Karine Hansen ist Deutsch-Armenierin, aufgewachsen in einer Familie, in der die armenische Tradition liebevoll gelebt wird. Während des Studiums lernt sie Frederick Behrens kennen und verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Seine konservative Art und seine Selbstsicherheit ziehen sie an. Doch als Frederick während eines Familienessens nicht für Karine einsteht, als der Genozid an den Armenier*innen geleugnet wird, kommt es zum Bruch. Die fehlende Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagsrassismus, der ihr immer wieder begegnet, eine gewisse Orientierungslosigkeit nach dem Studium und ein Gespräch mit ihrer armenischen Großmutter, sind Auslöser für Karines Entscheidung kurzerhand nach Armenien zu ziehen und einen Job bei einer kleinen NGO anzunehmen. Sie findet sich in einem ihr völlig fremden Land wieder, das postsowjetisch, korrupt und patriarchalisch geprägt ist. In ihrer NGO-Kollegin Gohar Manoukian findet Karine eine Seelenverwandte. Durch ihre Freundschaft wird Karine politisiert und hineingezogen in die »Junge Bewegung« gegen Korruption. Doch dann wird die Bewegung von einem mächtigen Oligarchen bedroht … »Aprikosenzeit, dunkel« bietet einen wichtigen Einblick in die armenische Geschichte, die vom Genozid und dessen Verleugnung in der Türkei geprägt ist, und nimmt uns mit in ein von der Geschichte gebeuteltes und korruptes Land, dem die Jugend davonläuft. Nur wenige setzen sich gegen die Umstände zur Wehr und zahlen dafür einen hohen Preis.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2023Heim in ein fremdes Land
Corinna Kulenkamp erzählt in ihrem Debütroman von einer jungen Deutschen, die dem
Fremdheitsgefühl entkommen will und nach Armenien reist: in die Heimat ihrer Vorfahren
VON JUTTA CZEGUHN
Dieser Text ist auch ein Schreiben mit der Schere. Nein, nicht der im Kopf, ganz haptisch ist das gemeint. Corinna Kulenkamp hatte das Manuskript zu ihrem Debütroman „Aprikosenzeit, dunkel“ quasi fertig, gab dann den Papierausdruck einer befreundeten Autorin zu lesen und bekam eine Rückmeldung, die man wohl in diesem Stadium einer Arbeit so gar nicht hören mag. Oder vielleicht sogar ganz unbedingt: Der Anfang des Buches, betitelt „Erinnerungen an die Wüste“, der sei zu drastisch, als dass man ihn als Leser in so geballter Form ertragen könne. Kulenkamp nahm die Kritik an, es arbeitete in ihr, und eines Tages griff sie zur Schere. Sie zerschnitt die ersten 15 Seiten ihres Romans und stellte die Schnippsel als Prologe den einzelnen Buchkapiteln voran. Und dann passierte etwas: Alles fügte sich zusammen mit dieser Collage, als sei es immer schon so gedacht gewesen.
„Ein Buch schreibt man ja nie ganz alleine“, sagt Corinna Kulenkamp heute, und lacht dabei, als sie beim Treffen in einem Schwabinger Straßencafé diesen spannenden, ehrlichen Werkstattbericht gibt. Nicht alle Schreibenden gewähren derart tiefe Einblicke in den intimen Prozess, wenn sich Gedanken zu Sätzen formen und Seite um Seite füllen, und dann der Finger mutig die Löschtaste drückt. Denn auch das ist ihr passiert bei der Arbeit an diesem Erstling. „Kill your darlings“ lautet schließlich ein gängiger Schriftsteller-Ratschlag. Von wem stammt er noch mal? Allen Ginsberg, Oscar Wilde, Anton Tschechow oder vielleicht Zadie Smith?
„Schreiben wollte ich immer schon, da konnte ich noch gar nicht schreiben, so klischeehaft das klingen mag“, sagt Corinna Kulenkamp, 1987 in Düsseldorf geboren, der Vater Hanseat, die Mutter Libanesin mit armenischen Wurzeln. „Wurzel“ – das ist ein wichtiges Wort hier, denn die Wurzel für ihr Buch, die war in ihrem Leben schon sehr früh und sehr konkret geschlagen, da war sie gerade mal 15. „Die Erinnerungen an die Wüste“, dieser nun sezierte Prolog, habe in ihrem Kopf schon immer festgestanden, so die Autorin. „Und es war klar, ich werde diese Geschichte eines Tages schreiben.“ So wurde sie nun zum Hallraum ihres Romans, zur DNA von „Aprikosenzeit, dunkel“, das in diesen Tagen im Berliner Orlanda Verlag erscheint.
„Diese Erinnerung äußert sich noch heute, ein ganzes Leben danach, in einem unerträglichen körperlichen Schmerz. Ein Stechen in der Brust, Atemnot und ein Taubheitsgefühl in meinen Füßen, das hinaufkriecht bis zu den Knien, wann immer sie mich überkommt. Dann bin ich wieder Kind. Ein bisschen Mensch, ein bisschen Vieh, das auch. Aber vor allem: Kind“ – es ist die Stimme von Anusch, die sich hier erinnert, die in den kursiv gesetzten Prolog-Kapiteln von der sengenden Hitze des Sommers 1915 erzählt, in denen sie mit ihrer Familie Tage und Nächte unterwegs war, zu Fuß, „in einem Meer aus Staub“, getrieben von den jungtürkischen Militärs auf ihren Pferden. Kulenkamps Freundin hatte recht, Anuschs Berichte sind kaum zu ertragen. Sie erzählen vom Genozid am armenischen Volk. Bei der Vertreibung der Armenier aus Anatolien waren in den Jahren 1915 bis 1917 bis zu 1,5 Millionen Menschen ums Leben gekommen. Ein Geschehen, dass auch in Kulenkamps Familie bis heute präsent ist.
„Hundert Jahre nach dem Völkermord war sie in das Land gekommen, mit dem ihre Wurzeln verbunden waren.“ Hier ist nicht von Anusch die Rede, sondern von Karine Hansen, der eigentlichen Protagonistin von „Aprikosenzeit, dunkel“. Kulenkamp wechselt die Perspektive, von Anuschs Ich zur personalen Erzählstimme, auch wenn es weitgehend Karines neugieriger Blick auf eine ihr unvertraut vertraute Welt ist, der die Geschichte vorantreibt. Sie, eine Frau in ihren Zwanzigern, eben hat sie ihr Studium in München beendet, reist nach Armenien, ins Land ihrer Vorfahren, um in der Hauptstadt Erewan für eine NGO zu arbeiten. Mit dem Hinweis auf den Genozid ist die zeitliche Verortung klar. Karine ist 2015 unterwegs.
„Ich bin nicht Karine!“, sagt Kulenkamp, und sie tut dies mit einer Vehemenz, die nahe legt, wie wichtig ihr dies ist. Ihr Buch sei ausdrücklich keine Autofiktion. Aber natürlich weiß die Autorin, dass ihr Lesepublikum reflexartig der Versuchung erliegen wird, ihr Leben mit dem Karines abzugleichen: die armenische Wurzeln eines Elternteils, das Aufwachsen in der Provinz, die Zweisprachigkeit, der sehr deutsche Nachname, das Studium in München (bei Kulenkamp Politikwissenschaften und Völkerrecht auch in Harvard, Promotion), schließlich die Spurensuche in Armenien. Zu Kulenkamps Trost: Ihrer Kollegin Katerina Poladjan ist es mit dem Roman „Hier sind Löwen“ ebenso ergangen, als sie ihre Erzählerin, eine Buchrestauratorin, nach Erewan schickte und alle den Plot nach biografischen Parallelen zur Autorin abklopften. Wer also dieses Spiel betreiben will, nun, es erschöpft sich irgendwann. Viel spannender ist es, Kulenkamp bei ihren literarischen Strategien zu beobachten und sich auf Karines Abenteuer in dieser Stadt, in diesem Land einzulassen, das von der Welt immer schon vergessen wurde.
Der Blick auf den Ararat, archaische Sitten, das schwere Leben der Menschen, ihre Gastfreundlichkeit, die Träume der Jugend, die Korruption – von all dem wird hier erzählt. Und doch sei ihr Buch kein „armenischer Bildungsroman“, sondern ein deutsch-armenischer Roman. Und vor allem die Geschichte einer jungen Frau, die auf der Suche ist nach Identität. Da ist der Alltagsrassismus, den Karine erfährt. Vor allem die Kapitel, die in München spielen, handeln davon. Vom „Othering“, den immergleichen Fragen: „Woher kommst du ursprünglich?“ Von den tumben Kommentaren: „Sie sprechen aber gut deutsch!“ Er fällt bei einer Dinnerparty in der Villa der Eltern ihres Freundes, und da schießt Karine zurück: „Danke, Sie sprechen auch nicht schlecht.“ Dort kommt es auch zum Eklat beim Small Talk mit dem türkischen Konsul über das Tabuthema Genozid. Literarisch sind diese München-Passagen die schwächeren im Buch, wirken sie doch ein wenig zu konstruiert. Aber wie da Karines lang aufgestaute Wut ausbrechen darf!
Auch Kulenkamp kennt dieses Othering. Wundert sich, was die Leute wohl dazu bringt, nach ihrer Herkunft zu fragen. Ihre dunklen Augen, die ein paar Nuancen beigere Haut? Sie habe gelernt, damit umzugehen, sei gelassener als Karine, teile nicht deren Temperament, gebe Antworten, wenn die Fragensteller diese auch verdient hätten. Doch diese Karine geht ihren Weg und überrascht ihre Autorin immer wieder dabei. Das, sagt Kulenkamp, seien die schönsten Erfahrungen beim Schreiben dieses Buches gewesen.
Auf eine Erfahrung würde Kulenkamp gerne verzichten: das Buch der Stunde geschrieben zu haben. Etwas, worüber sich Autorinnen und Autoren und vor allem die Marketing-Abteilungen der Verlage sonst eher freuen. Doch den gerade wieder ausgebrochenen Konflikt in der armenischen Enklave Bergkarabach als Promotion für ihr Roman-Debüt zu verwenden, ist Kulenkamp zuwider. Seit Ende des vergangenen Jahres hat Aserbaidschan, das Anspruch auf dieses Gebiet erhebt, Lieferungen dorthin blockiert, was zu einer Hungersnot führte. Und wieder, sagt die Autorin, habe die Welt zugesehen, lange herumlaviert, angesichts eines drohenden Genozids. Corinna Kulenkamp hofft für „Aprikosenzeit, dunkel“ nur eines: „Wenn mein Buch ein klein wenig dazu beitragen kann, dass ein paar mehr Menschen hinschauen auf Armenien, dann wäre viel gewonnen.“
Corinna Kulenkamp: Aprikosenzeit, dunkel,
Orlanda Verlag Berlin, Lesungen: 26. Sep., 19.30 Uhr, Lehmkuhl, Leopoldstr. 45, Karten
unter lehmkuhl.buchhandlung.de, Tel. 380 15 00, sowie 27. Sep., 19 Uhr, Corinna Kulenkamp im Gespräch mit Orlanda-Verlegerin Annette Michael, Buchpalast München, Kirchenstr. 5
„Danke,
Sie sprechen
auch nicht schlecht.“
„Aprikosenzeit, dunkel“ ist der erste Roman von Corinna Kulenkamp, einer promovierten Politikwissenschaftlerin, die auch als freie Lektorin arbeitet.
Foto: Erol Gurian
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Corinna Kulenkamp erzählt in ihrem Debütroman von einer jungen Deutschen, die dem
Fremdheitsgefühl entkommen will und nach Armenien reist: in die Heimat ihrer Vorfahren
VON JUTTA CZEGUHN
Dieser Text ist auch ein Schreiben mit der Schere. Nein, nicht der im Kopf, ganz haptisch ist das gemeint. Corinna Kulenkamp hatte das Manuskript zu ihrem Debütroman „Aprikosenzeit, dunkel“ quasi fertig, gab dann den Papierausdruck einer befreundeten Autorin zu lesen und bekam eine Rückmeldung, die man wohl in diesem Stadium einer Arbeit so gar nicht hören mag. Oder vielleicht sogar ganz unbedingt: Der Anfang des Buches, betitelt „Erinnerungen an die Wüste“, der sei zu drastisch, als dass man ihn als Leser in so geballter Form ertragen könne. Kulenkamp nahm die Kritik an, es arbeitete in ihr, und eines Tages griff sie zur Schere. Sie zerschnitt die ersten 15 Seiten ihres Romans und stellte die Schnippsel als Prologe den einzelnen Buchkapiteln voran. Und dann passierte etwas: Alles fügte sich zusammen mit dieser Collage, als sei es immer schon so gedacht gewesen.
„Ein Buch schreibt man ja nie ganz alleine“, sagt Corinna Kulenkamp heute, und lacht dabei, als sie beim Treffen in einem Schwabinger Straßencafé diesen spannenden, ehrlichen Werkstattbericht gibt. Nicht alle Schreibenden gewähren derart tiefe Einblicke in den intimen Prozess, wenn sich Gedanken zu Sätzen formen und Seite um Seite füllen, und dann der Finger mutig die Löschtaste drückt. Denn auch das ist ihr passiert bei der Arbeit an diesem Erstling. „Kill your darlings“ lautet schließlich ein gängiger Schriftsteller-Ratschlag. Von wem stammt er noch mal? Allen Ginsberg, Oscar Wilde, Anton Tschechow oder vielleicht Zadie Smith?
„Schreiben wollte ich immer schon, da konnte ich noch gar nicht schreiben, so klischeehaft das klingen mag“, sagt Corinna Kulenkamp, 1987 in Düsseldorf geboren, der Vater Hanseat, die Mutter Libanesin mit armenischen Wurzeln. „Wurzel“ – das ist ein wichtiges Wort hier, denn die Wurzel für ihr Buch, die war in ihrem Leben schon sehr früh und sehr konkret geschlagen, da war sie gerade mal 15. „Die Erinnerungen an die Wüste“, dieser nun sezierte Prolog, habe in ihrem Kopf schon immer festgestanden, so die Autorin. „Und es war klar, ich werde diese Geschichte eines Tages schreiben.“ So wurde sie nun zum Hallraum ihres Romans, zur DNA von „Aprikosenzeit, dunkel“, das in diesen Tagen im Berliner Orlanda Verlag erscheint.
„Diese Erinnerung äußert sich noch heute, ein ganzes Leben danach, in einem unerträglichen körperlichen Schmerz. Ein Stechen in der Brust, Atemnot und ein Taubheitsgefühl in meinen Füßen, das hinaufkriecht bis zu den Knien, wann immer sie mich überkommt. Dann bin ich wieder Kind. Ein bisschen Mensch, ein bisschen Vieh, das auch. Aber vor allem: Kind“ – es ist die Stimme von Anusch, die sich hier erinnert, die in den kursiv gesetzten Prolog-Kapiteln von der sengenden Hitze des Sommers 1915 erzählt, in denen sie mit ihrer Familie Tage und Nächte unterwegs war, zu Fuß, „in einem Meer aus Staub“, getrieben von den jungtürkischen Militärs auf ihren Pferden. Kulenkamps Freundin hatte recht, Anuschs Berichte sind kaum zu ertragen. Sie erzählen vom Genozid am armenischen Volk. Bei der Vertreibung der Armenier aus Anatolien waren in den Jahren 1915 bis 1917 bis zu 1,5 Millionen Menschen ums Leben gekommen. Ein Geschehen, dass auch in Kulenkamps Familie bis heute präsent ist.
„Hundert Jahre nach dem Völkermord war sie in das Land gekommen, mit dem ihre Wurzeln verbunden waren.“ Hier ist nicht von Anusch die Rede, sondern von Karine Hansen, der eigentlichen Protagonistin von „Aprikosenzeit, dunkel“. Kulenkamp wechselt die Perspektive, von Anuschs Ich zur personalen Erzählstimme, auch wenn es weitgehend Karines neugieriger Blick auf eine ihr unvertraut vertraute Welt ist, der die Geschichte vorantreibt. Sie, eine Frau in ihren Zwanzigern, eben hat sie ihr Studium in München beendet, reist nach Armenien, ins Land ihrer Vorfahren, um in der Hauptstadt Erewan für eine NGO zu arbeiten. Mit dem Hinweis auf den Genozid ist die zeitliche Verortung klar. Karine ist 2015 unterwegs.
„Ich bin nicht Karine!“, sagt Kulenkamp, und sie tut dies mit einer Vehemenz, die nahe legt, wie wichtig ihr dies ist. Ihr Buch sei ausdrücklich keine Autofiktion. Aber natürlich weiß die Autorin, dass ihr Lesepublikum reflexartig der Versuchung erliegen wird, ihr Leben mit dem Karines abzugleichen: die armenische Wurzeln eines Elternteils, das Aufwachsen in der Provinz, die Zweisprachigkeit, der sehr deutsche Nachname, das Studium in München (bei Kulenkamp Politikwissenschaften und Völkerrecht auch in Harvard, Promotion), schließlich die Spurensuche in Armenien. Zu Kulenkamps Trost: Ihrer Kollegin Katerina Poladjan ist es mit dem Roman „Hier sind Löwen“ ebenso ergangen, als sie ihre Erzählerin, eine Buchrestauratorin, nach Erewan schickte und alle den Plot nach biografischen Parallelen zur Autorin abklopften. Wer also dieses Spiel betreiben will, nun, es erschöpft sich irgendwann. Viel spannender ist es, Kulenkamp bei ihren literarischen Strategien zu beobachten und sich auf Karines Abenteuer in dieser Stadt, in diesem Land einzulassen, das von der Welt immer schon vergessen wurde.
Der Blick auf den Ararat, archaische Sitten, das schwere Leben der Menschen, ihre Gastfreundlichkeit, die Träume der Jugend, die Korruption – von all dem wird hier erzählt. Und doch sei ihr Buch kein „armenischer Bildungsroman“, sondern ein deutsch-armenischer Roman. Und vor allem die Geschichte einer jungen Frau, die auf der Suche ist nach Identität. Da ist der Alltagsrassismus, den Karine erfährt. Vor allem die Kapitel, die in München spielen, handeln davon. Vom „Othering“, den immergleichen Fragen: „Woher kommst du ursprünglich?“ Von den tumben Kommentaren: „Sie sprechen aber gut deutsch!“ Er fällt bei einer Dinnerparty in der Villa der Eltern ihres Freundes, und da schießt Karine zurück: „Danke, Sie sprechen auch nicht schlecht.“ Dort kommt es auch zum Eklat beim Small Talk mit dem türkischen Konsul über das Tabuthema Genozid. Literarisch sind diese München-Passagen die schwächeren im Buch, wirken sie doch ein wenig zu konstruiert. Aber wie da Karines lang aufgestaute Wut ausbrechen darf!
Auch Kulenkamp kennt dieses Othering. Wundert sich, was die Leute wohl dazu bringt, nach ihrer Herkunft zu fragen. Ihre dunklen Augen, die ein paar Nuancen beigere Haut? Sie habe gelernt, damit umzugehen, sei gelassener als Karine, teile nicht deren Temperament, gebe Antworten, wenn die Fragensteller diese auch verdient hätten. Doch diese Karine geht ihren Weg und überrascht ihre Autorin immer wieder dabei. Das, sagt Kulenkamp, seien die schönsten Erfahrungen beim Schreiben dieses Buches gewesen.
Auf eine Erfahrung würde Kulenkamp gerne verzichten: das Buch der Stunde geschrieben zu haben. Etwas, worüber sich Autorinnen und Autoren und vor allem die Marketing-Abteilungen der Verlage sonst eher freuen. Doch den gerade wieder ausgebrochenen Konflikt in der armenischen Enklave Bergkarabach als Promotion für ihr Roman-Debüt zu verwenden, ist Kulenkamp zuwider. Seit Ende des vergangenen Jahres hat Aserbaidschan, das Anspruch auf dieses Gebiet erhebt, Lieferungen dorthin blockiert, was zu einer Hungersnot führte. Und wieder, sagt die Autorin, habe die Welt zugesehen, lange herumlaviert, angesichts eines drohenden Genozids. Corinna Kulenkamp hofft für „Aprikosenzeit, dunkel“ nur eines: „Wenn mein Buch ein klein wenig dazu beitragen kann, dass ein paar mehr Menschen hinschauen auf Armenien, dann wäre viel gewonnen.“
Corinna Kulenkamp: Aprikosenzeit, dunkel,
Orlanda Verlag Berlin, Lesungen: 26. Sep., 19.30 Uhr, Lehmkuhl, Leopoldstr. 45, Karten
unter lehmkuhl.buchhandlung.de, Tel. 380 15 00, sowie 27. Sep., 19 Uhr, Corinna Kulenkamp im Gespräch mit Orlanda-Verlegerin Annette Michael, Buchpalast München, Kirchenstr. 5
„Danke,
Sie sprechen
auch nicht schlecht.“
„Aprikosenzeit, dunkel“ ist der erste Roman von Corinna Kulenkamp, einer promovierten Politikwissenschaftlerin, die auch als freie Lektorin arbeitet.
Foto: Erol Gurian
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensentin Katharina Herrmann liest mit "Aprikosenzeit, dunkel" einen klug gebauten Roman, der das Volk der Armenier und seine von Verfolgung, Flucht und Völkermord geprägte Geschichte ein kleines Stück weiter ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt. Karine Hansen heißt die Protagonistin. Sie ist wie die Autorin selbst in Deutschland aufgewachsen, entscheidet sich nach der Trennung von ihrem Freund jedoch dazu, in die Heimat ihrer Mutter zurückzukehren und dort für eine NGO zu arbeiten. Dies ist eine von drei Zeitebenen, auf denen Kulenkamp von den vielen "historischen Wunden" der Armenier und deren Auswirkungen heute erzählt. Dabei greift sie immer wieder auch andere Diskurse wie Rassismus oder soziale Ungleichheit auf und webt sie so in die Handlung ein, dass die Zusammenhänge greifbar und anschaulich werden. Zwar mag die ein oder andere Formulierung, das ein oder andere Motiv ein wenig "abgegriffen" erscheinen, doch dies tut dem aufklärerischen Wert des Buches keinen Abbruch, so die überzeugte Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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