Dieses Buch entwickelt ein präzises und fundiertes Verständnis von israelbezogenem Antisemitismus und macht seine Muster sichtbar. Die Kontroverse um Äußerungen des postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe im Frühjahr 2020 hat der Frage nach israelbezogenem Antisemitismus viel Aufmerksamkeit verschafft. Sie ist nur eines von vielen Beispielen. Doch was ist unter Antisemitismus gegen Israel zu verstehen? Klaus Holz und Thomas Haury gehen dieser Frage systematisch und in historischer Perspektive nach. Der gegen Israel formulierte Antisemitismus ist kein Sonderfall, er beruht auf den grundlegenden Mustern des modernen Antisemitismus überhaupt. Die Autoren rekonstruieren seine unterschiedlichen Ausprägungen und die damit einhergehenden Selbstbilder. Sie behandeln Antisemitismus von links, islamistischen und postnazistischen Antisemitismus, antirassistische Identitätspolitik, Christen wider und für Israel und die neue Rechte. Dabei zeigen sich vielfältige Querverbindungen; außerdem wird deutlich, wie sich Antisemitismus im Allgemeinen und Antisemitismen gegen Israel zueinander verhalten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2022Hinter Sahras blauen Augen
Klaus Holz und Thomas Haury versuchen Antisemitismus und Attacken auf Israel ins richtige Bild zu bringen
Über die Frage, wie Antisemitismus, wenn er sich gegen den israelischen Staat richtet, festzumachen sei, wird seit Längerem kontrovers diskutiert. Einen erhellenden und sehr lesenswerten Beitrag leisten hier die Soziologen und Antisemitismusforscher Klaus Holz und Thomas Haury mit ihrem Buch. Sie halten einen "Katalog abprüfbarer Kriterien", wie ihn die Antisemitismus-Definitionen der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) oder die der alternativen "Jerusalemer Erklärung" bieten, für wenig tauglich, da ein solcher der Komplexität des Phänomens Antisemitismus nicht gerecht werde. Dessen Vielschichtigkeit könne nur dann angemessen erfasst werden, wenn man in die Analyse neben den negativen Judenbildern auch die kontrastierenden Selbstbilder der antisemitischen Akteure einbeziehe und auf "Sinnzusammenhänge" achte.
Dabei erweist sich der Rückgriff der Autoren auf den Antisemitismus nationaler Prägung, dessen Wurzeln im späten neunzehnten Jahrhundert liegen, als hilfreich. Denn lange vor Israels Staatsgründung 1948 kursierten antisemitische - völkische und nationalsozialistische - Vorstellungen von einem jüdischen Staat, die sich der Täter-Opfer-Umkehr bedienten. So wurde aus der politisch marginalisierten, diskriminierten und verfolgten jüdischen Minderheit eine zionistische Weltmacht konstruiert und deren angestrebter Judenstaat in Palästina zur Zentrale der jüdischen Weltverschwörung stilisiert. Diesem Feindbild wurde das Selbstbild der Deutschen als Nation und Volk gegenübergestellt, das, wie andere Völker auch, von der Auflösung durch das "Anti-Volk" der Juden bedroht sei.
Dieser antinationale "Feind der Menschheit" wurde in der sowjetischen Staatspropaganda politisch-ökonomisch in die ausbeuterische Klasse, die die internationalen Finanzmärkte kontrolliert, umgemünzt. Seine jüdische Codierung ging jedoch nicht verloren, sondern lebte fort im Schmähbild des Zionismus als Handlanger des britischen Kolonialismus und des amerikanischen Imperialismus in Palästina. So konnten die Kommunisten ihren Antisemitismus als Antizionismus verkaufen.
Durch den Holocaust und die Gründung des Staates Israel änderten sich die Koordinaten der antijüdischen und antizionistischen Ideologien nachhaltig. Auch wenn jetzt die alten negativen Bilder von einem jüdischen Staat leicht auf Israel übertragen werden konnten, so musste doch auch dem Völkermord an den Juden - sofern er nicht geleugnet wurde - Rechnung getragen werden. Beide Aspekte verschmelzen im "postnazistischen Antisemitismus", der den Autoren zufolge auch heute eine wichtige Rolle spielt. Auch hier begegnet wieder die Täter-Opfer-Umkehr, die auf linker wie auf rechter Seite als Entlastungsstrategie eingesetzt wird - etwa mit den Vorwürfen, Israel verhalte sich gegenüber den Palästinensern wie einst das NS-Regime gegenüber den Juden und instrumentalisiere den Holocaust, um Geld zu erpressen oder Kritik an seiner Politik im Keim zu ersticken. Wie weit das Spektrum solcher Beschuldigungen reicht, ist besonders in dem Kapitel "Antisemitismus von links" nachzulesen. Eine vergleichbar ausführliche Darstellung rechtsextremistischer Positionen fehlt, weil die Verfasser sie wohl für bekannter halten.
Nicht nur die im Rechtsextremismus verbreitete Leugnung der Schoah begegnet auch im "islamistischen Antisemitismus", dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Der radikale ägyptische Muslimbruder Sayyid Qutb verschwieg 1950 in seiner Schrift "Unser Kampf mit den Juden" zwar nicht den Völkermord, er hielt ihn aber für eine gerechte göttliche Strafe für die "Erzfeinde des Islam" und lobte Hitler dafür. Ob und inwieweit diese antisemitische Position heute Verbreitung findet, bleibt allerdings unreflektiert. In der 1988 veröffentlichten Hamas-Charta wie auch in der iranischen TV-Serie "Sahras blaue Augen" (2004/2005) machen Holz und Haury europäisch wie sowjetisch inspirierte antisemitische Stereotypen aus, bei denen Juden oder Zionisten als Chiffre für Israel fungieren. Als Hintergrund solcher antizionistischer Bilder müsse man sich allerdings neben den politischen Rivalitäten im Nahen Osten unbedingt auch den kolonialen und postkolonialen Entstehungszusammenhang vor Augen halten. Zumal dieser in der stark auf den Holocaust konzentrierten westlichen Erinnerungskultur und der mit ihr verknüpften Antisemitismuskritik kaum Berücksichtigung finde.
Bei der Betrachtung postkolonial und antirassistisch ausgerichteter Kritik an Israel fällt den Buchautoren ein "entfremdeter Anti-Rassismus" mit Nähe zum Antisemitismus auf, der insbesondere an der antiisraelischen Boykottbewegung BDS festgemacht wird. Als Einstieg dient die Auseinandersetzung mit einem einschlägigen Essay der prominenten BDS-Apologetin Judith Butler ("Rassismus und Antisemitismus. Für eine Allianz der sozialen Gerechtigkeit", 2019). Zwar finden Holz und Haury bei Butler keinerlei Spuren von Antisemitismus und teilen ihre Kritik an der politischen Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen. Sie werfen ihr aber vor, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass zumindest Teile der BDS-Bewegung antisemitisch seien. Dass sich bei Butler und ihren Mitstreitern ein antirassistisches Selbstbild dermaßen gegen Antisemitismuskritik abschotte, zeuge nicht nur von Entfremdung, sondern sei Ausdruck eines "unglücklichen Bewusstseins".
Bei der hiesigen neuen Rechten richten die Verfasser den Blick vor allem auf jene Kreise, die auf Distanz zum Rechtsextremismus gehen, indem sie - auch innerhalb der AfD - die Schoah nicht leugnen und Israel nicht anfeinden. Die deutsche Schuld am Holocaust werde zwar anerkannt, die NS-Zeit aber als kurzes und wenig bedeutendes Kapitel in der langen deutschen Geschichte abgetan - Holz und Haury sprechen hier von "Schuldabkapselung". Lob für Israel nutze man in erster Linie zur Stärkung der eigenen antiislamischen Front, aber auch zur Verwischung der inhärenten "antisemitischen Weltanschauung". Diese werde auch dadurch verschleiert, dass "Juden" nicht explizit als Verkörperung des verhassten modernen Universalismus genannt würden, aber Namen wie Soros und Rothschild fielen bisweilen dennoch. Eine ähnliche Doppelbödigkeit findet sich theologisch formuliert in rechten christlichen Milieus - etwa im christlichen Zionismus, der trotz seines Proisraelismus antijudaistisch grundiert ist. JOSEPH CROITORU
Klaus Holz und Thomas Haury: "Antisemitismus gegen Israel".
Hamburger Edition,
Hamburg 2021. 424 S., geb., 35,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klaus Holz und Thomas Haury versuchen Antisemitismus und Attacken auf Israel ins richtige Bild zu bringen
Über die Frage, wie Antisemitismus, wenn er sich gegen den israelischen Staat richtet, festzumachen sei, wird seit Längerem kontrovers diskutiert. Einen erhellenden und sehr lesenswerten Beitrag leisten hier die Soziologen und Antisemitismusforscher Klaus Holz und Thomas Haury mit ihrem Buch. Sie halten einen "Katalog abprüfbarer Kriterien", wie ihn die Antisemitismus-Definitionen der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA) oder die der alternativen "Jerusalemer Erklärung" bieten, für wenig tauglich, da ein solcher der Komplexität des Phänomens Antisemitismus nicht gerecht werde. Dessen Vielschichtigkeit könne nur dann angemessen erfasst werden, wenn man in die Analyse neben den negativen Judenbildern auch die kontrastierenden Selbstbilder der antisemitischen Akteure einbeziehe und auf "Sinnzusammenhänge" achte.
Dabei erweist sich der Rückgriff der Autoren auf den Antisemitismus nationaler Prägung, dessen Wurzeln im späten neunzehnten Jahrhundert liegen, als hilfreich. Denn lange vor Israels Staatsgründung 1948 kursierten antisemitische - völkische und nationalsozialistische - Vorstellungen von einem jüdischen Staat, die sich der Täter-Opfer-Umkehr bedienten. So wurde aus der politisch marginalisierten, diskriminierten und verfolgten jüdischen Minderheit eine zionistische Weltmacht konstruiert und deren angestrebter Judenstaat in Palästina zur Zentrale der jüdischen Weltverschwörung stilisiert. Diesem Feindbild wurde das Selbstbild der Deutschen als Nation und Volk gegenübergestellt, das, wie andere Völker auch, von der Auflösung durch das "Anti-Volk" der Juden bedroht sei.
Dieser antinationale "Feind der Menschheit" wurde in der sowjetischen Staatspropaganda politisch-ökonomisch in die ausbeuterische Klasse, die die internationalen Finanzmärkte kontrolliert, umgemünzt. Seine jüdische Codierung ging jedoch nicht verloren, sondern lebte fort im Schmähbild des Zionismus als Handlanger des britischen Kolonialismus und des amerikanischen Imperialismus in Palästina. So konnten die Kommunisten ihren Antisemitismus als Antizionismus verkaufen.
Durch den Holocaust und die Gründung des Staates Israel änderten sich die Koordinaten der antijüdischen und antizionistischen Ideologien nachhaltig. Auch wenn jetzt die alten negativen Bilder von einem jüdischen Staat leicht auf Israel übertragen werden konnten, so musste doch auch dem Völkermord an den Juden - sofern er nicht geleugnet wurde - Rechnung getragen werden. Beide Aspekte verschmelzen im "postnazistischen Antisemitismus", der den Autoren zufolge auch heute eine wichtige Rolle spielt. Auch hier begegnet wieder die Täter-Opfer-Umkehr, die auf linker wie auf rechter Seite als Entlastungsstrategie eingesetzt wird - etwa mit den Vorwürfen, Israel verhalte sich gegenüber den Palästinensern wie einst das NS-Regime gegenüber den Juden und instrumentalisiere den Holocaust, um Geld zu erpressen oder Kritik an seiner Politik im Keim zu ersticken. Wie weit das Spektrum solcher Beschuldigungen reicht, ist besonders in dem Kapitel "Antisemitismus von links" nachzulesen. Eine vergleichbar ausführliche Darstellung rechtsextremistischer Positionen fehlt, weil die Verfasser sie wohl für bekannter halten.
Nicht nur die im Rechtsextremismus verbreitete Leugnung der Schoah begegnet auch im "islamistischen Antisemitismus", dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Der radikale ägyptische Muslimbruder Sayyid Qutb verschwieg 1950 in seiner Schrift "Unser Kampf mit den Juden" zwar nicht den Völkermord, er hielt ihn aber für eine gerechte göttliche Strafe für die "Erzfeinde des Islam" und lobte Hitler dafür. Ob und inwieweit diese antisemitische Position heute Verbreitung findet, bleibt allerdings unreflektiert. In der 1988 veröffentlichten Hamas-Charta wie auch in der iranischen TV-Serie "Sahras blaue Augen" (2004/2005) machen Holz und Haury europäisch wie sowjetisch inspirierte antisemitische Stereotypen aus, bei denen Juden oder Zionisten als Chiffre für Israel fungieren. Als Hintergrund solcher antizionistischer Bilder müsse man sich allerdings neben den politischen Rivalitäten im Nahen Osten unbedingt auch den kolonialen und postkolonialen Entstehungszusammenhang vor Augen halten. Zumal dieser in der stark auf den Holocaust konzentrierten westlichen Erinnerungskultur und der mit ihr verknüpften Antisemitismuskritik kaum Berücksichtigung finde.
Bei der Betrachtung postkolonial und antirassistisch ausgerichteter Kritik an Israel fällt den Buchautoren ein "entfremdeter Anti-Rassismus" mit Nähe zum Antisemitismus auf, der insbesondere an der antiisraelischen Boykottbewegung BDS festgemacht wird. Als Einstieg dient die Auseinandersetzung mit einem einschlägigen Essay der prominenten BDS-Apologetin Judith Butler ("Rassismus und Antisemitismus. Für eine Allianz der sozialen Gerechtigkeit", 2019). Zwar finden Holz und Haury bei Butler keinerlei Spuren von Antisemitismus und teilen ihre Kritik an der politischen Instrumentalisierung von Antisemitismusvorwürfen. Sie werfen ihr aber vor, nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass zumindest Teile der BDS-Bewegung antisemitisch seien. Dass sich bei Butler und ihren Mitstreitern ein antirassistisches Selbstbild dermaßen gegen Antisemitismuskritik abschotte, zeuge nicht nur von Entfremdung, sondern sei Ausdruck eines "unglücklichen Bewusstseins".
Bei der hiesigen neuen Rechten richten die Verfasser den Blick vor allem auf jene Kreise, die auf Distanz zum Rechtsextremismus gehen, indem sie - auch innerhalb der AfD - die Schoah nicht leugnen und Israel nicht anfeinden. Die deutsche Schuld am Holocaust werde zwar anerkannt, die NS-Zeit aber als kurzes und wenig bedeutendes Kapitel in der langen deutschen Geschichte abgetan - Holz und Haury sprechen hier von "Schuldabkapselung". Lob für Israel nutze man in erster Linie zur Stärkung der eigenen antiislamischen Front, aber auch zur Verwischung der inhärenten "antisemitischen Weltanschauung". Diese werde auch dadurch verschleiert, dass "Juden" nicht explizit als Verkörperung des verhassten modernen Universalismus genannt würden, aber Namen wie Soros und Rothschild fielen bisweilen dennoch. Eine ähnliche Doppelbödigkeit findet sich theologisch formuliert in rechten christlichen Milieus - etwa im christlichen Zionismus, der trotz seines Proisraelismus antijudaistisch grundiert ist. JOSEPH CROITORU
Klaus Holz und Thomas Haury: "Antisemitismus gegen Israel".
Hamburger Edition,
Hamburg 2021. 424 S., geb., 35,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Joseph Croitoru erfährt bei den Soziologen und Antisemitismusforschern Klaus Holz und Thomas Haury, in welchen Ausprägungen der Antisemitismus gegen den israelischen Staat auftritt. Erhellend findet er, wie die Autoren jenseits eines Kriterienkatalogs wie von der IHRA eine Analyse vornehmen, die auch die verschiedenen Selbstbilder der Antisemiten mit einbeziehen. Für Beispiele der "Täter-Opfer-Umkehr" bieten die Autoren laut Croitoru einen historischen Rückblick auf antisemitische Vorstellungen nationaler Prägung etwa in Deutschland oder im islamischen Raum. Auch an der "BDS-Apologetin" Judith Butler arbeiten die Autoren sich ab, und sie untersuchen Teile der neuen Rechten, die zwar die Schoah nicht leugnen, aber die deutsche Schuld relativieren, erklärt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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