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Missbrauchsdebatten in der Gründerzeit des liberalen Staates: Manuel Borutta enthüllt das Gewaltpotential eines Antiklerikalismus, der die katholische Kirche als inneren Orient beschreibt.
Nach der Eroberung Roms durch die Truppen des Königreichs Italien im September 1870 hatte Papst Pius IX. den Vatikan nicht mehr verlassen. In der Nacht des 13. Juli 1881, drei Jahre nach seinem Tod, wurde sein Leichnam zur Beisetzung in die Basilika San Paolo fuori le mura überführt. Auf der Engelsbrücke wurde die Prozession von Demonstranten angegriffen, die sich des Leichnams zu bemächtigen versuchten, um ihn in den Tiber zu werfen. Die Tumulte leiteten eine neue Eskalation der kirchenfeindlichen Agitation ein. Am 7. August traten etwa dreitausend Freimaurer zu einer Kundgebung in einem Theater zusammen. Giuseppe Petroni, ein Kampfgenosse Mazzinis und späterer Großmeister des Groß-Orients von Italien, forderte die Aufhebung der Garantiegesetze, in denen der italienische Staat nach der Annexion des Kirchenstaates die Anerkennung der völkerrechtlichen Privilegien des Heiligen Stuhls ausgesprochen hatte. Eine Begründung lautete, der nach den Garantiegesetzen exterritoriale Vatikan sei ein "Asyl von Missetätern".
Die Zeitung "La Capitale" hatte berichtet, in der Straßenschlacht vom 13. Juli habe sich auf päpstlicher Seite ein wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen verurteilter päpstlicher Gendarm als Provokateur betätigt. In den folgenden Monaten versorgte das Blatt seine Leser unablässig mit Sensationsmeldungen über klerikale Sittlichkeitsverbrecher: Ein pädophiler Schulgeistlicher sei verhaftet worden, ein promiskuitiver Priester aus Rom habe in Paris Selbstmord begangen, irische Geistliche seien als Konsumenten von Pornographie aufgeflogen, ein als Mörder verurteilter sizilianischer Priester habe sich der Strafe entzogen und sei vom Vatikan mit einer neuen Identität ausgestattet worden.
Acht Jahre vorher hatte eine Missbrauchsdebatte im Preußischen Abgeordnetenhaus stattgefunden. Zur Verteidigung des "Kulturexamens", das die Erlangung geistlicher Ämter an eine staatliche Prüfung in Philosophie, Geschichte und deutscher Literatur knüpfte, verwies der Pathologe Rudolf Virchow auf die "Gerichtsverhandlungen der letzten Jahre", die an den Tag gebracht hätten, welche Sittlichkeit in den Priesterseminaren und Knabenkonvikten herrsche. "Das kann doch unmöglich eine sittliche Form sein, wenn immer wieder Lehrer aus diesen Schulen genötigt sind, sich bei Nacht und Nebel aufzumachen und aus dem Lande zu wandern, um sich den Verfolgungen zu entziehen." Die Abgeordneten der katholischen Zentrumspartei müssten zugeben: "Diese Knaben-Seminare dienen häufig anderen Zwecken als dem Zweck einer eigentlich religiösen Erziehung."
Als Zwischenrufer diese Verleumdung mit Pfui-Rufen und der Einrede "In einzelnen Fällen!" zurückwiesen, antwortete der Redner: "Es sind einzelne Fälle vorgekommen, aber diese Fälle liegen in der Natur dieser Organisation." Virchow sprach damit eine Überzeugung aus, die der liberale Antiklerikalismus von der Kirchenkritik der radikalen Aufklärung übernommen hatte. Manuel Borutta weist in seiner Berliner historischen Dissertation über den Antikatholizismus des neunzehnten Jahrhunderts eine Konstanz, ja fast eine Invarianz der Gesichtspunkte nach, die in einer diskursgeschichtlichen Untersuchung frappiert. Dass der Zölibat die Priester verleite, sich durch geheime und unnatürliche Befriedigung des Sexualtriebs Entlastung zu verschaffen, ist ein seit mehr als zweihundert Jahren vertrautes Argument. Es ist eines der Verdienste von Boruttas Studie, dass sie die Überzeugungskraft des Arguments historisch erklärt.
Jürgen Kocka hat die Arbeit betreut, die die Kirche der antikatholischen Polemik als Gegenbild zum liberalen Ideal der bürgerlichen Gesellschaft deutet. Die Natur der kirchlichen Organisation im Sinne Virchows war ihre Naturwidrigkeit: Die Kirche hielt die Menschen davon ab, die bürgerlichen Naturzwecke der Selbstbestimmung, Tätigkeit und Fortpflanzung zu erfüllen. Virchow brachte seine Autorität als Arzt und Naturwissenschaftler in die Auseinandersetzung ein, für die er den Begriff des Kulturkampfs prägte. Schon 1848 hatte er die Typhusepidemie in Oberschlesien damit erklärt, dass der arme, ungebildete polnische Katholik lieber den Priester als den Arzt rufe. "Die Konstruktion eines kausalen Nexus zwischen kirchlicher Macht, kollektiver Ignoranz und der Verbreitung ansteckender Krankheiten ließ die Trennung von Staat und Kirche als sozialhygienische Maßnahme erscheinen."
Wie Borutta mit einer erschreckenden Fülle an Beispielen dokumentieren kann, brachte dieses sozialhygienische Denken eine exterminatorische Phantasie hervor: Priester wurden als Ungeziefer beschrieben; insbesondere die Jesuiten, die 1872 aus dem Deutschen Reich ausgewiesen wurden, galten als Volksschädlinge. Dem "objektiven" Selbstbild des wissenschaftlichen Liberalismus setzt Borutta die These der Empirieresistenz der sittenpolizeilichen Ordenskritik entgegen. Er spricht sogar von einer Fiktionalisierung der Politik, weil es sich bei dem allgemein bekannten Wissen über die Zustände hinter den Klostermauern um medial endlos vervielfältigte Schauergeschichten gehandelt habe.
Virchow behauptete 1873, auch er habe die Sittlichkeitsverbrechen im katholischen Erziehungswesen zunächst "für solitäre Erscheinungen gehalten", doch davon könne keine Rede mehr sein, "wenn sich das von Jahr zu Jahr in steigendem Maße wiederholt, in dem Maße, als die öffentliche Aufmerksamkeit sich diesen Dingen zuwendet". Mit der öffentlichen Aufmerksamkeit, so Virchows klassisch liberale Vorstellung, steigen die Chancen der Aufdeckung. Die "erregte Aufklärung" (Katharina Rutschky) kommt nicht auf den Gedanken, die eigene erhöhte Temperatur für das Symptom einer mentalen Gleichgewichtsstörung zu halten, weil sie die Dunkelziffer beliebig hoch ansetzt.
Die Zentrumspartei war 1870 unter dem Eindruck des Moabiter Klostersturms gegründet worden. Im August 1869 hatte ein Mob im Berliner Arbeiterviertel Moabit eine Dominikaner-Kapelle und ein von Franziskanern geführtes Waisenhaus belagert und angegriffen. Ein Lehrer berichtete, die zudringlichen Schaulustigen hätten "nach den unterirdischen Gängen, nach den Nonnen, nach den Klostergeheimnissen" gefragt. Geheimgänge verbanden in der volkstümlichen Einbildung Mönchs- und Nonnenklöster. Eine Woche vor der Zusammenrottung hatte in den Zeitungen die Sensation gestanden, dass in einem Konvent in Krakau ein "nacktes, verwildertes, halb wahnsinniges Weib" befreit worden sei, eine von ihren Mitschwestern einundzwanzig Jahre lang eingemauerte Nonne.
Borutta wirft liberalen Historikern des Liberalismus wie dem verstorbenen italienischen Ministerpräsidenten Giovanni Spadolini vor, den Gewaltanteil in der liberalen Geschichte heruntergespielt zu haben, und fasst antijesuitische Ausschreitungen eines von vornehm gekleideten Herren angeführten Pöbels und gesetzliche Zwangmaßnahmen in einem Kapitel über antiklerikale Gewalt als Medienprodukt zusammen.
Die provokanten Thesen über den "fundamentalistischen Antikatholizismus fortschrittsfreundlicher, männlicher Eliten" regen immer wieder dazu an, den synchronen Vergleich der Gründerzeiten Deutschlands und Italiens um den diachronen Vergleich mit dem heutigen Kulturkampf gegen den Islam zu erweitern. Die Dominikaner in Moabit wurden mit dem Hinweis schikaniert, sie hätten für ihre Kapelle keine Baugenehmigung. Der öffentlich zur Schau gestellte Nonnenhabit beleidigte das liberale Auge; keine Frau, wussten die Männer, trug ihn freiwillig. Schlagend belegt Borutta, dass der Anblick römischer Rituale orientalistische Angstbilder hervorrief. In der Abwehr dieser abergläubischen, barbarischen, schmutzigen Gegenwelt schlossen sich Demokraten und Liberale zusammen. Gustavo Cavour, der Bruder des Gründers des liberalen Italien, war in der Minderheit mit seiner Definition des wahren Liberalismus als der Duldung von Lebensformen, die man ablehnt.
PATRICK BAHNERS
Manuel Borutta: "Antikatholizismus". Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe. Bürgertum, Neue Folge, Band 7. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. 488 S., Abb., geb., 60,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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