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Tagträume von einem anderen Leben: Mit seinem Familienroman "Es geht uns gut" landete der österreichische Autor Arno Geiger vor zwei Jahren überraschend einen Bestseller. Sein neuer Erzählungsband gewährt Einblick in fremde Existenzen.
Von Richard Kämmerlings
Was würde man über einen Menschen erfahren, wenn man zufällig, durch eine Verwechslung oder durch Diebstahl, in den Besitz seines Reisekoffers gelangte? Als erstes wohl sein Geschlecht, dann Äußerlichkeiten, die Maße, Kleider- und Schuhgröße, das Alter, seine materiellen Verhältnisse, manches über Geschmack und Stil. Aber vielleicht gibt es auch Persönliches: Bücher oder gar Erinnerungsstücke, Briefe oder Fotos, vielleicht aber auch Alkoholika oder Medikamente. Womöglich enthält das Gepäckstück den Bausatz für ein ganzes Leben.
Oder für eine Erzählung. In "Koffer mit Inhalt" aus dem neuen Erzählungsband von Arno Geiger bekommt der Bahnangestellte Herr Gabriel zur Pensionierung von seinen Kollegen ein Kofferset geschenkt. Herr Gabriel war dafür zuständig gewesen, herrenlose Gepäckstücke zu versteigern. Zuvor hatte er die Koffer zu "perlustrieren", auf allzu persönliche Dinge, aber auch auf pornografische Erzeugnisse, Bargeld, verderbliche Waren oder Waffen zu durchsuchen. Privat jedoch hat er sich für ihren Inhalt nie interessiert. Im Innersten der Koffer nun, die die Kollegen ihm schenken, befindet sich ein Prospekt über die Andenbahnen in Peru. Gemeinsam mit seiner Frau plant er seine Reise dorthin akribisch, gemäß den Empfehlungen des Veranstalters. Eine der notwendigen Impfungen löst bei Frau Gabriel ein Impffieber aus, an dem sie etwas später stirbt. Herr Gabriels Koffer enthielt den Tod - und für ihn ein neues, einsames Leben als Witwer.
Stellt man sich die jüngere deutschsprachige Literatur für einen Moment wie eine idealtypische Deutsche Bahn vor - mit frustrierten, unterbezahlten Lokführern, schneidigen, polyglott parlierenden Zugchefs, aber auch mit übereifrigen, auf jede Frage antwortenden Schalterbeamten, einer Menge schrulliger Provinzschaffner und einer sozial engagierten Bahnhofsmission - dann würde Arno Geiger tatsächlich so etwas wie das Fundbüro sein, die offizielle Sammelstelle für die in Taschen und Rollkoffern enthaltenen Utensilien einer Existenz, für Lebenskondensate in Hartschale. Geiger öffnet einen nach dem anderen und lässt das Inventar eine Geschichte erzählen. Vielleicht ist deshalb, weil sie seinem Selbstverständnis so genau entspricht, "Koffer mit Inhalt" eine der besseren Geschichten dieses Bandes, den Geiger nun seinem Romanerfolg "Es geht uns gut" von 2005 folgen lässt.
Auch in der Titelgeschichte nimmt eine Frau, Anfang dreißig, alleinerziehende Mutter, professionell Einblick in andere Leben. Ella arbeitet als erotischer Lockvogel im Dienste misstrauischer Frauen, die die Treue ihrer Partner prüfen wollen. Bei ihren Rendezvous hat es sich Ella zur Gewohnheit gemacht, sich selbst immer eine neue Biographie zu erfinden (auch das ist wieder als erzählerische Selbstreflexion zu lesen). Zugleich, und das hebt die Story über die "Sex-and-the-City"-Ebene hinaus, wird Ella ihre kleine Tochter fremd. Überall in der Wohnung hängen Zettel mit der Mahnung "Anna nicht vergessen" - damit über dem habituellen Maskenspiel das eigene Leben nicht durch die Finger gleitet.
Das ist ein starker Einstieg, doch schon die zweite Geschichte kann das Niveau nicht halten: Ein junger Mann, der in Berlin weder privat noch beruflich Fuß fassen konnte, verbringt die Nacht vor seiner Abreise auf dem Sofa einer Kellnerin. Am nächsten Morgen gibt er sich gegenüber einem Handwerker als glücklicher Lebensgefährte seiner Zufallsbekanntschaft aus. Der Tagtraum vom anderen Leben als Flucht aus der eigenen, verkrachten Existenz - das bleibt hier banal.
Schon "Es geht uns gut", mit Hilfe des Deutschen Buchpreises überraschend zum Bestseller geworden, hatte die Stärken wie die Schwächen des Erzählers Arno Geiger gezeigt. Bei dieser österreichischen Familiengeschichte stachen die historischen Passagen durch ihre Tiefenschärfe und psychologische Einfühlungskraft klar hervor gegenüber den eher matten und klischeehaften Beziehungs- und Existenzkrisen der jüngeren Vergangenheit. Auf der Habenseite dieses Erzählungsbandes stehen vor allem diejenigen, die zeitlich weiter zurückgreifen: In "Samstagshunde" etwa trifft sich im Mai 1981 heimlich eine Gruppe von führenden österreichischen Sozialisten, um in einem Buchauslieferungslager Schießübungen zu machen; vor diesem grotesken Hintergrund von Bonzentum und Terrorfurcht wird nebenbei das Porträt einer Frau entworfen, die die Geliebte mehrerer der Teilzeitcowboys ist und in der sich Zeitgeschichte wie in einem Fadenkreuz bündelt. Ähnliches gilt für den Tonbandmonolog einer verlassenen Frau in "Also, das wär's so ziemlich", die im weltpolitisch turbulenten Jahr 1973 die Beziehung zu ihrem ausgewanderten jüdischen Liebhaber wortreich und zugleich stockend aufarbeitet - Fernbeziehungstragik im Zeitalter vor Internet und Mobiltelefon.
Guter Hausrat ist teuer.
Aber wie schwach ist dagegen das zeitgenössische Gegenstück "Es rührt sich nichts"! Dass die jederzeit mögliche Kommunikation per Handy und SMS bei einem pathologischen Kontrollfreak in Überwachungswahn umkippt, ist wenig originell - und kein Stoff für fünfundzwanzig Seiten! Ähnlich schwach das Macho-Porträt in "Feindesland": "Ich komme von der Firma nach Hause, bin erschöpft und bräuchte mindestens anderthalb Stunden Ruhe. Aber kaum ist das Kind zu Bett gebracht, marschiert meine Frau an und will mich berühren." Was soll aus einem solchen Anfang noch werden; würde man in einem Koffer voller Nadelstreifenanzügen, Kondomen und Männermagazinen weiterstöbern wollen? Eine Mischung aus Ressentiment und Sozialkritik bietet schließlich "Das Gedächtnisprotokoll oder die Auflistung der bei der Brandlegung durch den Gärtnergehilfen zerstörten Einrichtungsgegenstände und Besitztümer", das über fünfzehn Seiten das Inventar einer Wiener Nobelvilla auflistet. Auch das ist Geiger; da wurde in seinem Fundbüro halt ein ganzer Schiffscontainer abgegeben, zollfrei, aber im literarischen Gegenwert gleich null.
Wer einen unbekannten Koffer öffnet, kann einen Schatz entdecken oder nur schmutzige Wäsche. Der Besitzer kann von einer Reise in die Anden zurückgekommen sein oder von der Beerdigung der Tante im Heimatdorf. Arno Geigers Erzählungen sind immer so interessant wie die Leben, auf die er gestoßen ist. Die Qualität steht und fällt mit den Figuren, weil Geiger über keinen wirklich eigenen Erzählton, keine Sprache verfügt, die deren Bewusstsein transzendieren und somit auch das Banale noch spannend machen würde, sondern sich stets wie ein Stimmenimitator an seine Charaktere anpasst. Vom Beamten erzählt Geiger altmodisch-bürokratisch, vom Kontrollfreak im pedantischen Protokollstil, vom Chauvinisten wie "American Psycho".
Zieht man Bilanz, ist die Hälfte der Geschichten lesenswert, noch zu erwähnen ist vor allem die letzte, die ausgerechnet "Doppelte Buchführung" heißt und die routinehaften Bemühungen eines Intensivarztes um das Leben eines Jungen mit den bedrängenden Erinnerungen an seinen eigenen kranken Vater überblendet. Sechs von zwölf Geschichten - ist der Koffer nun halbvoll oder halbleer?
- Arno Geiger: "Anna nicht vergessen". Hanser Verlag, München 2007. 256 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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"Erzählungen erfordern eine besondere Stringenz, sie müssen genau komponiert werden, und da kommen die Stärken eines Autors besser heraus, vielleicht auch die Schwächen. Bei Arno Geiger aber die Stärken. ... Der Autor kann das Beklemmende alltäglichen Scheiterns wunderbar und feingliedrig nuancieren. Er beherrscht einen Tonfall von unsentimentaler, lakonischer Härte." Sigrid Löffler, Deutschlandradio, 03.08.07
"Der Monolog einer unglücklich liebenden Frau, auf drei innerhalb des Jahres 1973 vollgesprochene Tonbänder gebannt, ist schlicht und einfach genial. ... Wie hier die Reste von sozialem Stolz, Kultiviertheit und dem diskreten Charme bourgeoisen Konversationsvermögens schließlich vor der Übermacht der Gefühle kapitulieren, das ist sprachlich so grandios und berührend gestaltet, dass einem als Leser der Atem wegbleibt." Tilman Krause, Die Welt, 04.08.07
"Arno Geiger bietet uns ein tragikomisches Kaleidoskop der Liebe in Zeiten offener Beziehungskultur." Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, 08.08.07
"Geiger beweist mit seinem neuen Erzählband aufs Neue, dass es ihm an Könnerschaft nicht mangelt. Er versteht es, auf verschiedenen Klaviaturen zu spielen, tiefsinnige, melancholische, kritische, aber auch heitere Töne anzuschlagen." Peter Landerl, Wiener Zeitung, 11.08.2007
"Im Zentrum der sprachlich fein ziselierten Miniaturen: das Greifen nach dem Glück." Reinhold Reiterer, Oberösterreichische Nachrichten, 16.08.07