Was für ein Leben! Geboren 1923 in der Bretagne, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, schon als Jugendliche Mitglied der kommunistischen Résistance, Retterin zweier jüdischer Jugendlicher - wofür sie von Yad Vashem später den Ehrentitel "Gerechte unter den Völkern" erhalten wird -, nach dem Krieg Neurophysiologin in Marseille, 1959 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wegen ihres Engagements auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung... und noch heute an Schulen ein lebendiges Beispiel für die Wichtigkeit des Ungehorsams. Anne Weber erzählt das unwahrscheinliche Leben der Anne Beaumanoir in einem brillanten biografischen Heldinnenepos. Die mit großer Sprachkraft geschilderten Szenen werfen viele Fragen auf: Was treibt jemanden in den Widerstand? Was opfert er dafür? Wie weit darf er gehen? Was kann er erreichen? Annette, ein Heldinnenepos erzählt von einer wahren Heldin, die uns etwas angeht.
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Der Buchpreis für Anne Weber feiert die Renaissance des Versepos
Als Anne Weber am Montagabend den Deutschen Buchpreis für "Annette, ein Heldinnenepos" erhielt, war das nicht nur die Entscheidung für ein fabelhaftes Werk. Es war auch ein Signal. Die Jury, satzungsgemäß angetreten, um den besten Roman des Jahres zu küren, entschied sich unter 187 eingereichten Titeln ausgerechnet für ein Versepos. Für eine Gattung also, die der des Romans eigentlich schroff gegenüberzustehen scheint - hier Lyrik, dort Prosa, vereinfacht gesagt. Wer mit seiner Entscheidung diesen Graben überbrücken will, muss mit dem Anschein rechnen, in Fragen der epischen Form hinter zweihundert Jahre Literaturgeschichte zurückzugehen. Wenn er sich nicht sogar im Mittelalter wiederfindet.
Denn wer um das Jahr 1200 in Europa episch von fiktiven Dingen erzählte, wer von Helden wie Erec, Iwein, Parzival oder Tristan berichtete, der tat dies in der Regel in gebundener Rede: "Ein ritter sô gelêret was / daz er an den buochen las / swaz er dar an geschriben vant / der was Hartmann genant", so rustikal beginnt etwa der "Arme Heinrich" des mittelhochdeutschen Dichters Hartmann von Aue. Und auch wenn die Versmaße bald ausgefeilter wurden, wenn Dante bald nach 1300 für seine "Göttliche Komödie" die Terzine und Torquato Tasso im 16. Jahrhundert für sein "Befreites Jerusalem" die Ottaverime wählte, löste der in Prosa verfasste Roman im Grunde erst im 19. Jahrhundert das Versepos endgültig als geläufigste Form des fiktionalen Erzählens ab. In der langen Zeit des Übergangs entstanden immer mehr parodistische Epen, die sich von der Stoffgeschichte abgrenzten, aber die Form beibehielten - am schönsten vielleicht Karl Immermanns komisches Heldenepos "Tulifäntchen" (1830), das von einem ebenso winzigen wie tapferen Möchtegern-Ritter erzählt, der - wie die versepische Form - nicht mehr recht in seine biedermeierliche Gegenwart passt, die Immermann hellsichtig mit den ersten Dampfrobotern der Literaturgeschichte bevölkert.
Wer von da an noch Versepen schrieb, zielte entweder auf vergangene Zeiten (wie Tennyson mit seinem Artus-Zyklus) oder dichtete in parodistischer Absicht, als modern galt er jedenfalls nur in seltenen Fällen. Als Thomas Mann mit seinem "Erwählten" seit 1948 den "Gregorius" des Hartmann von Aue neu erzählte, gab er ihm ein Vorwort mit, in dem er sich deutlich von der Versform der Vorlage abwandte, und fragt, ob Verse wie etwa "Es war ein Fürst, nommé Grimald, / der Tannewetzel macht' ihn kalt. / Der ließ zurück zween Kinder klar, / Ahî, war das ein Sünderpaar" tatsächlich eine "strengere Form" wären "als die grammatisch gediegene Prosa, in der ich jetzt sogleich meine Gnadenmär vortragen" werde. Das Versepos, so schien es Mitte des 20. Jahrhunderts, hatte mit der Gegenwartsliteratur so gut wie nichts mehr zu tun. Schon gar nicht als Form für literarische Heldenverehrung.
Ist Anne Webers "Annette" also völlig aus der Zeit gefallen, als Exponent einer seit Jahrzehnten beerdigten Gattung? Irritierenderweise häufen sich spätestens seit der Jahrtausendwende die Beispiele für einen neuen, produktiven Umgang mit der gebundenen Form als Mittel, eine Geschichte zu erzählen. Und dies oft genug als Bericht aus der Gegenwart.
Bereits in den siebziger Jahren erschienen die ersten Bände von Aras Örens türkischen Versromanen aus Deutschland, die jüngst als "Berliner Trilogie" neu erschienen sind. Sie erzählen kalkuliert und nüchtern aus dem Leben von Arbeitsmigranten, die sich in West-Berlin durchschlagen und dabei von Erinnerungen an die alte Heimat überfallen werden: "Am Halleschen Tor stieg er aus der U-Bahn, / ging über den Kanal, / zur Praxis von Dr. Ümit Sayim. / Am Zoogeschäft an der Ecke, / als er die weißen Mäuse sah, / hat er sich erinnert an den Tretmühlgaul, / daheim im Gemüsefeld, die Augen verbunden, / das quietschende Rad mit den Wassereimern, / und er, Sabri San, barfuß, kahlgeschoren, / der mit einem Stock / den Arsch des Gauls peitscht."
Hier wie in anderen modernen Romanen in freien Versen wird die umgebende Welt wie in Schnappschüssen festgehalten, die nebeneinander ein Panorama ergeben. Deutlich wird aber schon hier, dass die lyrische Form auf eine Distanz zwischen dem Dargestellten und dem Leser abzielt, dass man die Eindrücke der Protagonisten wie hinter einem leichten Schleier und jedenfalls nicht als selbstverständlich wahrnimmt. Umgekehrt lässt sich auf diese Weise etwa in Anne Carsons ungleich kunstfertigerem Roman "Rot", erschienen zunächst 1998 und erweitert 2013, auch eine mythologische Figur, hier der Herakles-Gegner Geryon, in die Gegenwart versetzen und weiterhin als Fremden zeichnen, auch der Roman "Allein das Meer" von Amos Oz, der lyrische Passagen mit Prosa mischt, entwickelt ein panoramatisches Bild aus dem Israel der Romangegenwart, aber wie aus leicht erhöhter Warte heraus betrachtet.
Bücher wie Christoph Ransmayrs Versroman "Der fliegende Berg" von 2006 dagegen stellen ein anderes Element heraus, das ebenfalls mit dieser Form verbunden ist: Es ist die Nähe zur gesprochenen, also vorgetragenen Sprache, die man in dieser Berg- und Brüdergeschichte lesend ständig zu hören meint: "Mein Atem rasselte, aber er reichte / meine Schritte waren langsam, aber unbeirrbar / und konnten mich noch höher (wie ich dachte), / viel höher führen."
Vollends geläufig aber ist die Form des Versromans inzwischen in der Jugendliteratur. Ausgerechnet hier, wo mancher gern vor allem Konvention vermutet, weil er jungen Lesern nur wenig zutraut, finden sich die aufregendsten Beispiele - Sarah Crossans Migrationsroman "Die Sprache des Wassers" etwa, der von einer jungen Schwimmerin erzählt, Ellen Hopkins' Drogenroman "Crank", der voller verstörender Leerstellen ist, Jason Reynolds' "Long Way Down", der Bericht von einer Rache im Gangmilieu, und vor allem Elizabeth Acevedo mit ihrem Roman "Poet X", der seine Form durch seinen Inhalt erklärt: Er stellt den Bericht der jungen Xiomara dar, deren Mutter aus der Dominikanischen Republik stammt und ihre Tochter im Sündenpfuhl New York mit harter Hand vor allem Übel bewahren will. Im Spoken Word Poetry Club in der Schule entdeckt sie schließlich ihre eigene Stimme, und das vorliegende Buch ist der auf diese Weise verfasste Bericht dieser Befreiung.
Auch dies ein Heldinnenepos, und in manchem vergleichbar mit Anne Webers "Annette". Zum Beispiel darin, dass eine solche Form einer schweren Geschichte Leichtigkeit und Würde zugleich verleihen, Unmittelbarkeit des Erlebens und Distanz zum Augenblick hervorbringen kann. Mag sein, dass diese Auszeichnung für Anne Weber den Blick auch dafür schärfen kann.
TILMAN SPRECKELSEN
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