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Von der Konstanz einer Projektionsfigur: Der Historiker David Nirenberg legt ein Panorama des Judenhasses quer durch die Jahrhunderte vor.
Das Buch, das der amerikanische Historiker David Nirenberg geschrieben hat, ist keine Geschichte des Antisemitismus. Es ist weit mehr als das. Der Antisemitismus ist ein noch junger Begriff - geprägt wurde er in den Gründerjahren des Bismarckreiches, um einer erstmals rassistisch begründeten Ausgrenzung der Juden ihren Namen zu finden. Das Phänomen des Judenhasses dagegen ist sehr viel älter. Nirenberg beschreibt die Wurzeln, die ihre späten und giftigsten Blüten dann unter diesem Namen getrieben haben. Den weitverzweigten Bau, in dem der moderne Antisemitismus nur eine seiner zahlreichen Stufen bildet, nennt er Anti-Judaismus.
Der Autor ist Mediävist, aber sein Blick geht weit über das Mittelalter hinaus. Erste Spuren des Anti-Judaismus entdeckt er schon im alten Ägypten, wo dem biblischen Exodus der Israeliten bald nach seiner kanonischen Darstellung ein anderer Sinn gegeben wurde. Die Israeliten seien ein fremdes, böses Volk gewesen, das man schließlich habe vertreiben müssen: Nicht die Kinder Israel, sondern die Ägypter hätten mit dem Exodus ihre Freiheit gewonnen.
Dies ist das Grundmuster, das sich seither mit erstaunlicher Regelmäßigkeit wiederholt. Das Judentum - oder genauer: was seine Gegner von Fall zu Fall als "Judentum" ausgeben - dient Nichtjuden als Projektionsfläche, vor der sie sich der eigenen Identität vergewissern. In den Augen ihrer Gegner sind die "Juden" das Negativ, aus dem sie selbst sich zum Lichtbild entwickeln; ein psychologischer Mechanismus, der im Laufe von Jahrtausenden derart konstant bleibt, dass Nirenberg ihn als "eine andere Geschichte des westlichen Denkens" bezeichnen kann.
So lautet der Untertitel des Buches, und das Belegmaterial seiner dreizehn chronologisch angelegten, hervorragend recherchierten Kapitel ist erdrückend und bedrückend zugleich. Denn es zeigt, mit welcher Beharrlichkeit ein einmal geschaffenes Feindbild sich nicht nur endlos aufrufen, sondern unter veränderten Umständen auch immer wieder neu instrumentalisieren und entsprechend zurechtbiegen lässt.
Seine Wirksamkeit verdankt dieses Feindbild freilich nicht der ägyptischen Umdeutung des Exodus, die nur wenigen Experten bekannt ist. Die Bilder, die das westliche Denken geformt haben, finden sich in einem berühmteren Text: Auch die Autoren des Neuen Testaments deuten das Judentum, wie es schon die alten Ägypter taten - als Sündenbock, vor dem sie selbst in voller Reinheit erstrahlen.
Aber während es den Ägyptern leichtfällt, sich als Volk von den Kindern Israels loszusagen, haben die ersten Christen es damit sehr viel schwerer. Denn sie sind selbst Juden - ihr Heiland und alle seine Apostel entstammen diesem Volk -, und das färbt den Anti-Judaismus des neuen Glaubens entscheidend ein. Wie die Ägypter deuten auch die Christen den Exodus neu, aber sie gehen radikaler vor. Das Sinai-Ereignis, mit dem Gott ein Volk auserwählt und ihm seine Lehre gibt, ersetzen sie durch das Symbol des Kreuzes; den Juden sprechen sie ihre Heilsgeschichte ab, vereinnahmen sie im Namen des neuen Glaubens für sich selbst; und sie schreiben ihnen eine untilgbare Schuld zu, bezichtigen sie des Gottesmordes.
Mit den Varianten des Anti-Judaismus macht das Christentum einen ständigen Versuch, sich vom Judentum zu emanzipieren. Da das Neue Testament aber auf unlösbare Weise an die jüdische Bibel gebunden bleibt, kann der Versuch nicht gelingen. Dies ist der Grund, weshalb der Anti-Judaismus von den Kirchenvätern bis zu den Theologen des zwanzigsten Jahrhunderts eine Konstante des christlichen Denkens bildet. Nirenberg beschreibt ihn als ein Binnengespräch von Christen, an dem reale Juden keinen Anteil haben. Denn in erster Linie ist er nicht gegen die Juden gerichtet, sondern gegen die sogenannten Judaisierer - gegen Christen, die sich nicht weit genug vom Judentum entfernt haben.
Gradmesser in diesem internen Streit sind hermeneutische Kriterien, die christliche Ablösungstheologien im Laufe der Zeit entwickelten, um ihre Feinde zu erkennen. Wo sie Häresien vermuten, entdecken sie die Spuren des jüdischen "Gesetzes" und seines "toten Buchstabens", und wie sehr sie sich davor fürchten, zeigt die spanische Inquisition noch am Ende des Mittelalters. Gewaltsam sucht sie den zwangsgetauften Conversos auf ihre jüdischen Schliche zu kommen, und bald darauf, als der innerchristliche Religionskrieg mit der Reformation offen ausbricht, verwendet auch Martin Luther das gleiche Maß: Er unterscheidet zwischen "jüdischen Werken" und "christlichem Glauben".
Hier sind wir noch im Bereich eines religiösen Diskurses, erstaunlich aber ist, wie tief seine Muster sich dem abendländischen Bewusstsein in anderthalb Jahrtausenden eingeprägt haben. Auch als die europäische Kultur in die Phase ihrer Säkularisierung eintritt, führt sie ihre philosophischen und ideologischen Positionskämpfe in den alten Begriffen fort. Kant verspottet die Empiristen seiner Zeit als "Pharisäer"; für Hegel ist Kant selbst ein "Jude", weil sein Denken dem "Gesetz" verpflichtet bleibe; und Schopenhauer gibt das Kompliment an Hegel weiter, weil sein Idealismus zu erdgebunden und damit zu "jüdisch" sei.
Es ist eine der zahlreichen Sequenzen des Buches, die das Motiv des Anti-Judaismus in unerwarteten Kontexten zeigen. Nirenberg breitet sein Material in großer Dichte aus und bietet dem Leser eine lange Reihe von Denkanstößen. In einem der besten Kapitel des Buches liest Nirenberg den "Kaufmann von Venedig". Er zeigt, dass der jüdische Wucherer Shylock eine Kontrastfigur ist, an der Shakespeare in erster Linie das Verhalten der Christen misst. Nicht nur Shylock wird von materiellen Interessen beherrscht, sondern auch Bassanio, der um die reiche Erbin Portia wirbt und dafür viel Geld braucht; auch sein Freund, der Kaufmann Antonio, der es bei dem Juden für ihn ausleiht; auch Lorenzo, der dem Juden nicht nur seine Tochter Jessica entführt, sondern auch seine Dukaten. Zu Beginn der Neuzeit und ihrer wirtschaftlichen Revolution - das Stück wird 1600 uraufgeführt - lässt Shakespeares Komödie der christlich-jüdischen Missverständnisse die Motive des Anti-Judaismus Revue passieren und hinterfragt sie zugleich.
Fast zweihundert Jahre später stellt Lessing einen edlen Juden auf die Bühne. Nirenberg erwähnt Nathan den Weisen nicht, weil er kaum in die Thesen zum Anti-Judaismus passt. Er ist als Gegenpol zu Shylock konzipiert: Als er um Geld gebeten wird, gibt er es großzügig her; in der Ringparabel gibt er im Namen der Gleichheit das Gesetz des Erstgeborenen auf; und selbst den ihm teuersten Menschen, seine Ziehtochter Recha, lässt er gehen, um ihrem Glück nicht im Weg zu stehen.
Und es ist seltsam - selbst dieser edle Jude kann der Logik des Anti-Judaismus nicht entgehen. Lessings Stück ist kein Plädoyer für das Judentum, sondern für die Menschheit. Fortan soll sie in einer Welt der Vernunft glücklich werden, die keiner Religion mehr bedarf. Nathan hat das in seiner Weisheit bereits erkannt: In seinem edlen Verhalten zelebriert er die Selbstaufgabe des Judentums, von der sich viele christliche Generationen das Heil erhofft haben.
JAKOB HESSING
David Nirenberg: "Anti-Judaismus". Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. Aus dem Englischen von Martin Richter. Verlag C. H. Beck, München 2015. 592 S., geb., 38 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Norbert Copray, Publik-Forum, 20. November 2015
"Ein erhellendes und deprimierendes Buch."
Alan Posener, Die Welt, 16. Mai 2015
"Materialreich und brillant."
Helmut König, Neue Zürcher Zeitung, 13. Mai 2015