Nach dem Erfolgsdebüt „Identitti“ endlich der neue Roman von Mithu Sanyal! Auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024
London 2022, die Königin ist tot! An den Trauernden vorbei rennt Durga: internationale Drehbuchautorin, Tochter eines Inders und einer Deutschen, und voller Appetit auf Rebellion und Halluzinationen. Erzählte Mithu Sanyals gefeiertes Debüt „Identitti“ von Identitätspolitik, fragt „Antichristie“ nach dem Kolonialismus und der Gewalt in uns allen. Durga soll an einer Verfilmung der überbritischen Agatha-Christie-Krimis mitarbeiten. Doch auf einmal ist es 1906, und sie trifft indische Revolutionäre, die keineswegs gewaltfrei wie Gandhi kämpfen. Und dann explodiert die erste Bombe. Was wäre richtiger Widerstand in einer falschen Welt? Niemand schreibt so aberwitzig, klug und liebend wie Mithu Sanyal. „Antichristie“ bringt die ganze Welt in die deutschsprachige Literatur.
London 2022, die Königin ist tot! An den Trauernden vorbei rennt Durga: internationale Drehbuchautorin, Tochter eines Inders und einer Deutschen, und voller Appetit auf Rebellion und Halluzinationen. Erzählte Mithu Sanyals gefeiertes Debüt „Identitti“ von Identitätspolitik, fragt „Antichristie“ nach dem Kolonialismus und der Gewalt in uns allen. Durga soll an einer Verfilmung der überbritischen Agatha-Christie-Krimis mitarbeiten. Doch auf einmal ist es 1906, und sie trifft indische Revolutionäre, die keineswegs gewaltfrei wie Gandhi kämpfen. Und dann explodiert die erste Bombe. Was wäre richtiger Widerstand in einer falschen Welt? Niemand schreibt so aberwitzig, klug und liebend wie Mithu Sanyal. „Antichristie“ bringt die ganze Welt in die deutschsprachige Literatur.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Mithu Sanyal kennt Rezensentin Shirin Sojitrawalla als Expertin für postkoloniale Fragen, das zeigt sich ihr auch ganz deutlich im zweiten Roman der Autorin: Im Zentrum steht eine Sanyal sehr ähnliche Deutsch-Inderin, die 2022 in London an einer antirassistischen Agatha-Christie-Verfilmung arbeitet, als mit Queen Elizabeth die letzte Vertreterin des britischen Empire stirbt. Die Protagonistin kann aber auch Zeitreisen und uns ins Jahr 1906 inmitten von Kreisen hinduistischer Nationalisten und in ihre eigene Jugend der 1990er-Jahre mitnehmen, was Sojitrawalla zufolge ein wenig überladen wirkt und die Geschichte manchmal "so abrupt wie ein Auffahrunfall" die Erzählrichtung ändert. Zwischen indischem Widerstand und Genrekonventionen des Kriminalromans lernt die Kritikerin eine Menge en passant. Ein Roman, so komplex wie die Realität und mit "überbordendem Witz" erzählt, versichert die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.09.2024Muss Freiheit wehtun?
Mithu Sanyal lässt sich in ihrem Roman „Antichristie“ auf kühne Erzählstrategien ein, um zu diskutieren, ob politische Emanzipation nur mit Gewalt möglich ist.
Eine Welt ohne Suchmaschinen scheint heute undenkbar. Wie die Menschen früher durch die Welt navigieren konnten, sich neuen Bekannten nähern ohne Google, an wen man sich mit peinlichen Problemen wenden soll, wenn nicht an Google – unvorstellbar. Und so transzendiert die Weltmacht der Suchmaschine auch die historische Setzung von Mithu Sanyals Roman „Antichristie“.
Deren Heldin fällt aus dem London des Jahres 2022 in das Jahr 1906 zurück, eine versehentliche Zeitreise, bei der sie außerdem das Geschlecht wechselt: Aus Durga, Autorin eines Writers’ Room für die antirassistische Neuverfilmung von Agatha Christies Krimis, wird Sanjeev, Zaungast einer sich im London des frühen 20. Jahrhunderts formierenden Zelle der indischen Freiheitsbewegung. Aber irgendwie scheinen die Zeitschichten nicht ganz dicht zu sein: Was Durga mal gegoogelt hat, erkennt Sanjeev wieder, schiere Suggestion lässt Begriffsklärungen und Hintergründe wie von Wikipedia lange vor seiner Erfindung der handelnden Figur vor Augen stehen: „Und plötzlich wusste ich, als hätte sich in meinem Kopf eine Internetseite geöffnet“. Man stelle sich vor, wie unheimlich für einen jungen Mann der Jahrhundertwende ein ihm so geisterhaft aufgehendes Weltwissen gewesen wäre. Aber von Problemen der historischen Kontinuität macht sich Mithu Sanyal großzügig frei.
Wie lässig sie sich in fiktionalen Genres bewegt, weiß man, seit sie 2021 bisweilen bitter geführte zeitgenössische Kulturkriege in ihrer College Novel „Identitti“ geschlichtet hat. So wurde ein witziger Konversationsroman daraus. Schon zuvor hatte sie mit den Sachbüchern „Vulva“ von 2009 und „Vergewaltigung“ von 2016 offene gesellschaftliche Diskussionen um sexuelle Selbstbestimmung genau getroffen. Mithu Sanyal ist routinierter Gast vieler Podien und oft als Literaturkritikerin zu sehen, zum Beispiel als Jurorin des Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis.
Mit ihrem zweiten Roman wandert sie auf von Virginia Woolfs „Orlando“ vorgespurten Pfaden. Ihre fluide Hauptfigur wird zwar erst als „Sanjeev“ zur Ich-Erzähl-Instanz, behält aber als junges, männliches Ich das weibliche Bewusstsein von Durga aus dem 21. Jahrhundert parallel bei. Fasziniert betrachtet sie den Penis, den sie an sich entdeckt, und dann die Figuren um sich herum, in denen sie Helden und Anti-Helden wiedererkennt, von denen Durgas Eltern immer erzählt haben: Lila, ihre Duisburger, dem antikolonialen Kampf Indiens ungemein verbundene Mutter, und ihr bengalischer Vater Dinesh.
Lila ist im Jahr 2022 gerade gestorben, wie auch die Matriarchin des ihr so verhassten Empire, die britische Königin Elizabeth II. Die Trauer um die Monarchin ruft antiwoke Demonstranten gegen das postkoloniale Umschreiben sehr britischer Kriminalromane auf den Plan. Sie inszenieren Die-ins vor den Büros von Durgas Writers’ Room und befehlen den nach allen Regeln der Diversität zusammengestellten Serien-Macherinnen: „Keep calm and hands off our Queen!“ Wobei als die Königin in diesem Zusammenhang vielleicht dann doch auch Agatha Christie zu verstehen wäre.
Die Symbole, Zeitebenen und Geisteszustände dieses Romans gleiten überhaupt unablässig ineinander über, sie assoziieren sich alleine durch die Erzählstimme gebunden, die bekennt: „So musste sich das Internet fühlen, wenn es fühlen könnte. Ein Rauschen von Gedanken und Bildern flüsterte durch meine Nervenbahnen, alles Wissen und Nicht-Wissen, Wahrheit und Lüge und Irrtum und alles, alles gleichzeitig.“ Wenn man diesen Zustand weniger als Schicksal begreift denn als gewählte Erzählhaltung, scheint man es mit den Schatten der Postmoderne zu tun bekommen zu haben, oder vielleicht einfach mit einem Bewusstsein, das die Angst treibt, sich zu langweilen – und gleichzeitig die Befürchtung, sein Publikum zu verlieren, nicht verstanden zu werden.
„Antichristie“ ist nämlich randvoll an Erklärungen, content and context notes, die sich in die Dialoge der folglich sehr gesprächigen Handelnden fügen, außerdem große Mengen an Paratext, mehrere Mottos vor jedem Kapitel, Disclaimer, es gibt ein Figurenverzeichnis und ein „Abspann“ betiteltes Nachwort, das nebst Danksagungen noch mal einen Überblick über die wichtigsten Punkte der Handlung enthält.
Der Kern des Romans ist aber doch die historische Szene jenes „India House“ im London der Neunzehnhundertzehner, in dem hinter der Fassade eines Studentenwohnheims zentrale Figuren des indischen Widerstands gegen die Kolonialherrschaft Großbritanniens zusammenfinden. Die Hauptrevolutionäre Vinayak Damodar Savarkar und Madan Lal Dhingra sind jung und haben sich noch nicht aufgeschwungen zu den Taten, für die sie berühmt werden sollen. Der politische Mord am Geheimdienstchef William Hutt Curzon Wyllie, der eigentlich auch gegen den teils gleichnamigen „Vizekönig“ von Indien, Lord Curzon, geplant gewesen war, wird bei Mithu Sanyal zum Kriminalfall, zu dessen Lösung Sanjeev Sherlock Holmes zu Hilfe ruft. Nicht nur Agatha Christies belgischer Detektiv Poirot, sondern auch Arthur Conan Doyles britischer Urcharakter Sherlock bekommen also bei Mithu Sanyal postkoloniale Wiedergänger. In der WG-Küche von India House diskutieren die künftigen Verschwörer mit Gandhi, der noch nicht den Ehrentitel Mahatma trägt, über das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Dabei gleicht die Erzählstimme unentwegt das Bild, das sie sich als deutsch-indische Tochter des 21. Jahrhunderts von Gandhi gemacht hat, mit dem Anwalt im schwarzen Anzug des Jahres 1906 ab. Der Mann, sein Frauenbild, seine Reden von „unseren Pflichten bei der Verteidigung des British Empire“ sind eine herbe Enttäuschung.
Savarkar dagegen, den der heutige Persönlichkeitsanteil der Erzählerin als „Hindu-Hitler“ ablehnt, weil er in der Haft nach dem Attentat die zentrale Schrift des Hindunationalismus niederlegen wird, kommt Sanjeev zu seiner Zeit wahnsinnig verführerisch vor.
Einigermaßen hektisch durch die Zeiten springend stellt Mithu Sanyals Erzählstimme also historische Ergebnisoffenheit wieder her für die Frage, ob politische Befreiungsbewegungen und Gewalt notwendig miteinander einhergehen. Was sie sich dabei alles traut, erzähltechnisch, logisch, die historische Wertung betreffend, wird mal mindestens dem Programm ihrer Figur Durga gerecht: „Reinheit tötet Literatur“, sagt die: „Genau wie ein Podest, auf das sie gestellt wird, damit sie sich bloß nicht weiterentwickelt. Literatur ist ein wildes, neugieriges Gespräch über Generationen hinweg.“ Das man lesend gerade Zeugin eines wilden, neugierigen Gesprächs wird, mag einen trösten, sollte man lesend mal verzagt durch den Wald der Anspielungen, strapaziösen Vergleiche, Pointen und Handlungsebenen irren.
Mithu Sanyals völliges Vertrauen in das Fassungsvermögen ihres Erzählens ist allemal mitreißend. „Antichristie“ möchte im Regal offenkundig eher neben Salman Rushdies die Vorgeschichte der Unabhängigkeitserklärung Indiens magisch umreißendem Roman „Mitternachtskinder“ und Zadie Smiths „Betrug“, der Wiedervorlage eines Kriminalfalles aus der Kolonialzeit, stehen als bei der viel braveren deutschsprachigen Prosa. Die Pointe des Romans besteht jedenfalls darin, dass er Figuren wie Dhingra und Savarkar in die deutsche Literatur stellt, als hätten sie darin immer schon bekannt sein müssen. Schließlich, argumentiert Mithu Sanyal mit allen ihren guten Geistern: „Die Geschichte unserer Welt wurde immer wieder geändert. Dafür musste ich nicht in die Vergangenheit reisen. Alles was ich tun musste, war, die Geschichten zu ändern, die wir uns darüber erzählen.“
MARIE SCHMIDT
Die eigene Mutter,
die Queen, Agatha Christie:
Die Matriarchinnen sind tot
„Die Geschichte unserer Welt wurde immer wieder geändert“: Mithu Sanyal versucht es mit Literatur.
Foto: Sebastian Gollnow / DPA
Mithu Sanyal:
Antichristie. Roman.
Hanser, München 2024.
544 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mithu Sanyal lässt sich in ihrem Roman „Antichristie“ auf kühne Erzählstrategien ein, um zu diskutieren, ob politische Emanzipation nur mit Gewalt möglich ist.
Eine Welt ohne Suchmaschinen scheint heute undenkbar. Wie die Menschen früher durch die Welt navigieren konnten, sich neuen Bekannten nähern ohne Google, an wen man sich mit peinlichen Problemen wenden soll, wenn nicht an Google – unvorstellbar. Und so transzendiert die Weltmacht der Suchmaschine auch die historische Setzung von Mithu Sanyals Roman „Antichristie“.
Deren Heldin fällt aus dem London des Jahres 2022 in das Jahr 1906 zurück, eine versehentliche Zeitreise, bei der sie außerdem das Geschlecht wechselt: Aus Durga, Autorin eines Writers’ Room für die antirassistische Neuverfilmung von Agatha Christies Krimis, wird Sanjeev, Zaungast einer sich im London des frühen 20. Jahrhunderts formierenden Zelle der indischen Freiheitsbewegung. Aber irgendwie scheinen die Zeitschichten nicht ganz dicht zu sein: Was Durga mal gegoogelt hat, erkennt Sanjeev wieder, schiere Suggestion lässt Begriffsklärungen und Hintergründe wie von Wikipedia lange vor seiner Erfindung der handelnden Figur vor Augen stehen: „Und plötzlich wusste ich, als hätte sich in meinem Kopf eine Internetseite geöffnet“. Man stelle sich vor, wie unheimlich für einen jungen Mann der Jahrhundertwende ein ihm so geisterhaft aufgehendes Weltwissen gewesen wäre. Aber von Problemen der historischen Kontinuität macht sich Mithu Sanyal großzügig frei.
Wie lässig sie sich in fiktionalen Genres bewegt, weiß man, seit sie 2021 bisweilen bitter geführte zeitgenössische Kulturkriege in ihrer College Novel „Identitti“ geschlichtet hat. So wurde ein witziger Konversationsroman daraus. Schon zuvor hatte sie mit den Sachbüchern „Vulva“ von 2009 und „Vergewaltigung“ von 2016 offene gesellschaftliche Diskussionen um sexuelle Selbstbestimmung genau getroffen. Mithu Sanyal ist routinierter Gast vieler Podien und oft als Literaturkritikerin zu sehen, zum Beispiel als Jurorin des Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis.
Mit ihrem zweiten Roman wandert sie auf von Virginia Woolfs „Orlando“ vorgespurten Pfaden. Ihre fluide Hauptfigur wird zwar erst als „Sanjeev“ zur Ich-Erzähl-Instanz, behält aber als junges, männliches Ich das weibliche Bewusstsein von Durga aus dem 21. Jahrhundert parallel bei. Fasziniert betrachtet sie den Penis, den sie an sich entdeckt, und dann die Figuren um sich herum, in denen sie Helden und Anti-Helden wiedererkennt, von denen Durgas Eltern immer erzählt haben: Lila, ihre Duisburger, dem antikolonialen Kampf Indiens ungemein verbundene Mutter, und ihr bengalischer Vater Dinesh.
Lila ist im Jahr 2022 gerade gestorben, wie auch die Matriarchin des ihr so verhassten Empire, die britische Königin Elizabeth II. Die Trauer um die Monarchin ruft antiwoke Demonstranten gegen das postkoloniale Umschreiben sehr britischer Kriminalromane auf den Plan. Sie inszenieren Die-ins vor den Büros von Durgas Writers’ Room und befehlen den nach allen Regeln der Diversität zusammengestellten Serien-Macherinnen: „Keep calm and hands off our Queen!“ Wobei als die Königin in diesem Zusammenhang vielleicht dann doch auch Agatha Christie zu verstehen wäre.
Die Symbole, Zeitebenen und Geisteszustände dieses Romans gleiten überhaupt unablässig ineinander über, sie assoziieren sich alleine durch die Erzählstimme gebunden, die bekennt: „So musste sich das Internet fühlen, wenn es fühlen könnte. Ein Rauschen von Gedanken und Bildern flüsterte durch meine Nervenbahnen, alles Wissen und Nicht-Wissen, Wahrheit und Lüge und Irrtum und alles, alles gleichzeitig.“ Wenn man diesen Zustand weniger als Schicksal begreift denn als gewählte Erzählhaltung, scheint man es mit den Schatten der Postmoderne zu tun bekommen zu haben, oder vielleicht einfach mit einem Bewusstsein, das die Angst treibt, sich zu langweilen – und gleichzeitig die Befürchtung, sein Publikum zu verlieren, nicht verstanden zu werden.
„Antichristie“ ist nämlich randvoll an Erklärungen, content and context notes, die sich in die Dialoge der folglich sehr gesprächigen Handelnden fügen, außerdem große Mengen an Paratext, mehrere Mottos vor jedem Kapitel, Disclaimer, es gibt ein Figurenverzeichnis und ein „Abspann“ betiteltes Nachwort, das nebst Danksagungen noch mal einen Überblick über die wichtigsten Punkte der Handlung enthält.
Der Kern des Romans ist aber doch die historische Szene jenes „India House“ im London der Neunzehnhundertzehner, in dem hinter der Fassade eines Studentenwohnheims zentrale Figuren des indischen Widerstands gegen die Kolonialherrschaft Großbritanniens zusammenfinden. Die Hauptrevolutionäre Vinayak Damodar Savarkar und Madan Lal Dhingra sind jung und haben sich noch nicht aufgeschwungen zu den Taten, für die sie berühmt werden sollen. Der politische Mord am Geheimdienstchef William Hutt Curzon Wyllie, der eigentlich auch gegen den teils gleichnamigen „Vizekönig“ von Indien, Lord Curzon, geplant gewesen war, wird bei Mithu Sanyal zum Kriminalfall, zu dessen Lösung Sanjeev Sherlock Holmes zu Hilfe ruft. Nicht nur Agatha Christies belgischer Detektiv Poirot, sondern auch Arthur Conan Doyles britischer Urcharakter Sherlock bekommen also bei Mithu Sanyal postkoloniale Wiedergänger. In der WG-Küche von India House diskutieren die künftigen Verschwörer mit Gandhi, der noch nicht den Ehrentitel Mahatma trägt, über das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Dabei gleicht die Erzählstimme unentwegt das Bild, das sie sich als deutsch-indische Tochter des 21. Jahrhunderts von Gandhi gemacht hat, mit dem Anwalt im schwarzen Anzug des Jahres 1906 ab. Der Mann, sein Frauenbild, seine Reden von „unseren Pflichten bei der Verteidigung des British Empire“ sind eine herbe Enttäuschung.
Savarkar dagegen, den der heutige Persönlichkeitsanteil der Erzählerin als „Hindu-Hitler“ ablehnt, weil er in der Haft nach dem Attentat die zentrale Schrift des Hindunationalismus niederlegen wird, kommt Sanjeev zu seiner Zeit wahnsinnig verführerisch vor.
Einigermaßen hektisch durch die Zeiten springend stellt Mithu Sanyals Erzählstimme also historische Ergebnisoffenheit wieder her für die Frage, ob politische Befreiungsbewegungen und Gewalt notwendig miteinander einhergehen. Was sie sich dabei alles traut, erzähltechnisch, logisch, die historische Wertung betreffend, wird mal mindestens dem Programm ihrer Figur Durga gerecht: „Reinheit tötet Literatur“, sagt die: „Genau wie ein Podest, auf das sie gestellt wird, damit sie sich bloß nicht weiterentwickelt. Literatur ist ein wildes, neugieriges Gespräch über Generationen hinweg.“ Das man lesend gerade Zeugin eines wilden, neugierigen Gesprächs wird, mag einen trösten, sollte man lesend mal verzagt durch den Wald der Anspielungen, strapaziösen Vergleiche, Pointen und Handlungsebenen irren.
Mithu Sanyals völliges Vertrauen in das Fassungsvermögen ihres Erzählens ist allemal mitreißend. „Antichristie“ möchte im Regal offenkundig eher neben Salman Rushdies die Vorgeschichte der Unabhängigkeitserklärung Indiens magisch umreißendem Roman „Mitternachtskinder“ und Zadie Smiths „Betrug“, der Wiedervorlage eines Kriminalfalles aus der Kolonialzeit, stehen als bei der viel braveren deutschsprachigen Prosa. Die Pointe des Romans besteht jedenfalls darin, dass er Figuren wie Dhingra und Savarkar in die deutsche Literatur stellt, als hätten sie darin immer schon bekannt sein müssen. Schließlich, argumentiert Mithu Sanyal mit allen ihren guten Geistern: „Die Geschichte unserer Welt wurde immer wieder geändert. Dafür musste ich nicht in die Vergangenheit reisen. Alles was ich tun musste, war, die Geschichten zu ändern, die wir uns darüber erzählen.“
MARIE SCHMIDT
Die eigene Mutter,
die Queen, Agatha Christie:
Die Matriarchinnen sind tot
„Die Geschichte unserer Welt wurde immer wieder geändert“: Mithu Sanyal versucht es mit Literatur.
Foto: Sebastian Gollnow / DPA
Mithu Sanyal:
Antichristie. Roman.
Hanser, München 2024.
544 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Ein vergleichbares postkoloniales Roman-Schwergewicht mit Dutzenden realhistorischen, hierzulande kaum bekannten, aber unablässig redenden und streitenden Besserwissern hat es in der deutschen Literatur noch nicht gegeben." Iris Radisch, Die Zeit, 12.9.24
"Wie Mithu Sanyal Gandhi hier als gar nicht so sympathische Figur zeichnet, wie sie an die Wurzel von Freiheitskampf und Terrorismus geht, ist elektrisierend. Durgas Zeitreise im Körper eines Mannes ist erotisch, witzig und gleichzeitig von Trauer durchsetzt.... Brillant." Peter Helling, NDR Kultur, 16.09.24
"Sanyal sprudelt über vor Erzähllaune und wartet mit turbulenten Dialogen auf ... Ein Zeitreiseroman, der die Debatten unserer Tage mit einer gescheiten Geschichte über den Widerstandsgeist von heute und gestern kurzschließt." Shirin Sojitrawalla, taz, 21.09.24
"Antichristie" möchte im Regal offenkundig eher neben Salman Rushdies die Vorgeschichte der Unabhängigkeitserklärung Indiens magisch umreißendem Roman "Mitternachtskinder" und Zadie Smiths "Betrug" ... stehen als bei der viel braveren deutschsprachigen Prosa." Marie Schmidt, Süddeutsche Zeitung, 28.9.24
",Antichristie' ist wild. Faszinierend, lustig und tragisch. So anspielungsreich, dass einem der Kopf rauscht, und ungeheuer informativ." Silvia Feist, Emotion, November 2024
"Mithu Sanyals Roman 'Antichristie' spielt mit Zeitreisen, thematisiert Kolonialismus, irischen Freiheitskampf, Rassismus, Sexismus und Frauenrecht und ist gleichzeitig witzig." Karin S. Wozoning, Die Presse, 14.09.24
"´Antichristie` bereichert das Sprechen über Herkunft fernab von weißer, biodeutscher Identität, weil nicht nur Gefühle wie Verlust und Trauer verhandelt werden, sondern die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit dieser Identitäten." Marlen Hobrack, Der Freitag, 11.10.24
"Man kann sich mit 'Antichristie' auf ein wildes Abenteuer freuen, in dem scheinbar alles möglich ist. Zumindest fast alles." Michaela Pichler, ORF, FM4, 06.11.24
"Wie Mithu Sanyal Gandhi hier als gar nicht so sympathische Figur zeichnet, wie sie an die Wurzel von Freiheitskampf und Terrorismus geht, ist elektrisierend. Durgas Zeitreise im Körper eines Mannes ist erotisch, witzig und gleichzeitig von Trauer durchsetzt.... Brillant." Peter Helling, NDR Kultur, 16.09.24
"Sanyal sprudelt über vor Erzähllaune und wartet mit turbulenten Dialogen auf ... Ein Zeitreiseroman, der die Debatten unserer Tage mit einer gescheiten Geschichte über den Widerstandsgeist von heute und gestern kurzschließt." Shirin Sojitrawalla, taz, 21.09.24
"Antichristie" möchte im Regal offenkundig eher neben Salman Rushdies die Vorgeschichte der Unabhängigkeitserklärung Indiens magisch umreißendem Roman "Mitternachtskinder" und Zadie Smiths "Betrug" ... stehen als bei der viel braveren deutschsprachigen Prosa." Marie Schmidt, Süddeutsche Zeitung, 28.9.24
",Antichristie' ist wild. Faszinierend, lustig und tragisch. So anspielungsreich, dass einem der Kopf rauscht, und ungeheuer informativ." Silvia Feist, Emotion, November 2024
"Mithu Sanyals Roman 'Antichristie' spielt mit Zeitreisen, thematisiert Kolonialismus, irischen Freiheitskampf, Rassismus, Sexismus und Frauenrecht und ist gleichzeitig witzig." Karin S. Wozoning, Die Presse, 14.09.24
"´Antichristie` bereichert das Sprechen über Herkunft fernab von weißer, biodeutscher Identität, weil nicht nur Gefühle wie Verlust und Trauer verhandelt werden, sondern die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit dieser Identitäten." Marlen Hobrack, Der Freitag, 11.10.24
"Man kann sich mit 'Antichristie' auf ein wildes Abenteuer freuen, in dem scheinbar alles möglich ist. Zumindest fast alles." Michaela Pichler, ORF, FM4, 06.11.24