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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Mit Sinn für die Ironie historischer Entwicklungen: Stanley Burstein umreißt auf knappem Raum 1300 Jahre antike Globalgeschichte
Im Märzheft des "Atlantic" handelte ein Artikel von der "Befriedigungsfalle". Sein Autor argumentiert evolutionspsychologisch: Die weitaus längste Zeit seines Daseins auf der Erde konnte sich selbst ein erfolgreicher Mensch bei knappsten Ressourcen niemals ausruhen, und auch der Paarungswettbewerb duldete kein Innehalten. Und solches immer weiter und immer mehr Wollen dauert fort, obwohl die frühgeschichtlichen Ursachen dafür längst durch Supermärkte, planvollen Vermögensaufbau und Passgenauigkeit versprechende Partnerbörsen relativiert worden sind.
Die alten Griechen sprachen von Vielgeschäftigkeit (polypragmosyne) und Mehrhabenwollen (pleonexia), und es gehört zu den Vorzügen der neueren Welt- und Verflechtungsgeschichten, entsprechende Wirkkräfte auch in der Vormoderne hervorzuheben. Besonders stark zum Vorschein kommt diese Deutungslinie in einem knappen Entwurf, wie ihn jetzt Stanley Burstein als Summe seines Nachdenkens über antike Globalgeschichte vorgelegt hat. Der Horizont des Hellenismuskenners ist dabei geographisch denkbar weit; er reicht vom Mittelmeerraum mit seiner mitteleuropäischen Peripherie über Afrika, Vorder- und Zentralasien bis nach Indien und China. Seine Schnitte umfassen jeweils zwei bis vier Jahrhunderte, nur das abschließende dritte Jahrhundert erhält ein eigenes Kapitel.
Die Prioritäten sind klar: Den Wohlstand der römischen Kaiserzeit etwa führt Burstein auf eine "dramatische Zunahme der Konnektivität in ganz Afro-Eurasien" zurück; das Niveau des Handels vom Mittelmeerraum bis nach China sei erst im späten Mittelalter wieder erreicht worden. Der Wunsch, afrikanische Waren zu erwerben, brach die Isolation des subsaharischen Afrika von der afro-eurasischen Kernzone antiker Zivilisation auf, und obwohl diplomatische Beziehungen zwischen dem Imperium Romanum und Han-China nicht zustande kamen, revolutionierte das Wissen der auf den Seidenstraßen und im Indischen Ozean tätigen Händler das Weltbild in beiden Reichen. Auch die Religionen folgten den Handelsrouten. Und nicht von der athenischen Demokratie ist die Rede, sondern von der demokratisierenden Wirkung der Eisentechnologie; diese "stärkte die Fähigkeit der Menschen, die Umwelt nach ihren Bedürfnissen zu gestalten".
Die modische Rückprojektion fortschritts- und wachstumskritischer Ideen in die Formierungsphase organisierter Zivilisation à la David Graeber und David Wengrow (F.A.Z. vom 29. Januar) kann aus diesem Buch keinen Honig saugen. Verluste werden indes nicht verschwiegen; so ermöglichte die Alphabetschrift breiteren Schichten, des Lesens und Schreibens mächtig zu werden, ließ jedoch die uralten Schriftkulturen wie auch die mündlichen Literaturen austrocknen. Bekannt ist die im Zuge von Interaktionen zwischen zuvor isolierten Räumen gesteigerte Anfälligkeit für Pandemien - für die sogenannte Antoninische Pest veranschlagt der Autor eher konservativ Bevölkerungsverluste von im Schnitt etwa zehn Prozent, wobei einzelne Gebiete durchaus menschenleer zurückbleiben konnten.
Zwar gehören politische Ordnungsleistungen (und Fehlleistungen) auch für Burstein zu den treibenden Kräften von Wandel, doch charakteristisch für die Prioritäten in einem Geschichtsbild, das den Menschen unaufhörlich zu neuen Ufern, Kontakten und Erwerbsmöglichkeiten aufbrechen lässt, ist eine Bemerkung über Indien in der Zeit, als in Rom die Republik zerbrach: Trotz seiner chaotischen Politik, in der sich "die Macht und die Territorien der rivalisierenden Königreiche wie eine Ziehharmonika ausdehnten und zusammenzogen", sei der Subkontinent doch im Allgemeinen wohlhabend gewesen und habe ein Wachstum des Handels erlebt. Hatte die Forschung zumal zum Alten Orient lange Zeit die Blütezeiten zentralisierender Reiche als Marksteine zivilisatorischen Fortschritts betont, sieht Burstein im Zusammenbruch solcher Gebilde und der anschließenden Fragmentierung eher die Herausforderungen, Spielräume und Möglichkeiten der Überlebenden - Schumpeter schlägt Hobbes.
Erhellend werden - implizit in der Tradition älteren universalhistorischen Denkens - wiederkehrende Konstellationen identifiziert, aus denen sich wiederum Entwicklungsoptionen ergaben. So standen seit dem Ende des zweiten Jahrtausends vor Christus den meist regionalen, auf Ackerbau, Städte, Kriegführung zu Fuß und Wasserwege beziehungsweise maritime Entfaltung geprägten Formationen hochmobile, durch charismatische Anführer geschmiedete Stammesbündnisse zumal in der zentralasiatischen Steppe gegenüber und mussten Imperien, wo sie entstanden, mit dieser Konstellation zurechtkommen, durch Abwehr, Kooperation oder partielle Integration. Der Autor vermeidet es jedoch strikt, von historischen Gesetzmäßigkeiten oder Mechaniken zu sprechen. Unbeabsichtigte Folgen, so formuliert er prägnant, seien "der Stoff, aus dem die Geschichte ist". Mehrfach beginnt ein Satz über Weiterungen einer bestimmten Entwicklung mit dem Wort "ironischerweise". Am ehesten in die Nähe einer deterministischen Sicht gerät Burstein mit Blick auf den globalen Klimawandel, der ebenfalls um das Jahr 1000 vor Christus das Privileg ausreichenden Regens verschob, die Zivilisationen zumal Westasiens ins Hintertreffen brachte und gleichzeitig den Nomaden Zentralasiens nahegelegt habe, neues Weideland in den Territorien der landwirtschaftlich geprägten Staaten zu suchen. UWE WALTER
Stanley M. Burstein: "Antike Global". Die Welt von 1000 v. Chr. bis 300 n. Chr.
Aus dem Englischen von Kai Brodersen. WBG/Theiss Verlag, Darmstadt 2022. 208 S., Abb., geb., 22,- Euro.
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