Spannung des Buches keinen Abbruch, lobt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2013Angst ist ein Familienmitglied
Nach seinem Afghanistan-Buch „Kriegsbraut“ entdeckt Dirk Kurbjuweit das bürgerliche Berlin als Krisengebiet.
Sein Stalking-Roman „Angst“ stellt die Frage nach der Selbstjustiz – und verfängt sich in einem literarischen Dilemma
VON LOTHAR MÜLLER
An dem Erfahrungskern, aus dem dieser Roman herausgewachsen ist, hat sein Autor, kaum war das Buch erschienen, in Interviews und Talkshows keinen Zweifel gelassen. Er selbst, sagt der Spiegel-Reporter Dirk Kurbjuweit, sei einmal von einem Stalker heimgesucht worden, einem nicht abschüttelbaren Quälgeist, der ihm und seiner Familie das Leben zur Hölle gemacht – und in seinem Kopf schließlich die unabweisbare Wunschvorstellung hervorgerufen habe, den Quälgeist zu erschießen.
Wenn der Roman beginnt, ist die Schwelle vom Gedanken zur Tat schon überschritten. Nur auf den ersten paar Seiten könnte man meinen, der Erzähler besuche seinen Vater in einer Heilanstalt oder dergleichen, aber dann wird rasch klar, dass der Vater im Gefängnis sitzt, weil er einen gewissen Herrn Tiberius durch einen Nahschuss in den Kopf getötet hat. Klar wird auch, dass dieser Tiberius Mieter im Souterrain der Wohnung des Sohnes war. Und vor allem wird klar, dass der Sohn mit dieser Tat einverstanden war: „Ich hoffte nicht wirklich auf einen Unfall, ich wollte diesen Mord, ich hatte lange genug darüber nachgedacht, er musste nun geschehen.“
Im Frühjahr 2011 hat Dirk Kurbjuweit den Roman „Kriegsbraut“ veröffentlicht, eine mit literarischen Mitteln unternommene Reise in ein aktuelles Krisengebiet. Er schrieb darin die Erkundung eines moralischen Dilemmas fort, die er ein halbes Jahr zuvor in einem Spiegel-Essay über den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan begonnen hatte. Nun, in dem Roman „Angst“, liegt das Krisengebiet im bürgerliche Berlin, in einem schönen Altbau mit Garten in Lichterfelde. Dort sitzt der gut situierte Architekt Randolph Tiefenthaler, verheiratet, Vater von zwei kleinen Kindern, am Schreibtisch und rekapituliert, wie es zur Tat des Vaters kam.
Dafür hat ihm der Autor zwei Erzählstränge in die Hand gegeben. Der eine, weit zurückgreifende, handelt davon, wie die Angst bei den Tiefenthalers zum Familienmitglied wurde. Und der andere handelt vom Quälgeist, vom Mieter Tiberius im Souterrain. 1962, im Jahr der Kubakrise, ist Randolph Tiefenthaler geboren, im frisch eingemauerten West-Berlin, von einer Mutter, in der eine tief sitzende Kriegsangst rumort, als Sohn eines Waffennarren, der bei einem Autohändler arbeitet und mit seinen Schießübungen erfolglos irgendeinen Dämon in seinem Inneren bekämpft. In einem bündigen Satz fasst der Architekt das Gesetz seiner Kindheit zusammen: „Für mich war zu Hause ein Ort, an dem man erschossen werden konnte.“
Dass die Bedrohung nicht von außen kommt, sondern aus dem Inneren des eigenen Hauses, diesen Grundakkord vieler Horrorromane schlägt Kurbjuweit in der West-Berliner Kindheit seines Helden an, um den Boden für die Bedrohung von außen zu bereiten, die in Gestalt von Herrn Tiberius im gegenwärtigen Berlin über die Familie Tiefenthaler hereinbricht.
Herr Tiberius ist, was man einen Stalker nennt. Aber er begnügt sich nicht damit, anzügliche Bemerkungen zu machen, wenn Rebekka, die schöne Frau des Architekten, ihre Slips zum Trocknen aufhängt. Und auch dass er ihr aufdringliche Liebesbriefe schreibt und nächstens ins Schlafzimmer des Ehepaars Tiefenthaler späht, ist nur der Anfang. Zielsicher steuert er auf die höchste Eskalationsstufe zu, in der er die Tiefenthalers beschuldigt, ihre Kinder sexuell zu missbrauchen – und damit einen Verdacht in die Welt setzt, dem die Polizei nachgehen muss.
Während Randolph Tiefenthaler davon erzählt, wie sich sein Leben in ein Krisengebiet verwandelte, führt ihm sein Autor, der Reporter und Verfasser zeitdiagnostischer Essays gelegentlich ein wenig die Feder. Denn er hat den Architekten nicht von ungefähr zu einem Pazifisten und Rechtsstaatsfanatiker gemacht, den die Angst vor dem waffenstarrenden Vater zu einem leidenschaftlichen Lobredner des staatlichen Gewaltmonopols werden ließ.
Und so spukt bald durch den Roman ein Essay über die Frage, ob man sich eigentlich im Milieu der Berliner „neuen Bürgerlichkeit“ auf die zur Schau gestellte Liberalität und Kultiviertheit verlassen kann. Beim Durchfahren der DDR, so notiert der Essay einmal en passant, verhielten sich die Westdeutschen der Elterngeneration wie die kuschenden Untertanen, als die sie nach der Wende die ehemaligen DDR-Bürger verspotteten. Und nun dekliniert Randolph Tiefenthaler in seinem Altenbau in Lichterfeld die Charakteristika des neubürgerlichen Milieus, in das er aufgestiegen ist, im Panikmodus durch.
Seine Ehe ist schon in der Krise, ehe Herr Tiberius auf den Plan tritt – aber diese Krise hat nicht die Form einer Affäre, sondern die einer gastronomischen Obsession. Der Architekt betrügt seine Frau mit sündhaft teuren Feinschmeckerlokalen, in denen er alleine speist; wenn er Freunde einlädt, dann wird über die Vorzüge von Privatschulen oder eben über die Bürgerlichkeit diskutiert und was dazugehört. Und auch, als Herr Tiberius schon die letzte Eskalationsstufe zündet, hat Randolph Tiefenthaler noch immer das Ziel, den Quälgeist loszuwerden, ohne den Verlockungen der Gewalt nachzugeben.
Er ist aber eine Romanfigur, um eben dies zu tun, um den Waffenträger im Vater zu entsichern wie einen Revolver und in sich selbst der Verlockung der Gewalt nachzugeben. Hier aber, wo er zum Kronzeugen des Verdachts wird, es gebe im aufgeklärten Berliner Bürgertum eine Notstandsgesetzgebung, die das Gewaltmonopol des Staates außer Kraft setzt, beginnt die literarische Problemzone des Romans.
Zwar gelingt es ihm mit leichter Hand, die Enttäuschungen ins Bild zu setzen, die der Rechtsstaat der Familie bei ihrem Abwehrkampf bereitet: aus seiner Wohnung kann der mittellose Hartz IV-Empfänger Tiberius nicht vertrieben werden, eine Verleumdungsklage würde sich hinziehen und ihn auch nicht auf Dauer unschädlich machen. Und auch die Verlockungen einer „tschetschenischen“ Lösung lässt der Roman in Gestalt einiger Nebenfiguren, die ihre schlagkräftigen Dienste anbieten, hinreichend anschaulich werden.
Aber der Plot, den sich Kurbjuweit ausgedacht hat, verpflichtet ihn zu mehr als nur zur Erzählung einer Geschichte, in der Gefühle von Angst und Ohnmacht das liberale Selbstbewusstsein seines Protagonisten so sehr durchlöchern, dass er schließlich zur Selbstjustiz greift, also in seinen eigenen Augen zum Barbaren wird. Der Plot verpflichtet seinen Helden auch dazu, der Tat ins Auge zu sehen, nachdem sie getan und zur Erinnerung geworden ist.
Das stellt sehr hohe Anforderungen an die Form der Ich-Erzählung, und je mehr der Roman auf seine Schlusspointe zusteuert, desto deutlicher wird, dass Kurbjuweit das dunkle Zentrum des Romans, den Tötungsakt, zwar braucht, um den zeithistorischen Essay über die inneren Krisengebiete des Bürgertums mit einem Ernstfall auszustatten. Aber er muss sich dieses dunkle Zentrum zugleich vom Hals halten, darf nicht erlauben, dass es im Innern seines Ich-Erzählers die Bedeutung gewinnt, die ihm zusteht.
Darum gibt es in „Angst“ zwar unkontrollierbare Bilder, die aus den Briefen Tiberius’ aufsteigen, in denen er den angeblichen Kindesmissbrauch schildert. Es gibt aber keine Bilder der Tat, die dem Verfolger den Garaus macht. Es gibt die Vorgeschichte dieser Tat, und es gibt die Nachgeschichte, den Bericht vom Prozess, die Besuche im Gefängnis beim verurteilten Vater.
Dieses Aussparen der Tat, das über sie verhängte Bilderverbot, entspringt nicht nur der Verblendung, mit der sich der Architekt in der Billigung seiner Tat verschanzt. Der Autor verhängt über seinen Ich-Erzähler dieses Bildertabu, um seinen Plot nicht zu gefährden. Die Ich-Erzählung, eine ideale Sonde der Erforschung von Krisengebieten, bleibt durch dieses Tabu unter ihren Möglichkeiten. Das ist eine große Schwäche dieses Romans.
Schnell ist das Gewaltmonopol
des Staates außer Kraft gesetzt,
wenn der Ernstfall eintritt
Was passiert, wenn eine ganz normale Familie zur Zielscheibe eines Verfolgers wird und sich der schöne Altbau mit Garten in den Schauplatz eines privaten Stellungskrieges verwandelt?
NIELS JÖRGENSENFOTO: CATHERINA HESS
Dirk Kurbjuweit, geboren 1962 in Wiesbaden, arbeitet als politischer Korrespondent für den Spiegel und lebt in Berlin. Für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Von ihm sind bislang sechs Romane erschienen.
FOTO: SABINE SAUER
Dirk Kurbjuweit: Angst. Roman. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 256 Seiten, 18,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Nach seinem Afghanistan-Buch „Kriegsbraut“ entdeckt Dirk Kurbjuweit das bürgerliche Berlin als Krisengebiet.
Sein Stalking-Roman „Angst“ stellt die Frage nach der Selbstjustiz – und verfängt sich in einem literarischen Dilemma
VON LOTHAR MÜLLER
An dem Erfahrungskern, aus dem dieser Roman herausgewachsen ist, hat sein Autor, kaum war das Buch erschienen, in Interviews und Talkshows keinen Zweifel gelassen. Er selbst, sagt der Spiegel-Reporter Dirk Kurbjuweit, sei einmal von einem Stalker heimgesucht worden, einem nicht abschüttelbaren Quälgeist, der ihm und seiner Familie das Leben zur Hölle gemacht – und in seinem Kopf schließlich die unabweisbare Wunschvorstellung hervorgerufen habe, den Quälgeist zu erschießen.
Wenn der Roman beginnt, ist die Schwelle vom Gedanken zur Tat schon überschritten. Nur auf den ersten paar Seiten könnte man meinen, der Erzähler besuche seinen Vater in einer Heilanstalt oder dergleichen, aber dann wird rasch klar, dass der Vater im Gefängnis sitzt, weil er einen gewissen Herrn Tiberius durch einen Nahschuss in den Kopf getötet hat. Klar wird auch, dass dieser Tiberius Mieter im Souterrain der Wohnung des Sohnes war. Und vor allem wird klar, dass der Sohn mit dieser Tat einverstanden war: „Ich hoffte nicht wirklich auf einen Unfall, ich wollte diesen Mord, ich hatte lange genug darüber nachgedacht, er musste nun geschehen.“
Im Frühjahr 2011 hat Dirk Kurbjuweit den Roman „Kriegsbraut“ veröffentlicht, eine mit literarischen Mitteln unternommene Reise in ein aktuelles Krisengebiet. Er schrieb darin die Erkundung eines moralischen Dilemmas fort, die er ein halbes Jahr zuvor in einem Spiegel-Essay über den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan begonnen hatte. Nun, in dem Roman „Angst“, liegt das Krisengebiet im bürgerliche Berlin, in einem schönen Altbau mit Garten in Lichterfelde. Dort sitzt der gut situierte Architekt Randolph Tiefenthaler, verheiratet, Vater von zwei kleinen Kindern, am Schreibtisch und rekapituliert, wie es zur Tat des Vaters kam.
Dafür hat ihm der Autor zwei Erzählstränge in die Hand gegeben. Der eine, weit zurückgreifende, handelt davon, wie die Angst bei den Tiefenthalers zum Familienmitglied wurde. Und der andere handelt vom Quälgeist, vom Mieter Tiberius im Souterrain. 1962, im Jahr der Kubakrise, ist Randolph Tiefenthaler geboren, im frisch eingemauerten West-Berlin, von einer Mutter, in der eine tief sitzende Kriegsangst rumort, als Sohn eines Waffennarren, der bei einem Autohändler arbeitet und mit seinen Schießübungen erfolglos irgendeinen Dämon in seinem Inneren bekämpft. In einem bündigen Satz fasst der Architekt das Gesetz seiner Kindheit zusammen: „Für mich war zu Hause ein Ort, an dem man erschossen werden konnte.“
Dass die Bedrohung nicht von außen kommt, sondern aus dem Inneren des eigenen Hauses, diesen Grundakkord vieler Horrorromane schlägt Kurbjuweit in der West-Berliner Kindheit seines Helden an, um den Boden für die Bedrohung von außen zu bereiten, die in Gestalt von Herrn Tiberius im gegenwärtigen Berlin über die Familie Tiefenthaler hereinbricht.
Herr Tiberius ist, was man einen Stalker nennt. Aber er begnügt sich nicht damit, anzügliche Bemerkungen zu machen, wenn Rebekka, die schöne Frau des Architekten, ihre Slips zum Trocknen aufhängt. Und auch dass er ihr aufdringliche Liebesbriefe schreibt und nächstens ins Schlafzimmer des Ehepaars Tiefenthaler späht, ist nur der Anfang. Zielsicher steuert er auf die höchste Eskalationsstufe zu, in der er die Tiefenthalers beschuldigt, ihre Kinder sexuell zu missbrauchen – und damit einen Verdacht in die Welt setzt, dem die Polizei nachgehen muss.
Während Randolph Tiefenthaler davon erzählt, wie sich sein Leben in ein Krisengebiet verwandelte, führt ihm sein Autor, der Reporter und Verfasser zeitdiagnostischer Essays gelegentlich ein wenig die Feder. Denn er hat den Architekten nicht von ungefähr zu einem Pazifisten und Rechtsstaatsfanatiker gemacht, den die Angst vor dem waffenstarrenden Vater zu einem leidenschaftlichen Lobredner des staatlichen Gewaltmonopols werden ließ.
Und so spukt bald durch den Roman ein Essay über die Frage, ob man sich eigentlich im Milieu der Berliner „neuen Bürgerlichkeit“ auf die zur Schau gestellte Liberalität und Kultiviertheit verlassen kann. Beim Durchfahren der DDR, so notiert der Essay einmal en passant, verhielten sich die Westdeutschen der Elterngeneration wie die kuschenden Untertanen, als die sie nach der Wende die ehemaligen DDR-Bürger verspotteten. Und nun dekliniert Randolph Tiefenthaler in seinem Altenbau in Lichterfeld die Charakteristika des neubürgerlichen Milieus, in das er aufgestiegen ist, im Panikmodus durch.
Seine Ehe ist schon in der Krise, ehe Herr Tiberius auf den Plan tritt – aber diese Krise hat nicht die Form einer Affäre, sondern die einer gastronomischen Obsession. Der Architekt betrügt seine Frau mit sündhaft teuren Feinschmeckerlokalen, in denen er alleine speist; wenn er Freunde einlädt, dann wird über die Vorzüge von Privatschulen oder eben über die Bürgerlichkeit diskutiert und was dazugehört. Und auch, als Herr Tiberius schon die letzte Eskalationsstufe zündet, hat Randolph Tiefenthaler noch immer das Ziel, den Quälgeist loszuwerden, ohne den Verlockungen der Gewalt nachzugeben.
Er ist aber eine Romanfigur, um eben dies zu tun, um den Waffenträger im Vater zu entsichern wie einen Revolver und in sich selbst der Verlockung der Gewalt nachzugeben. Hier aber, wo er zum Kronzeugen des Verdachts wird, es gebe im aufgeklärten Berliner Bürgertum eine Notstandsgesetzgebung, die das Gewaltmonopol des Staates außer Kraft setzt, beginnt die literarische Problemzone des Romans.
Zwar gelingt es ihm mit leichter Hand, die Enttäuschungen ins Bild zu setzen, die der Rechtsstaat der Familie bei ihrem Abwehrkampf bereitet: aus seiner Wohnung kann der mittellose Hartz IV-Empfänger Tiberius nicht vertrieben werden, eine Verleumdungsklage würde sich hinziehen und ihn auch nicht auf Dauer unschädlich machen. Und auch die Verlockungen einer „tschetschenischen“ Lösung lässt der Roman in Gestalt einiger Nebenfiguren, die ihre schlagkräftigen Dienste anbieten, hinreichend anschaulich werden.
Aber der Plot, den sich Kurbjuweit ausgedacht hat, verpflichtet ihn zu mehr als nur zur Erzählung einer Geschichte, in der Gefühle von Angst und Ohnmacht das liberale Selbstbewusstsein seines Protagonisten so sehr durchlöchern, dass er schließlich zur Selbstjustiz greift, also in seinen eigenen Augen zum Barbaren wird. Der Plot verpflichtet seinen Helden auch dazu, der Tat ins Auge zu sehen, nachdem sie getan und zur Erinnerung geworden ist.
Das stellt sehr hohe Anforderungen an die Form der Ich-Erzählung, und je mehr der Roman auf seine Schlusspointe zusteuert, desto deutlicher wird, dass Kurbjuweit das dunkle Zentrum des Romans, den Tötungsakt, zwar braucht, um den zeithistorischen Essay über die inneren Krisengebiete des Bürgertums mit einem Ernstfall auszustatten. Aber er muss sich dieses dunkle Zentrum zugleich vom Hals halten, darf nicht erlauben, dass es im Innern seines Ich-Erzählers die Bedeutung gewinnt, die ihm zusteht.
Darum gibt es in „Angst“ zwar unkontrollierbare Bilder, die aus den Briefen Tiberius’ aufsteigen, in denen er den angeblichen Kindesmissbrauch schildert. Es gibt aber keine Bilder der Tat, die dem Verfolger den Garaus macht. Es gibt die Vorgeschichte dieser Tat, und es gibt die Nachgeschichte, den Bericht vom Prozess, die Besuche im Gefängnis beim verurteilten Vater.
Dieses Aussparen der Tat, das über sie verhängte Bilderverbot, entspringt nicht nur der Verblendung, mit der sich der Architekt in der Billigung seiner Tat verschanzt. Der Autor verhängt über seinen Ich-Erzähler dieses Bildertabu, um seinen Plot nicht zu gefährden. Die Ich-Erzählung, eine ideale Sonde der Erforschung von Krisengebieten, bleibt durch dieses Tabu unter ihren Möglichkeiten. Das ist eine große Schwäche dieses Romans.
Schnell ist das Gewaltmonopol
des Staates außer Kraft gesetzt,
wenn der Ernstfall eintritt
Was passiert, wenn eine ganz normale Familie zur Zielscheibe eines Verfolgers wird und sich der schöne Altbau mit Garten in den Schauplatz eines privaten Stellungskrieges verwandelt?
NIELS JÖRGENSENFOTO: CATHERINA HESS
Dirk Kurbjuweit, geboren 1962 in Wiesbaden, arbeitet als politischer Korrespondent für den Spiegel und lebt in Berlin. Für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Von ihm sind bislang sechs Romane erschienen.
FOTO: SABINE SAUER
Dirk Kurbjuweit: Angst. Roman. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 256 Seiten, 18,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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«Angst» zeigt eindringlich, wie dünn und wenig belastbar die Haut der Zivilisation in Wahrheit doch ist, und bestätigt damit jene Einsicht, an die zuletzt der Kriminalpsychiater Hans-Ludwig Kröber erinnert hat: Jeder von uns kann zum Mörder werden. Der Tagesspiegel
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