Diese wie ganz durchgeistigte, leicht dahinschwebende, bis zur Unkörperlichkeit zarte Gestalt hatte etwas Fremdartiges, Elfenhaftes; sie war fast wie ein Gebilde aus einem Märchen. Die auffallend breite, hohe und ausgebildete Stirn war umgeben mit einer ungewöhnlich reichen Fülle hellblonden Haares, das zu einer hohen Krone aufgewunden auf dem Scheitel befestigt war. Die Nase war lang, fein und scharf geschnitten. Auffallend schön war der zierliche, kleine Mund mit den beim Sprechen von Anmut umlagerten Lippen und feinen Perlenzähnen. Der ganze Kopf aber war zumeist etwas vorgebeugt, als ob es der zarten Gestalt schwer werde, ihn zu tragen, oder wegen der Gewohnheit, ihr kurzsichtiges Auge ganz dicht auf die Gegenstände zu senken. So schreibt ein Liebender über seine Geliebte. Die Geliebte ist die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, über die man heute vielleicht zu wenig mehr weiß. Sie war damals nicht mehr so ganz jung, aber auch noch nicht alt und hatte in ihrem Leben wenig Glück erfahren – als Dichterin, als Mensch, als Frau. Geschrieben hat diese Zeilen Levin Schücking, der später Annettes erster Biograf werden sollte, der sich als ein Junge noch von sechzehn Jahren in die damals bereits Dreiunddreißgjährige verliebte. Das waren immerhin siebzehn Jahre Altersunterschied. Aber was macht das schon, wenn man sich liebt. Aber war es denn tatsächlich Liebe? Von beiden Seiten? Wie hat es die Dichterin empfunden? Hatte sie es sich so gewünscht? Und warum ist sie nicht geblieben? In seiner Erzählung spürt Lindner nicht nur Beziehung der Dichterin und des Jünglings nach, sondern auch den Beweggründen und Umständen ihres Schreibens und den deutschen Zuständen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die mit dem Jahr 1848 – als die Droste am 24. Mai eher wenig beachtet starb – turbulente, revolutionäre Zeiten erlebten. 1862 Jahre später veröffentlichte Schücking sein Lebensbild „Annette von Droste“, in denen er auch seine enge persönliche Beziehung zu ihr nicht verschwieg, und noch einmal vierundzwanzig Jahre später seine eigenen Memoiren. Darin nannte er die Dichterin die beste Freundin seines Lebens.