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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Dass einer nach mehr als 2000 Jahren Leben und Werk des Aristoteles noch mal so hinhaut, damit war nicht zu rechnen. Hellmut Flashar gelingt es, unter Einschluss allen bisherigen Wissens, eine wunderbar lesbare Geschichte zu erzählen, die diesen Mann des Denkens und der Wissenschaft so lebendig erscheinen lässt, als sei er eben in die Akademie Platons eingetreten. Dort entwickelt Aristoteles vom ersten Moment an in radikaler Opposition zu seinem Lehrer Platon sein Denken - auch mit dem Studium der Tiere und Pflanzen in der Natur, und nicht nur im Lesesaal. Ein Akt, der Platon begeisterte, obwohl er allem widersprach, was er selbst lehrte.
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Hellmut Flashar: "Aristoteles. Lehrer des Abendlandes". C. H. Beck, 416 Seiten, 26,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weltsprache
Warum soll man sich heute noch für Aristoteles
interessieren? Hellmut Flashar erklärt es
VON JOHAN SCHLOEMANN
Er war sich für nichts zu schade. Er hat die Placenta einer Fledermaus untersucht. Er hat Tiere abmagern lassen, um das System ihrer Adern besser ertasten zu können. Er hat sich Gedanken darüber gemacht, warum Fische und Insekten keine Augenlider haben. Er hat Krokodile, Ratten und Garnelen beschrieben, er hat sich für den Zahnwechsel beim Hund interessiert und für die Zunge des Elefanten. Charles Darwin nannte ihn in einem Brief „einen der größten, wenn nicht den größten Beobachter, der je gelebt hat“.
Er hatte eine der größten Bibliotheken seiner Zeit. Früh bekam er von seinen Kommilitonen den Spitznamen „der Leser“. Er hat drei Jahre lang einen jungen Prinzen namens Alexander unterrichtet, der einer der größten Feldherren der Weltgeschichte wurde. Er hat Forschungen angestellt über das Wesen des Geldes, über das Wesen des Glücks und der Freundschaft. Er hat vergleichende Verfassungslehre betrieben und dafür Beschreibungen der politischen Organisation von 158 Staaten gesammelt. Er hat die formale Logik erfunden. Er hat vor gut zweieinhalbtausend Jahren eine kleine Abhandlung über Literatur geschrieben, deren Ratschläge für einen gelungenen Plot bis heute von Drehbuchautoren in Hollywood studiert werden. Er hat überhaupt Wissenschaften als Pionier begründet oder sie erstmals grundsätzlich in lehrbuchartiger Erörterung behandelt: Logik, Metaphysik, Politik, Ethik, Hermeneutik, Rhetorik, Poetik, Meteorologie, Physik, Biologie, Psychologie.
Aristoteles! Aristoteles? Schon der Name löst bei vielen die Assoziation aus, dass seine Leistungen und sein Werk schwer zu fassen sind. Das gilt in zweierlei Hinsicht. Schwer zu fassen ist er erstens, weil sich seine Wirkungen, seine Begriffe, seine Lehren verselbständigt haben wie entlaufene Kinder. Sie haben die abendländische (und Teile der morgenländischen) Geistes- und Wissensgeschichte dominiert, im Guten wie im Schlechten, in Prozessen der Aneignung, Weiterentwicklung, Verfälschung, Dogmatisierung und Abstoßung – derart, dass diese bis heute reichende Geschichte von Aristoteles gar nicht zu trennen ist, sie sich aber gerade deswegen von der konkreten Figur des griechischen Philosophen abgelöst hat, der einmal im vierten Jahrhundert vor Christus gelebt hat. Insofern er überall drinsteckt – in den großen Kämpfen um Glauben und Wissen seit dem Mittelalter, in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften, in der Terminologie und den Grundfragen aller Philosophie –, ist man geneigt, Aristoteles als ort- und zeitlos wahrzunehmen.
Zweitens ist er in seinen eigenen Schriften schwer zu fassen. Das liegt nicht bloß an ihrem Umfang, der für die Frühphase der europäischen Wissenschaftsprosa ohnehin, aber auch nach heutigen Maßstäben noch sehr beeindruckend ist. Und auch nicht nur daran, dass bestimmte Fragen der Seinslehre oder der Syllogistik eben einfach verdammt knifflig sind. Es liegt vor allem auch daran, dass die fürs allgemeine Publikum bestimmten Werke des Aristoteles im Altertum verschollen sind (von fragmentarischen Zitaten abgesehen), während die erhaltenen Werke eigentlich Vorlesungsskripte sind, die ursprünglich nur für den internen Schulgebrauch gedacht waren. Das heißt nun keineswegs, dass die Texte deswegen durchgängig unlesbar wären. Aber sehr vieles davon ist nicht nur gedanklich, sondern auch sprachlich kompliziert, skizzenhaft bis dunkel. Das mag manchen davon abschrecken, überhaupt je eine Seite Aristoteles zur Lektüre aufzuschlagen – obwohl es noch nie so viele gute Einführungen und Übersetzungen gegeben hat wie heute.
Dass sich der Aufwand der Erklärung lohnt, dieser Ansicht waren zahlreiche Aristoteles-Kommentatoren seit der Antike, zu denen nicht zuletzt die neuplatonischen Kommentare zählen, die versucht haben, die tendenziell erdnäheren Lehren des Aristoteles mit den tendenziell göttlicheren seines Lehrers, Freundes und Antipoden Platon zu harmonisieren. Die Ausgabe der Aristoteles-Kommentare, die die Preußische Akademie der Wissenschaften in wilhelminischer Zeit veranstaltet hat, Commentaria in Aristotelem Graeca (CAG), umfasst zusammen mit dem anschließenden Supplementum Aristotelicum stattliche 57 Bände. Seit 1987 erscheint eine Übersetzung der Kommentare in englischer Sprache, von der bisher etwa neunzig Bände erschienen sind.
In der Kommentartradition, die selbst einen Kern der europäischen Philosophiegeschichte bildet, steht auch die deutschsprachige Aristoteles-Ausgabe, die seit 1956 im Berliner Akademie-Verlag herauskommt. Die Übersetzungen sind dort mit voluminösen Erläuterungen versehen. Vierzig Jahre lang war der Gräzist Hellmut Flashar Herausgeber dieses deutschen Aristoteles. Fürs philosophisch-philologische Fachpublikum hat er bereits in der großen „Ueberweg“-Philosophiegeschichte über Aristoteles geschrieben (2004 in zweiter Auflage erschienen). Da lag es nahe, eine zugänglichere Gesamtdarstellung des Aristoteles zu versuchen und damit die Summe eines Gelehrtenlebens zu ziehen.
Und dies ist dem 83-jährigen Flashar mit der jetzt erschienenen Werkbiografie „Aristoteles – Lehrer des Abendlandes“ auch gelungen, mit mustergültiger Klarheit und, wo es ging, auch Eleganz. Auf 370 Textseiten bekommt man den ganzen Aristoteles im Überblick und auf der Höhe der aktuellen Forschung. Man kann das Buch mit Gewinn am Stück lesen, aber auch die einzelnen Kapitel zur Biografie, zur Ethik, zur Biologie und so weiter.
Zwei besondere Vorzüge bringt der Autor mit: Die eigene Durchdringung des Stoffs sorgt dafür, dass er mit Aristoteles respektvoll umgeht, aber trotzdem überaus souverän und nicht zu brav. Und zweitens ist die Auswertung der minutiösen Fachkommentare ein nützlicher Abstract Service, erfährt man doch so in kompakter Form, wie die Schriften und Theorien heute interpretiert werden. Solch eine Gesamtschau hat wirklich gefehlt: Sie ist gründlicher und, wie es sich für einen Philologen gehört, näher am jeweils einzelnen Werk als die philosophischen Einführungen, von denen in den letzten Jahren einige herauskamen; umgekehrt kann das Buch für den allgemeinen Leser Regalmeter von Spezialforschung ersetzen.
Ist Aristoteles heute noch aktuell? Ganz sicher. „Philosophen der Gegenwart“, so schreibt der englische Aristoteles-Kenner Jonathan Barnes, „behandeln ihn wie einen brillanten Kollegen.“ Besonders lebendig ist die Anknüpfung gerade bei der Verbindung von individueller Ethik und Politik, wie sie zumal seit der Finanzkrise wieder verstärkt gefordert wird.
Aber erst einmal ist gar nicht so leicht zu trennen, was an Aristoteles historisch und was systematisch interessant ist. Denn mit Aristoteles wird ja die wissenschaftliche Erschließung der gesamten natürlichen und geistigen Welt erst geboren, und das ist als solches schon eine nicht veraltende Herausforderung. Das heißt: Auch dort, wo man weiß oder meint, Aristoteles sachlich überwunden zu haben – berühmteste Beispiele: geozentrisches Weltbild, teleologische Naturbetrachtung, niedere Natur der Sklaven, Unveränderbarkeit der Arten –, auch dort ist sein Bemühen um begriffliche Erfassung des Ganzen nicht einfach ein Fall für die wissenschaftsgeschichtliche Mottenkiste.
Flashar fasst dies so zusammen: „Die Aktualität manifestiert sich nicht in erster Linie an der Übernahme einzelner Lehrmeinungen, sondern in der Fruchtbarkeit der Fragestellungen und Lösungsmodelle. Sie zeigt sich vor allem darin, dass unser Denken bis heute durch die Begriffe des Aristoteles im Sinne von wissenschaftlichen Ordnungsbegriffen geprägt ist. Das betrifft die Einteilung der Wissenschaften in theoretische, praktische und poietische Zweige, ferner die Grundbegriffe wir Kategorie, Allgemeines-Konkretes, Substanz, Materie, Zeit, Raum, Prinzip, Wesen, Potenzialität-Aktualität, Gattung, Prämisse, Beweis, Hypothese, Politik, Verfassung, Bürger, um nur einige Beispiele zu nennen.“
Kurzum: Aristotelisch ist eine Weltsprache. Und mit Hilfe von Hellmut Flashar versteht man besser, warum wir sie sprechen.
Philosophen der Gegenwart
behandeln Aristoteles wie
einen brillanten Kollegen
Hellmut Flashar:
Aristoteles. Lehrer
des Abendlandes.
Verlag C. H. Beck,
München 2013.
416 Seiten, 26,95 Euro.
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