Die »Politik der Straße« hat Hochkonjunktur, wirft aber auch Fragen auf. Sind Versammlungen als Ausdruck der Souveränität des Volkes aus radikaldemokratischer Perspektive zu begrüßen oder geben sie Anlass zur Sorge vor der Herrschaft des »Mobs«? Und wer ist überhaupt »das Volk«? Judith Butler geht den Dynamiken und Taktiken öffentlicher Versammlungen unter den derzeit herrschenden ökonomischen und politischen Bedingungen auf den Grund. Fluchtpunkt dieses hochpolitischen Buches ist eine Ethik des gewaltlosen Widerstands in einer gefährdeten Welt, in der die Grundlagen solidarischen Handelns allmählich zerfallen oder zerstört werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2016Was erscheint denn da auf Straßen und Plätzen?
Hier ist theoretischer Jargon Programm: Judith Butler zerbricht sich den Kopf über öffentliche Versammlungen
Wer den Titel liest, wird sich hinsichtlich des zu erwartenden Inhalts keinen Illusionen hingeben: "Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung" verspricht das neue Buch von Judith Butler. Dass sich über das politische Phänomen der Versammlung auch Theoretisches sagen lässt, mag einleuchten, warum diese Theorie aber "performativ" ist, bleibt den theoretisch nicht Eingeweihten erst einmal unverständlich. Wer das Buch trotzdem öffnet, tut es wahrscheinlich, weil Judith Butler keine Unbekannte ist: Seit ihrer Analyse über "Das Unbehagen der Geschlechter" gehört sie zu den renommiertesten Autorinnen einer feministischen Theorie des Poststrukturalismus. Und das bedeutet zunächst vor allem: Die komplizierte Sprache ist Programm. "Performativ" ist Butlers Theorie durch die Verknüpfung von Sprache, Handlung und Ereignis. "Eine Äußerung bringt das, was sie beinhaltet, hervor", erklärt Butler: "Es ist kein Zufall, dass die erste performative Äußerung im Allgemeinen Gott zugeschrieben wird. Er sagt: ,Es werde Licht', und schon ist Licht da."
Sprache beschreibt aus dieser Perspektive also nicht nur die Welt, sondern sie bringt sie hervor. Unsere Benennungen sind wiederum mit Normen verknüpft, die uns laut Butler von Kindesbeinen eingeimpft werden und uns geradezu produzieren. Die Normen formten "die gelebten Arten der Verkörperung, die wir uns im Laufe der Zeit aneignen", sprich: Wir nennen jemanden "weiblich" oder "männlich", und schon ist er oder sie es auch - zumindest in der Welt, die wir auf Grundlage dieser Benennungen geschaffen haben. Geschlechtszuweisungen solcher Art nennt Butler "Gender-Performativität". Der performative Akt ist folglich immer auch mit Identität verknüpft - und das alles, so ist in dieser Theorieschule nicht erst seit Butler zu lernen, resultiert aus unserer Konstruktion der Wirklichkeit, weshalb es zu unserer wichtigsten Aufgabe gehört, die Welt mit all ihren Erscheinungen zu dekonstruieren.
So weit in Andeutungen der theoretische Vorbau des Buches. Für jeden, der weder zu den Mitstreitern Butlers gehört noch die theoretischen Überhöhungen des Poststrukturalismus liebt, ist die Lektüre eine Zumutung. Doch das allein ist noch kein Argument gegen das Buch. Die Frage lautet: Was lernen wir aus ihm über das Wesen von Versammlungen?
Seit dem Arabischen Frühling und "dem Auftauchen großer Menschenmengen auf dem Tahrir-Platz", erklärt Butler, sei "das Interesse an der Form und Wirkung öffentlicher Versammlungen wiedererwacht". Sie konstatiert ein "Missverhältnis zwischen der politischen Form der Demokratie und dem Prinzip der Volkssouveränität" und erkennt in unvorhersehbaren Versammlungen ein politisches Potential. Ihrem gesellschaftskritischen Anspruch bleibt Butler dabei treu: "Es kann keinen Eintritt in die Erscheinungssphäre ohne eine Kritik an den differenziellen Machtstrukturen geben, die diese Sphäre konstituieren, und ohne eine kritische Allianz, in der sich die Unberücksichtigten, die Untauglichen - die Gefährdeten - verbünden, um neue Erscheinungsformen zu etablieren, die jene Machtstrukturen zu überwinden versuchen." Die tägliche Erfahrung "des Neoliberalismus" hinterlasse bei riesigen Bevölkerungsgruppen, die im Zustand der "Prekarität" verharrten, "das Gefühl eines beschädigten Lebens".
Unter Prekarität versteht Butler die "ungleiche Verteilung von Gefährdetheit"; aufgrund der sozialen Ungleichheit seien bestimmte Bevölkerungsteile, die "Unbetrauerbaren", stärker von Verletzung, Tod und Gewalt betroffen als andere. Eine entscheidende Rolle spielt bei alledem - und das ist das Besondere an Butlers Analyse - der Körper: die körperliche Erscheinung, die "Verkörpertheit des Volkes", die "verkörperte Handlungsfähigkeit". "Was wir aber vor allem sehen, wenn Körper auf Straßen, Plätzen oder an anderen öffentlichen Orten zusammenkommen, ist die - wenn man so will, performative - Ausübung des Rechts zu erscheinen, eine körperliche Forderung nach besseren Lebensbedingungen." Aus diesem Grund geht es Butler um eine Politik des Körpers, dessen Präsenz dem Sprechakt vorgeschaltet ist.
Sehr konkret, in der Reflexion aber einseitig ist Butler in Bezug auf das Verschleierungsverbot in Frankreich, das sie für diskriminierend hält. Muslimische Frauen würden in ihrer Freiheit beschnitten, indem ihnen das Recht aberkannt werde, "in einer Weise öffentlich zu erscheinen, die ihre Religionszugehörigkeit zum Ausdruck bringt". Den Einwand, dass die Vollverschleierung der Frauen gerade nicht als Ausdruck ihrer Freiheit anzusehen ist, sondern als das genaue Gegenteil, lässt Butler nicht gelten.
Vereinzelt lassen sich manche der hochkomplizierten Gedankengänge vielleicht nachvollziehen, doch wo ist der rote Faden in diesem Buch? Der Titel ist wohl wortgenau zu verstehen: Es sind tatsächlich bloß "Anmerkungen", schon erschienene Aufsätze und zum Teil neu geschriebene Texte, die hier versammelt sind. Wer so etwas wie einen durchgeschriebenen Text in Buchform erwartet, wird enttäuscht. Umso schwieriger ist es für den Leser, die Quintessenz aus dieser ohnehin schon schwer verständlichen "performativen Theorie der Versammlung" zu ziehen.
Was genau ist die zentrale Botschaft? Welchen politischen und theoretischen Mehrwert haben wir von der normativen "Konstruktion des Menschlichen", von Wortschöpfungen wie "vordiskursiv", "resignifizieren" oder "chiasmisch", noch dazu "innerhalb des von gegenhegemonialen Erkenntnisformen erschlossenen epistemischen Feldes"? "Ich bin selbst eine Allianz", lernen wir von Butler. Wie bitte? "Denn wenn ich hier und dort bin", fährt die Autorin fort, "bin ich auch nie vollständig dort, und selbst wenn ich hier bin, bin ich doch immer mehr als vollständig hier." Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort, möchte man mit Hannes Wader fröhlich kapitulierend weitersingen.
Wenn wir uns die Annahme zu eigen machten, nach der Sprache die Welt nicht nur beschreibt, sondern sie hervorbringt: Wie sähe die Welt aus, wenn wir ihre Benennung ausschließlich den Poststrukturalisten überließen? Wären wir - die Normalsterblichen, die nicht zu den Groupies der performativen Theorie der Postmoderne gehören - in einer solchen Welt überhaupt lebensfähig? Nach der Lektüre ihres neuesten Werks sind daran erhebliche Zweifel angebracht.
HANNAH BETHKE
Judith Butler:
"Anmerkungen zu einer
performativen Theorie der Versammlung".
Aus dem Englischen von Frank Born. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 312 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier ist theoretischer Jargon Programm: Judith Butler zerbricht sich den Kopf über öffentliche Versammlungen
Wer den Titel liest, wird sich hinsichtlich des zu erwartenden Inhalts keinen Illusionen hingeben: "Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung" verspricht das neue Buch von Judith Butler. Dass sich über das politische Phänomen der Versammlung auch Theoretisches sagen lässt, mag einleuchten, warum diese Theorie aber "performativ" ist, bleibt den theoretisch nicht Eingeweihten erst einmal unverständlich. Wer das Buch trotzdem öffnet, tut es wahrscheinlich, weil Judith Butler keine Unbekannte ist: Seit ihrer Analyse über "Das Unbehagen der Geschlechter" gehört sie zu den renommiertesten Autorinnen einer feministischen Theorie des Poststrukturalismus. Und das bedeutet zunächst vor allem: Die komplizierte Sprache ist Programm. "Performativ" ist Butlers Theorie durch die Verknüpfung von Sprache, Handlung und Ereignis. "Eine Äußerung bringt das, was sie beinhaltet, hervor", erklärt Butler: "Es ist kein Zufall, dass die erste performative Äußerung im Allgemeinen Gott zugeschrieben wird. Er sagt: ,Es werde Licht', und schon ist Licht da."
Sprache beschreibt aus dieser Perspektive also nicht nur die Welt, sondern sie bringt sie hervor. Unsere Benennungen sind wiederum mit Normen verknüpft, die uns laut Butler von Kindesbeinen eingeimpft werden und uns geradezu produzieren. Die Normen formten "die gelebten Arten der Verkörperung, die wir uns im Laufe der Zeit aneignen", sprich: Wir nennen jemanden "weiblich" oder "männlich", und schon ist er oder sie es auch - zumindest in der Welt, die wir auf Grundlage dieser Benennungen geschaffen haben. Geschlechtszuweisungen solcher Art nennt Butler "Gender-Performativität". Der performative Akt ist folglich immer auch mit Identität verknüpft - und das alles, so ist in dieser Theorieschule nicht erst seit Butler zu lernen, resultiert aus unserer Konstruktion der Wirklichkeit, weshalb es zu unserer wichtigsten Aufgabe gehört, die Welt mit all ihren Erscheinungen zu dekonstruieren.
So weit in Andeutungen der theoretische Vorbau des Buches. Für jeden, der weder zu den Mitstreitern Butlers gehört noch die theoretischen Überhöhungen des Poststrukturalismus liebt, ist die Lektüre eine Zumutung. Doch das allein ist noch kein Argument gegen das Buch. Die Frage lautet: Was lernen wir aus ihm über das Wesen von Versammlungen?
Seit dem Arabischen Frühling und "dem Auftauchen großer Menschenmengen auf dem Tahrir-Platz", erklärt Butler, sei "das Interesse an der Form und Wirkung öffentlicher Versammlungen wiedererwacht". Sie konstatiert ein "Missverhältnis zwischen der politischen Form der Demokratie und dem Prinzip der Volkssouveränität" und erkennt in unvorhersehbaren Versammlungen ein politisches Potential. Ihrem gesellschaftskritischen Anspruch bleibt Butler dabei treu: "Es kann keinen Eintritt in die Erscheinungssphäre ohne eine Kritik an den differenziellen Machtstrukturen geben, die diese Sphäre konstituieren, und ohne eine kritische Allianz, in der sich die Unberücksichtigten, die Untauglichen - die Gefährdeten - verbünden, um neue Erscheinungsformen zu etablieren, die jene Machtstrukturen zu überwinden versuchen." Die tägliche Erfahrung "des Neoliberalismus" hinterlasse bei riesigen Bevölkerungsgruppen, die im Zustand der "Prekarität" verharrten, "das Gefühl eines beschädigten Lebens".
Unter Prekarität versteht Butler die "ungleiche Verteilung von Gefährdetheit"; aufgrund der sozialen Ungleichheit seien bestimmte Bevölkerungsteile, die "Unbetrauerbaren", stärker von Verletzung, Tod und Gewalt betroffen als andere. Eine entscheidende Rolle spielt bei alledem - und das ist das Besondere an Butlers Analyse - der Körper: die körperliche Erscheinung, die "Verkörpertheit des Volkes", die "verkörperte Handlungsfähigkeit". "Was wir aber vor allem sehen, wenn Körper auf Straßen, Plätzen oder an anderen öffentlichen Orten zusammenkommen, ist die - wenn man so will, performative - Ausübung des Rechts zu erscheinen, eine körperliche Forderung nach besseren Lebensbedingungen." Aus diesem Grund geht es Butler um eine Politik des Körpers, dessen Präsenz dem Sprechakt vorgeschaltet ist.
Sehr konkret, in der Reflexion aber einseitig ist Butler in Bezug auf das Verschleierungsverbot in Frankreich, das sie für diskriminierend hält. Muslimische Frauen würden in ihrer Freiheit beschnitten, indem ihnen das Recht aberkannt werde, "in einer Weise öffentlich zu erscheinen, die ihre Religionszugehörigkeit zum Ausdruck bringt". Den Einwand, dass die Vollverschleierung der Frauen gerade nicht als Ausdruck ihrer Freiheit anzusehen ist, sondern als das genaue Gegenteil, lässt Butler nicht gelten.
Vereinzelt lassen sich manche der hochkomplizierten Gedankengänge vielleicht nachvollziehen, doch wo ist der rote Faden in diesem Buch? Der Titel ist wohl wortgenau zu verstehen: Es sind tatsächlich bloß "Anmerkungen", schon erschienene Aufsätze und zum Teil neu geschriebene Texte, die hier versammelt sind. Wer so etwas wie einen durchgeschriebenen Text in Buchform erwartet, wird enttäuscht. Umso schwieriger ist es für den Leser, die Quintessenz aus dieser ohnehin schon schwer verständlichen "performativen Theorie der Versammlung" zu ziehen.
Was genau ist die zentrale Botschaft? Welchen politischen und theoretischen Mehrwert haben wir von der normativen "Konstruktion des Menschlichen", von Wortschöpfungen wie "vordiskursiv", "resignifizieren" oder "chiasmisch", noch dazu "innerhalb des von gegenhegemonialen Erkenntnisformen erschlossenen epistemischen Feldes"? "Ich bin selbst eine Allianz", lernen wir von Butler. Wie bitte? "Denn wenn ich hier und dort bin", fährt die Autorin fort, "bin ich auch nie vollständig dort, und selbst wenn ich hier bin, bin ich doch immer mehr als vollständig hier." Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort, möchte man mit Hannes Wader fröhlich kapitulierend weitersingen.
Wenn wir uns die Annahme zu eigen machten, nach der Sprache die Welt nicht nur beschreibt, sondern sie hervorbringt: Wie sähe die Welt aus, wenn wir ihre Benennung ausschließlich den Poststrukturalisten überließen? Wären wir - die Normalsterblichen, die nicht zu den Groupies der performativen Theorie der Postmoderne gehören - in einer solchen Welt überhaupt lebensfähig? Nach der Lektüre ihres neuesten Werks sind daran erhebliche Zweifel angebracht.
HANNAH BETHKE
Judith Butler:
"Anmerkungen zu einer
performativen Theorie der Versammlung".
Aus dem Englischen von Frank Born. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 312 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zu diesem Buch werden nur eingefleischte Butler-Fans und Freunde poststrukturalistischer Überhöhungen greifen, glaubt Hannah Bethke. Und selbst jene Leser muss die Kritikerin vorwarnen: Durchaus interessant sei Butlers Ansatz, mit Blick etwa auf den Arabischen Frühling das wiedererwachte Interesse an öffentlichen Versammlungen zu untersuchen und die Bedeutung der körperlichen Präsenz abgehängter Bevölkerungsgruppen als "performative Ausübung" des Rechts herauszuarbeiten. Zwischen all den komplizierten Gedankengängen dieser "Anmerkungen" fällt es Bethke jedoch schwer, einen roten Faden, eine zentrale Botschaft oder wenigstens einen politischen oder theoretischen Mehrwert auszumachen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.11.2016Wir sind nicht das Volk
Öffentliche Proteste sind Ausdruck der Demokratie, erklärt Judith Butler – und gerät in ein Dilemma: Sind sie alle gleich gut und haben sie alle dasselbe Ziel?
Amerika wählt, endlich. Es ist eine allgemeine Wahl, wie man auf Englisch sagt, eine „general election“. Und es waren die Väter der amerikanischen Verfassung, die vor 230 Jahren begründet haben, warum solch eine allgemeine Wahl durch die gesamte Nation gut sei: Man könne sich nicht auf örtliche Versammlungen und direktdemokratische Einzelentscheidungen verlassen. Erstens wäre dies in einem riesigen Flächenstaat ohnehin nicht praktikabel. Und zweitens wäre es auch gefährlich, den Volkswillen so ungefiltert regieren zu lassen, ja, der Präsident und die Repräsentanten würden dem Volkswillen sogar in edlerer Form zu seinem Recht verhelfen.
An dieser Veredelung dessen, was das Volk will, gibt es heute, am Ende des Wahlkampfes zwischen Donald Trump und Hillary Clinton, berechtigte Zweifel, gelinde gesagt. Aber die amerikanische Philosophin und Feministin Judith Butler fordert deshalb in ihrem neuen, demokratietheoretischen Buch nicht die Einführung der Direktdemokratie in den USA. Vielmehr versucht sie auf dem Weg zu einer „Theorie der Versammlung“ zu erklären, warum öffentliche Zusammenkünfte als ein Ausdruck der Demokratie, auch ohne Stimmrecht, die Wahlen ergänzen müssen.
Der Volkssouveränität, so schreibt Judith Butler in den besten Passagen ihres Buches, „eignet etwas, das jeder parlamentarischen Form, die sie ja einsetzt und begründet, entgegenläuft, das sie übersteigt oder übertrifft“. Man könne von „einem permanenten Prinzip der Revolution sprechen, das demokratischen Ordnungen innewohnt“. Natürlich sind, das weiß auch Judith Butler, niemals alle gleichzeitig anwesend, die „das Volk“ repräsentieren. Es genügt der Hinweis auf jene Demonstrationen, die besonders laut behaupten: „Wir sind das Volk!“ Aber Butler schreibt zum Charakter eines solchen „Volks“-Begriffs treffend: „Die Brüchigkeit und Heftigkeit, die den hegemonialen Kampf um den Namen kennzeichnen, sind nichts als Anzeichen seines demokratischen Wirkens.“
Was Butler da liefert, sind Ansätze einer neuen, linken Theorie der Demonstration unter aktuellen Bedingungen, also dessen, was man vor Längerem APO nannte, außerparlamentarische Opposition. Die Bedeutung der medialen Vermittlung, der Smartphones und des Internets wird dabei einbezogen; die Versammlungsfreiheit gehe heute über ein nationales Grundrecht hinaus, weil es „transnationale Bündnisformen oder globale Netzwerke“ gebe. Und was da jeweils medial übertragen und verbreitet werde, das hänge dennoch, ja erst recht ab von der physischen Präsenz von Protestierenden auf konkreten Straßen und Plätzen in den USA und überall auf der Welt.
Solche Proteste seien immer auch ein Auftritt des „Volkes“, schreibt Butler, „auch wenn sie notwendigerweise partiell sind“. Daher hat schon die Versammlung an sich, in der Demokratie und/oder für die Demokratie, als non-verbales Geschehen eine „performative“ Bedeutung – und das ist die oft wiederholte Kernthese dieses Buches: „Die versammelten Körper ,sagen‘: ,Wir sind nicht frei verfügbar‘, ob sie dazu Worte benutzen oder nicht.“
Als Judith Butler begann, ihre Argumentation zu entwickeln, stand sie noch sehr stark unter dem Eindruck verschiedener imposanter Demo-Wellen und Erhebungen: „Occupy Wall Street“, „Arabischer Frühling“, der Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo und später im Gezi-Park in Istanbul. Und damit sind wir beim ersten Problem dieses Werkes, was allerdings ein interessantes Dokument daraus macht, nämlich ein Dokument der Ernüchterung.
Es beginnt mit den früheren Texten und Reden, die in das Buch eingegangen sind, darunter auch die Frankfurter Adorno-Preis-Dankesrede von 2012; und es endet mit Pegida (noch im Buch enthalten) und Donald Trump (nicht mehr im Buch enthalten). Denn während bei Butler – und ebenso in der Weltöffentlichkeit – zunächst die eher diffuse radikaldemokratische Vorstellung dominierte, Protest sei irgendwie immer gut, auf der Straße sowieso, klingt es dann in ihren Texten, die 2014/2015 entstanden sind, schon ganz anders. Dort die Konterrevolution gegen die Muslimbrüder in Ägypten, hier die islamfeindlichen Demonstrationen in Deutschland und anderswo – und schon heißt es nun über das Volk: „Der Wert der Körper auf der Straße hängt davon ab, wofür sie sich versammeln und wie die Versammlung abläuft.“ Es folgt also ein Kater auf den Rausch, den die Energie des Demos spendete: „Ich verstehe diese Erregung“, so blickt Judith Butler auf die vergangenen Jahre zurück, „und habe selbst aus ihr heraus geschrieben.“
Das zweite große Problem des Buches ist dann, dass Judith Butler trotz dieser gewachsenen Einsicht an vielen Stellen daran festgehalten hat, die Ziele von öffentlichen Versammlungen doch über einen Kamm zu scheren. Sie richten sich angeblich allesamt gegen einen einzigen verwerflichen Missstand, und der heißt „Prekarität“ oder „Prekarisierung“. Dies hängt damit zusammen, dass Judith Butler, die als Professorin im kalifornischen Berkeley lehrt, einerseits für die Anerkennung sexueller Diversität und die Kritik von Geschlechternormen eintritt, also grob verkürzt die umstrittene Gender-Theorie, für die sie berühmt geworden ist. Andererseits aber hat Judith Butler ganz allgemein eine kapitalismus- und autoritätskritische Grundhaltung. Um aber nun eine Brücke zwischen beidem zu bauen, sind ihr entsprechende „Allianzen“ wichtig.
Das klingt dann etwa so: „Prekarität ist die Rubrik, die Frauen, Queers, Trans-Personen, Arme, anders Begabte, Staatenlose, aber auch religiöse und ethnische Minderheiten unter sich vereinigt.“ Eine solche Sichtweise führt dazu, dass riskante Proteste gegen diktatorische und antiliberale Regimes munter mit Gewerkschaftsprotesten gegen „Neoliberalismus“, mit Widerstand gegen Diskriminierung oder mit elitären Bildungs-Demos von westlichen Mittelklasse-Studierenden gleichgesetzt werden. Aus denselben Gründen spricht Butler hier durchgehend von „Körpern“, wo sie auch einfach „Bürgerinnen und Bürger“ oder „Menschen“ sagen könnte.
Aber der umstandslose Übergang von der Gender-Frage zur sozialen Gerechtigkeit und zurück ist tatsächlich nur durch falsche Umkehrschlüsse zu haben, nach dem Muster: Sie haben alle zu kämpfen, also haben sie dasselbe Ziel. In extrem ungenauer Weise soll es da um „gleichermaßen lebbares Leben“ und „die egalitäre Verteilung öffentlicher Güter“ gehen. Gehören die Donald-Trump-Anhänger dann nicht auch zum Kampf gegen „Prekarität“? Sind sie wirklich mit denen im Bunde, die ein Adoptionsrecht für Homosexuelle oder den Schutz von Burka-Trägerinnen fordern? Jedenfalls liegt hier eine entweder sehr naive oder eine sehr dirigistische Vorstellung davon zugrunde, was „Politik“ alles zu leisten hat; und wie sich das Regieren zum Aktivismus verhält.
Das ist nicht darum so schlimm, weil es die Lektüre – neben den bedenkenswerten demokratietheoretischen Abschnitten – immer wieder stilistisch und inhaltlich zur Pein macht. Nein, es ist deshalb fahrlässig, weil Judith Butlers Werke von vielen Anhängern weltweit wie heilige Schriften gelesen werden.
JOHAN SCHLOEMANN
Sie kämpfen gegen „Prekarität“
– auch die Trump-Anhänger?
Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung.
Aus dem Englischen von Frank Born. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 312 Seiten,
28 Euro, E-Book 23,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Öffentliche Proteste sind Ausdruck der Demokratie, erklärt Judith Butler – und gerät in ein Dilemma: Sind sie alle gleich gut und haben sie alle dasselbe Ziel?
Amerika wählt, endlich. Es ist eine allgemeine Wahl, wie man auf Englisch sagt, eine „general election“. Und es waren die Väter der amerikanischen Verfassung, die vor 230 Jahren begründet haben, warum solch eine allgemeine Wahl durch die gesamte Nation gut sei: Man könne sich nicht auf örtliche Versammlungen und direktdemokratische Einzelentscheidungen verlassen. Erstens wäre dies in einem riesigen Flächenstaat ohnehin nicht praktikabel. Und zweitens wäre es auch gefährlich, den Volkswillen so ungefiltert regieren zu lassen, ja, der Präsident und die Repräsentanten würden dem Volkswillen sogar in edlerer Form zu seinem Recht verhelfen.
An dieser Veredelung dessen, was das Volk will, gibt es heute, am Ende des Wahlkampfes zwischen Donald Trump und Hillary Clinton, berechtigte Zweifel, gelinde gesagt. Aber die amerikanische Philosophin und Feministin Judith Butler fordert deshalb in ihrem neuen, demokratietheoretischen Buch nicht die Einführung der Direktdemokratie in den USA. Vielmehr versucht sie auf dem Weg zu einer „Theorie der Versammlung“ zu erklären, warum öffentliche Zusammenkünfte als ein Ausdruck der Demokratie, auch ohne Stimmrecht, die Wahlen ergänzen müssen.
Der Volkssouveränität, so schreibt Judith Butler in den besten Passagen ihres Buches, „eignet etwas, das jeder parlamentarischen Form, die sie ja einsetzt und begründet, entgegenläuft, das sie übersteigt oder übertrifft“. Man könne von „einem permanenten Prinzip der Revolution sprechen, das demokratischen Ordnungen innewohnt“. Natürlich sind, das weiß auch Judith Butler, niemals alle gleichzeitig anwesend, die „das Volk“ repräsentieren. Es genügt der Hinweis auf jene Demonstrationen, die besonders laut behaupten: „Wir sind das Volk!“ Aber Butler schreibt zum Charakter eines solchen „Volks“-Begriffs treffend: „Die Brüchigkeit und Heftigkeit, die den hegemonialen Kampf um den Namen kennzeichnen, sind nichts als Anzeichen seines demokratischen Wirkens.“
Was Butler da liefert, sind Ansätze einer neuen, linken Theorie der Demonstration unter aktuellen Bedingungen, also dessen, was man vor Längerem APO nannte, außerparlamentarische Opposition. Die Bedeutung der medialen Vermittlung, der Smartphones und des Internets wird dabei einbezogen; die Versammlungsfreiheit gehe heute über ein nationales Grundrecht hinaus, weil es „transnationale Bündnisformen oder globale Netzwerke“ gebe. Und was da jeweils medial übertragen und verbreitet werde, das hänge dennoch, ja erst recht ab von der physischen Präsenz von Protestierenden auf konkreten Straßen und Plätzen in den USA und überall auf der Welt.
Solche Proteste seien immer auch ein Auftritt des „Volkes“, schreibt Butler, „auch wenn sie notwendigerweise partiell sind“. Daher hat schon die Versammlung an sich, in der Demokratie und/oder für die Demokratie, als non-verbales Geschehen eine „performative“ Bedeutung – und das ist die oft wiederholte Kernthese dieses Buches: „Die versammelten Körper ,sagen‘: ,Wir sind nicht frei verfügbar‘, ob sie dazu Worte benutzen oder nicht.“
Als Judith Butler begann, ihre Argumentation zu entwickeln, stand sie noch sehr stark unter dem Eindruck verschiedener imposanter Demo-Wellen und Erhebungen: „Occupy Wall Street“, „Arabischer Frühling“, der Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo und später im Gezi-Park in Istanbul. Und damit sind wir beim ersten Problem dieses Werkes, was allerdings ein interessantes Dokument daraus macht, nämlich ein Dokument der Ernüchterung.
Es beginnt mit den früheren Texten und Reden, die in das Buch eingegangen sind, darunter auch die Frankfurter Adorno-Preis-Dankesrede von 2012; und es endet mit Pegida (noch im Buch enthalten) und Donald Trump (nicht mehr im Buch enthalten). Denn während bei Butler – und ebenso in der Weltöffentlichkeit – zunächst die eher diffuse radikaldemokratische Vorstellung dominierte, Protest sei irgendwie immer gut, auf der Straße sowieso, klingt es dann in ihren Texten, die 2014/2015 entstanden sind, schon ganz anders. Dort die Konterrevolution gegen die Muslimbrüder in Ägypten, hier die islamfeindlichen Demonstrationen in Deutschland und anderswo – und schon heißt es nun über das Volk: „Der Wert der Körper auf der Straße hängt davon ab, wofür sie sich versammeln und wie die Versammlung abläuft.“ Es folgt also ein Kater auf den Rausch, den die Energie des Demos spendete: „Ich verstehe diese Erregung“, so blickt Judith Butler auf die vergangenen Jahre zurück, „und habe selbst aus ihr heraus geschrieben.“
Das zweite große Problem des Buches ist dann, dass Judith Butler trotz dieser gewachsenen Einsicht an vielen Stellen daran festgehalten hat, die Ziele von öffentlichen Versammlungen doch über einen Kamm zu scheren. Sie richten sich angeblich allesamt gegen einen einzigen verwerflichen Missstand, und der heißt „Prekarität“ oder „Prekarisierung“. Dies hängt damit zusammen, dass Judith Butler, die als Professorin im kalifornischen Berkeley lehrt, einerseits für die Anerkennung sexueller Diversität und die Kritik von Geschlechternormen eintritt, also grob verkürzt die umstrittene Gender-Theorie, für die sie berühmt geworden ist. Andererseits aber hat Judith Butler ganz allgemein eine kapitalismus- und autoritätskritische Grundhaltung. Um aber nun eine Brücke zwischen beidem zu bauen, sind ihr entsprechende „Allianzen“ wichtig.
Das klingt dann etwa so: „Prekarität ist die Rubrik, die Frauen, Queers, Trans-Personen, Arme, anders Begabte, Staatenlose, aber auch religiöse und ethnische Minderheiten unter sich vereinigt.“ Eine solche Sichtweise führt dazu, dass riskante Proteste gegen diktatorische und antiliberale Regimes munter mit Gewerkschaftsprotesten gegen „Neoliberalismus“, mit Widerstand gegen Diskriminierung oder mit elitären Bildungs-Demos von westlichen Mittelklasse-Studierenden gleichgesetzt werden. Aus denselben Gründen spricht Butler hier durchgehend von „Körpern“, wo sie auch einfach „Bürgerinnen und Bürger“ oder „Menschen“ sagen könnte.
Aber der umstandslose Übergang von der Gender-Frage zur sozialen Gerechtigkeit und zurück ist tatsächlich nur durch falsche Umkehrschlüsse zu haben, nach dem Muster: Sie haben alle zu kämpfen, also haben sie dasselbe Ziel. In extrem ungenauer Weise soll es da um „gleichermaßen lebbares Leben“ und „die egalitäre Verteilung öffentlicher Güter“ gehen. Gehören die Donald-Trump-Anhänger dann nicht auch zum Kampf gegen „Prekarität“? Sind sie wirklich mit denen im Bunde, die ein Adoptionsrecht für Homosexuelle oder den Schutz von Burka-Trägerinnen fordern? Jedenfalls liegt hier eine entweder sehr naive oder eine sehr dirigistische Vorstellung davon zugrunde, was „Politik“ alles zu leisten hat; und wie sich das Regieren zum Aktivismus verhält.
Das ist nicht darum so schlimm, weil es die Lektüre – neben den bedenkenswerten demokratietheoretischen Abschnitten – immer wieder stilistisch und inhaltlich zur Pein macht. Nein, es ist deshalb fahrlässig, weil Judith Butlers Werke von vielen Anhängern weltweit wie heilige Schriften gelesen werden.
JOHAN SCHLOEMANN
Sie kämpfen gegen „Prekarität“
– auch die Trump-Anhänger?
Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung.
Aus dem Englischen von Frank Born. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 312 Seiten,
28 Euro, E-Book 23,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"In Zeiten populistischer, hasserfüllter Bewegungen ist es wichtig zu fragen, was Volkssouveränität heißt und unter welchen Voraussetzungen diese der Demokratie wirklich zuträglich ist. Butlers Buch ist ein anregender Beitrag zu dieser aktuellen Debatte."
Clair-Lise Tull, WDR 04.11.2016
Clair-Lise Tull, WDR 04.11.2016