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Wissenswertes und Bedrückendes über den Antisemitismus
Von Harald Bergsdorf
Immer wieder beunruhigt und erschüttert Antisemitismus die Bundesrepublik. Antisemitische Einstellungen und judenfeindliches Verhalten gehören zu den zentralen Bedrohungen der Demokratie und ihrer Grundwerte. Von bereits hohem Niveau steigt seit Jahren unter anderem die Zahl antisemitischer Straftaten wie Holocaustleugnung. Nur ein besonders markantes Beispiel für antisemitisch motivierte Gewaltverbrechen ist der versuchte Anschlag im Oktober 2019, ausgerechnet an Jom Kippur und damit dem höchsten jüdischen Feiertag, auf die Synagoge in Halle an der Saale, bei dem der Täter zwei Menschen erschoss. Der Todesschütze wollte die Synagoge stürmen und zahlreiche Menschen offenbar ausschließlich deshalb töten, weil sie Juden sind. Derzeit muss er sich vor Gericht verantworten.
Ein besonders hoher Anteil antisemitisch motivierter Straftaten, zum Beispiel Volksverhetzung, stammt von Rechtsextremisten. Antisemitismus zählt zu den geradezu konstitutiven Elementen rechtsextremistischer Ideologien und Weltdeutungen. Aber auch andere Fanatiker, darunter Islamisten, und selbst Nichtextremisten verbreiten anonym oder sogar unter Klarnamen immer wieder Ressentiments gegen Juden. Dazu nutzen sie vor allem das Internet, das die Verbreitung von Hass und Hetze natürlich enorm erleichtert. Daneben begehen sowohl Extremisten als auch sogenannte Normalbürger antisemitisch motivierte Straftaten wie Hakenkreuzschmierereien an jüdischen Gräbern, oder sie verbrennen Israel-Fahnen. Darüber hinaus verbreiten sie Landkarten des Nahen Ostens ohne Israel und bedrohen Juden im Alltag. Daher wachsen Verunsicherung, Unbehagen und Ängste unter Juden in Deutschland, aber auch in anderen Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten. Umso wichtiger ist es, über Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen aufzuklären und Juden bestmöglich zu schützen und zu verteidigen. Das zählt zu den wichtigsten Aufgaben aller Demokraten.
Einen Beitrag zur Aufklärung über Antisemitismus will dieses Buch leisten. Die britische Autorin mit deutschen Wurzeln gehört dem "House of Lords" an. Zugleich fungiert sie als Rabbinerin - Hitlers Verbrecher ermordeten viele Mitglieder ihrer Familie. In ihrem Buch (Übersetzung aus dem Englischen: Anne Emmert) diskutiert und analysiert die bekennende Brexit-Gegnerin, die 2019 auch die deutsche Staatsangehörigkeit erhielt, schwerpunktmäßig den wachsenden Antisemitismus in seinen verschiedenen Facetten in England und Deutschland.
Zunächst konzentriert sich der eher lebendig-konkrete als wissenschaftlich-abstrakte Band darauf, die lange Geschichte der Judenfeindlichkeit zu erläutern, in der Martin Luther als "glühender Antisemit" eine Hauptrolle beanspruchen könne. Der Antisemitismus von Antikapitalisten wiederum, den Neuberger thematisiert, gründet unter anderem auf der Schrift "Zur Judenfrage" von Karl Marx. Als geistiger Brandstifter legt Marx darin antikapitalistisch gefärbte Grundlagen für antisemitische Stereotype, auf denen gerade auch Rechtsextremisten bis heute aufbauen können. Wörtlich erklärt Marx: "Welches ist der weltliche Grund des Judenthums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld."
Daraufhin beleuchtet Neuberger nicht nur Verschwörungstheorien ("jüdische Weltverschwörung") und Stereotype ("Geldjuden"), sondern sie bemüht sich auch, den Begriff überhaupt erst zu definieren und vom Terminus "Antizionismus" abzugrenzen. Das ist eine schwierige, aber auch besonders bedeutsame Aufgabe. Denn seit einiger Zeit wachsen Tendenzen, Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antizionismus zu verbreiten.
Hierbei betont Neuberger die selbstverständliche Legitimität von Kritik an israelischer Politik. Anders als manche Gegenmeinung hält sie selbst es zum Beispiel für "völlig in Ordnung, wenn jemand im israelisch-palästinensischen Konflikt für eine Zweistaatenlösung plädiert und für das weitere Vorgehen Kompromisse empfiehlt". Aber wer Israel, der einzigen Demokratie im Nahen Osten, gerade nach dem Holocaust das Existenzrecht abspreche, äußere sich nicht antizionistisch, sondern antisemitisch. Das gelte erst recht für Versuche, Israel als Staat mit natürlich besonderen Sicherheitsbedürfnissen zu dämonisieren ("Israhell") oder gar mit der Hitler-Diktatur gleichzusetzen - samt deren singulären Massenverbrechen gegen die Menschlichkeit.
Besorgt äußert sich Neuberger über den wachsenden Antisemitismus in Deutschland, wo populistische Rechtsextremisten gegen Juden hetzen, die Hitler-Diktatur verharmlosen, demokratische Politiker verunglimpfen, rassistische Ressentiments schüren und auch noch Wahlerfolge feiern. Für umso wichtiger hält Neuberger das Engagement vieler Menschen, darunter zahlreiche Christen und Muslime, in Deutschland und anderswo gegen Antisemitismus und andere Arten von Demokratiefeindlichkeit.
Besonders scharf kritisiert Neuberger antisemitische Tendenzen in der britischen Labour Party gerade unter ihrem inzwischen ehemaligen Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Tatsächlich hatte Corbyn einst sogar selbst erklärt, es sei zulässig, Israel, seine Politik oder die Umstände seiner Gründung rassistisch zu nennen. Nach den Worten seines Sprechers wollte er damit lediglich palästinensische Rechtsauffassungen verteidigen. Offenbar mangelt es Corbyn bereits an einem Grundverständnis für die Ursachen und Umstände der Entstehung Israels. Ebenso würdigte und verteidigte er vor einigen Jahren, wie Neuberger erinnert, ein Gemälde mit antisemitischen Stereotypen gröbster Art als beinahe wertvollen Beitrag zur Meinungsfreiheit - das Bild präsentiert "hakennasige Geldjuden" als "kapitalistische Ausbeuter" des Prekariats.
Neuberger hat ein berührendes Buch geschrieben. Ihre Analyse kann dazu beitragen, mehr Menschen für das Judentum zu sensibilisieren und gegen Antisemitismus zu aktivieren. Das Buch gehört zu den wichtigen Veröffentlichungen der Gegenwart über Antisemitismus.
Julia Neuberger: "Antisemitismus". Wo er herkommt, was er ist - und was nicht.
Berenberg Verlag, Berlin 2020. 237 S., geb., 16,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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